§ 2. Die Geschichte der Philosophie.

  • [7] Literatur: R. EUCKEN, Beitrage zur Einführung in die Geschichte der Philosophie (Leipzig 1906) p. 157 ff..
    W. WINDELBAND, Die Philosophie im Beginn des 20. Jahrhunderts (Heidelberg 1905) II 175 ff, 2. Aufl. 529 ff.

Je verschiedener im Laufe der Zeiten Aufgabe und Inhalt der Philosophie bestimmt worden sind, um so mehr erhebt sich die Frage, welchen Sinn es haben kann, so nicht nur mannigfache sondern auch verschiedenartige Vorstellungsgebilde, zwischen denen es schließlich keine andere Gemeinschaft als diejenige des Namens zu geben scheint, in historischer Forschung und Darstellung zu vereinigen.

Denn das anekdotenhafte Interesse an dieser buntscheckigen Mannigfaltigkeit verschiedener Meinungen über verschiedene Dinge, welches wohl früher, gereizt auch durch die Merkwürdigkeit und Wunderlichkeit mancher dieser Ansichten, das Hauptmotiv einer »Geschichte der Philosophie« gewesen ist, kann doch unmöglich auf die Dauer als Keimpunkt einer eigenen wissenschaftlichen Disziplin gelten.

1. Jedenfalls ist klar, daß es mit der Geschichte der Philosophie eine andere Bewandtnis hat, als mit der Geschichte irgend einer andern Wissenschaft. Denn bei jeder solchen steht doch das Forschungsgebiet wenigstens im allgemeinen fest, wenn auch seine Ausdehnung, seine Herauslösung aus einem allgemeineren Gebiete und seine Abgrenzung gegen die benachbarten noch so vielen Schwankungen in der Geschichte unterlegen sein mögen. Für eine solche Einzelwissenschaft macht es also keine Schwierigkeit, die Entwicklung der Erkenntnisse auf einem derartig bestimmbaren Gebiete zu verfolgen und dabei eventuell eben jene Schwankungen als die natürlichen Folgen der Entwicklung der Einsichten begreiflich zu machen.

Ganz anders aber steht es bei der Philosophie, der es an solch einem allen Zeiten gemeinsamen Gegenstande gebricht, und deren »Geschichte« daher auch nicht einen stetigen Fortschritt oder eine allmähliche Annäherung zu dessen Erkenntnis darstellt. Vielmehr ist von je hervorgehoben worden, daß, während in andern Wissenschaften, sobald sie nach den rhapsodischen Anfängen erst eine methodische Sicherheit gewonnen haben, die Regel ein ruhiger Aufbau der Erkenntnisse ist, der nur von Zeit zu Zeit durch ruckweisen Neuanfang unterbrochen wird, umgekehrt in der Philosophie ein dankbares Fortentwickeln des Errungenen durch die Nachfolger die Ausnahme ist, und jedes der großen Systeme der Philosophie die neu formulierte Aufgabe ab ovo zu lösen beginnt, als ob die andern kaum dagewesen wären.

2. Wenn trotz alledem von einer »Geschichte der Philosophie« soll die Rede sein können, so kann der einheitliche Zusammenhang, den wir weder in den Gegenständen finden, mit denen sich die Philosophen beschäftigen, noch[7] in den Aufgaben, die sie sich setzen, schließlich nur in der gemeinsamen Leistung gefunden werden, welche sie trotz aller Verschiedenheit des Inhalts und der Absicht ihrer Beschäftigung sachgemäß herbeigeführt haben.

Dieser gemeinsame Ertrag aber, der den Sinn der Geschichte der Philosophie ausmacht, beruht gerade auf den wechselnden Beziehungen, in denen sich die Arbeit der Philosophen nicht nur zu den reifsten Erzeugnissen der Wissenschaften, sondern auch zu den übrigen Kulturtätigkeiten der europäischen Menschheit im Laufe der Geschichte befunden hat. Denn mochte mm die Philosophie auf den Entwurf einer allgemeinen Welterkenntnis ausgehen, die sie, sei es als Gesamtwissenschaft sei es als verallgemeinernde Zusammenfassung der Resultate der Sonderwissenschaften, gewinnen wollte, oder mochte sie eine Lebensansicht suchen, welche den höchsten Werten des Wollens und Fühlens einen geschlossenen Ausdruck geben sollte, oder mochte sie endlich mit klarer Beschränkung die Selbsterkenntnis der Vernunft zu ihrem Ziele machen, – immer war der Erfolg der, daß sie daran arbeitete, die notwendigen Formen und Inhaltsbestimmungen menschlicher Vernunftbetätigung zum bewußten Ausdruck zu bringen, und sie aus der ursprünglichen Gestalt von Anschauungen, Gefühlen und Trieben in diejenige der Begriffe umzusetzen. In irgend einer Richtung und in irgend einer Weise hat jede Philosophie sich darum bemüht, auf mehr oder minder umfangreichem Gebiete zu begrifflichen Formulierungen des in Welt und Leben unmittelbar Gegebenen zu gelangen, und so ist in dem historischen Verlaufe dieser Bemühungen Schritt für Schritt der Grundriß des geistigen Lebens bloßgelegt worden. Die Geschichte der Philosophie ist der Prozeß, durch welchen die europäische Menschheit ihre Weltauffassung und Lebensbeurteilung in wissenschaftlichen Begriffen niedergelegt hat.

Dieser Gesamtertrag aller der geistigen Gebilde, die sich als »Philosophie« darstellen ist es allein, welcher der Geschichte der Philosophie als einer eigenen Wissenschaft ihren Inhalt, ihre Aufgabe und ihre Berechtigung gibt: er ist es aber auch, um dessenwillen die Kenntnis der Geschichte der Philosophie ein notwendiges Erfordernis nicht nur für jede gelehrte Erziehung, sondern für jede Bildung überhaupt ist; denn sie lehrt, wie die begrifflichen Formen ausgeprägt worden sind, in denen wir alle, im alltäglichen Leben wie in den besonderen Wissenschaften, die Welt unserer Erfahrung denken und beurteilen

Die Anfänge der Geschichte der Philosophie sind in den (zum weitaus größten Teil verloren gegangenen) historischen Arbeiten der großen Schulen des Altertums, insbesondere der peripatetischen zu suchen, welche wohl meist in der Art, wie Aristoteles32 selbst schon Beispiele gibt, den kritischen Zweck hatten durch dialektische Prüfung der früher aufgestellten Ansichten die Entwicklung der eigenen vorzubereiten. Solche historische Materialiensammlungen wurden für die verschiedenen Gebiete der Wissenschaft angelegt, und es entstanden auf diese Weise neben Geschichten der einzelnen Disziplinen, wie der Mathematik, der Astronomie, der Physik u.s.w. auch die philosophischen Doxographien33. Je mehr indessen später Neigung und Kraft zum selbständigen Philosophieren abnahmen, um so mehr artete diese Literatur in einen gelehrten Notizenkram aus worin sich Anekdoten aus den Lebensumständen und einzelne epigrammatisch zugespizte Aussprüche der Philosophen mit abgerissenen Berichten über ihre Lehren mischten.

Den gleichen Charakter von Kuriositätensammlungen trugen zunächst die auf den Resten der antiken Ueberlieferung beruhenden Darstellungen der neueren Zeit, wie STANLEYs34 Reproduktion des Diogenes von Laerte oder BRUCKERs Werke35. Erst mit der[8] Zeit traten kritische Besonnenheit in der Verwertung der Quellen (BUHLE36, FÜLLEBORN37), vorurteilsfreiere Auffassung der historischen Bedeutung der einzelnen Lehren (TIEDEMANN38, DE GÉRANDO39) und systematische Kritik derselben auf Grund der neuen Standpunkte (TENNEMANN40, FRIES41, SCHLEIERMACHER42) in Kraft.

Zu einer selbständigen Wissenschaft aber ist die Geschichte der Philosophie erst durch HEGEL43 gemacht worden, welcher den wesentlichen Punkt aufdeckte, daß die Geschichte der Philosophie weder eine bunte Sammlung von Meinungen verschiedener gelehrter Herren »de omnibus rebus et de quibusdam aliis«, noch eine stetig sich erweiternde und vervollkommende Bearbeitung desselben Gegenstandes, sondern vielmehr nur den vielverschränkten Prozeß darstellen kann, in welchem successive die »Kategorien« der Vernunft zum gesonderten Bewußtsein und zur begrifflichen Ausgestaltung gelangt sind.

Diese wertvolle Einsicht wurde jedoch bei HEGEL durch eine Nebenannahme verdunkelt und in ihrer Wirkung beeinträchtigt, indem er überzeugt war, daß die zeitliche Reihenfolge, nach der jene »Kategorien« in den historischen Systemen der Philosophie aufgetreten sind, sich mit der sachlichen und systematischen Reihenfolge decken müßte, worin dieselben Kategorien als »Elemente der Wahrheit« bei dem begrifflichen Aufbau des abschließenden Systems der Philosophie (wofür HEGEL das seinige ansah) erscheinen sollten. So führte der an sich richtige Grundgedanke zu dem Irrtum einer philosophisch systematisierenden Konstruktion der Philosophiegeschichte und damit vielfach zu einer Vergewaltigung des historischen Tatbestandes. Dieser Irrtum, den die Entwicklung der wissenschaftlichen Geschichte der Philosophie des 19. Jahrhunderts zu Gunsten der historischen Richtigkeit und Genauigkeit beseitigt hat, entsprang aber der unrichtigen (wenn auch mit den Prinzipien der HEGELschen Philosophie selbst folgerichtig zusammenhangenden) Vorstellung, als ob der geschichtliche Fortschritt der philosophischen Gedanken lediglich oder wenigstens wesentlich einer ideellen Notwendigkeit entspränge, mit der eine Kategorien die andere im dialektischen Fortgange hervortriebe. In Wahrheit ist das Bild der historischen Bewegung der Philosophie ein ganz anderes: es handelt sich dabei nicht lediglich um das Denken »der Menschheit« oder gar »des Weltgeistes«, sondern ebenso auch um die Ueberlegungen, die Gemütsbedürfnisse, die Ahnungen und Einfälle der philosophierenden Individuen.


3. Jenes Gesamtergebnis der Geschichte der Philosophie, wonach in ihr die Grundbegriffe menschlicher Weltauffassung und Lebensbeurteilung niedergelegt worden sind, entspringt aus einer großen Mannigfaltigkeit von Einzelbewegungen des Denkens, als deren tatsächliche Motive sowohl bei der Aufstellung der Probleme, als auch bei den Versuchen ihrer begrifflichen Lösung verschiedene Faktoren zu unterscheiden sind.

Bedeutsam genug ist allerdings der sachliche, pragmatische Faktor. Denn die Probleme der Philosophie sind der Hauptsache nach gegeben, und es[9] erweist sich dies darin, daß sie im historischen Verlaufe des Denkens als die »uralten Rätsel des Daseins« immer wieder kommen und gebieterisch immer von neuem die nie vollständig gelingende Lösung verlangen Gegeben aber sind sie durch die Unzulänglichkeit und widerspruchsvolle Unausgeglichenheit des der philosophischen Besinnung zugrunde liegenden Vorstellungsmaterials44. Aber eben deshalb enthält auch das letztere die sachlichen Voraussetzungen und die logischen Nötigungen für jedes vernünftige Nachdenken darüber, und weil sich diese der Natur der Sache nach immer wieder in derselben Weise geltend machen, so wiederholen sich in der Geschichte der Philosophie nicht nur die Hauptprobleme, sondern auch die Hauptrichtungen ihrer Lösung. Eben diese Konstanz in allem Wechsel, welche, von außen betrachtet, den Eindruck macht als sei die Philosophie erfolglos in stets wiederholten Kreisen um ein nie erreichtes Ziel bemüht, beweist doch nur, daß ihre Probleme unentfliehbare Aufgaben für den menschlichen Geist sind45. Und ebenso begreift sich, daß dieselbe sachliche Notwendigkeit eventuell zu wiederholten Malen aus einer Lehre eine andere hervortreibt. Deshalb ist der Fortschritt in der Geschichte der Philosophie in der Tat streckenweise durchaus pragmatisch, d.h. durch die innere Notwendigkeit der Gedanken und durch die »Logik der Dinge« zu verstehen.

Vgl. C. HERMANN, Der pragmatische Zusammenhang in der Geschichte der Philosophie (Dresden 1836). Der oben erwähnte Fehler HEGELS besteht also nur darin, daß er ein in gewissen Grenzen wirksames Moment zu dem einzigen oder wenigstens zu dem hauptsächlichsten machen wollte. Der umgekehrte Fehler wäre es, wollte man diese »Vernunft in der Geschichte« überhaupt leugnen und in den aufeinander folgenden Lehren der Philosophen nur wirre Ideen der Individuell sehen. Vielmehr erklärt sich der Gesamtinhalt der Geschichte der Philosophie eben nur dadurch, daß sich im Denken der einzelnen, so zufällig es bedingt sein mag, doch immer wieder jene sachlichen Notwendigkeiten geltend machen. – Auf diesen Verhältnissen beruhen die Versuche, die man gemacht hat, alle philosophischen Lehren unter gewisse Typen zu rubrizieren und zwischen diesen in der geschichtlichen Entwicklung eine Art von rhythmischer Wiederholung zu konstatieren. So hat V. COUSIN46 seine Lehre von den vier Systemen (Sensualismus, Idealismus, Skeptizismus, Mystizismus), so AUG. COMTE47 die seinige von den drei Stadien (dem theologischen, metaphysischen und positiven) aufgestellt48Eine interessante[10] und vielfach instruktive Gruppierung der philosophischen Lehren um die einzelnen Hauptprobleme bietet auch CH. RENOUVIER, Esquisse d'une classification systématique des doctrines philosophiques. 2 Bde. Paris 1885/86. Ein Schulbuch, welches die philosophischen Lehren nach Problemen und Schulen ordnet, haben PAUL JANET und SÉAILLES herausgegeben: Histoire de la philosophie; les problèmes et les écoles. Paris 1887.


4. Allein der pragmatische Faden reißt in der Geschichte der Philosophie sehr häufig ab. Insbesondere fehlt es der historischen Reihenfolge, in der die Probleme aufgetreten sind, fast durchgängig an einer solchen immanenten sachlichen Notwendigkeit; dagegen macht sich darin ein anderer Faktor geltend, den man am besten als den kulturgeschichtlichen bezeichnet. Denn aus den Vorstellungen des allgemeinen Zeitbewußtseins und aus den Bedürfnissen der Gesellschaft empfängt die Philosophie ihre Probleme, wie die Materialien zu deren Lösung. Die großen Errungenschaften und die neu auftauchenden Fragen der besonderen Wissenschaften, die Bewegungen des religiösen Bewußtseins, die Anschauungen der Kunst, die Umwälzungen des gesellschaftlichen und des staatlichen Lebens geben der Philosophie ruckweis neue Impulse und bedingen die Richtungen des Interesses, das bald diese bald jene Probleme in den Vordergrund drängt und andere zeitweilig beiseite schiebt, nicht minder aber auch die Wandlungen, welche Fragestellung und Antwort im Laufe der Zeit erfahren. Wo diese Abhängigkeit sich besonders deutlich erweist, da erscheint unter Umständen ein philosophisches System geradezu als die Selbsterkenntnis eines bestimmten Zeitalters, oder es prägen sich die Kulturgegensätze, in denen das letztere ringt, in dem Streit der philosophischen Systeme aus. So waltet in der Geschichte der Philosophie neben der pragmatischen und bleibenden Sachgemäßheit auch eine kulturgeschichtliche Notwendigkeit, welche selbst den in sich nicht haltbaren Begriffsgebilden ein historisches Daseinsrecht gewährleistet.

Auch auf dies Verhältnis hat zuerst in größerem Maße HEGEL aufmerksam gemacht, obwohl die »relative Wahrheit«, welche er mit Hinweis darauf den einzelnen Systemen zuschreibt, bei ihm zugleich (vermöge seines dialektischen Grundgedankens) einen systematischen Sinn hat. Dagegen ist das kulturgeschichtliche Moment unter seinen Nachfolgern von KUNO FISCHER am besten formuliert49 und in der Darstellung selbst zur glänzendsten Geltung gebracht worden. Er betrachtet die Philosophie in ihrer historischen Entfaltung als die fortschreitende Selbsterkenntnis des menschlichen Geistes, und läßt ihre Entwicklung als stetig bedingt durch die Entwicklung des in ihr zur Selbsterkenntnis gelangenden Objekts erscheinen. So sehr aber dies gerade für eine Reihe der bedeutendsten Systeme zutrifft, so ist es doch auch wiederum nur einer der Faktoren.

Aus den kulturhistorischen Anlässen, welche die philosophische Problemstellung und Problemlösung bedingen, erklärt sich in der Mehrzahl der Fälle eine höchst interessante und für das Verständnis der historischen Entwicklung bedeutsame Erscheinung: die Problemverschlingung. Denn es ist unausbleiblich, daß zwischen verschiedenen Gedankenmassen durch die Gleichzeitigkeit eines vorwiegend auf beide gerichteten Interesses nach psychologischer Gesetzmäßigkeit Assoziationen erzeugt werden, welche sachlich nicht begründet sind, – daß infolgedessen Fragen, die an sich nichts miteinander zu tun haben, vermischt und in ihrer Lösung von einander abhängig gemacht werden. Ein äußerst wichtiges und häufig wiederkehrendes Hauptbeispiel davon ist die Einmischung ethischer und ästhetischer Interessen in die Behandlung theoretischer Probleme: die schon aus dem täglichen Leben bekannte Erscheinung, daß die Ansichten der Menschen durch ihre Wünsche, Hoffnungen, Befürchtungen und Neigungen bestimmt, daß ihre Urteile durch ihre Beurteilungen bedingt sind, wiederholt sich in größerem Maßstabe auch in den Weltanschauungen, und sie hat sich in der Philosophie sogar[11] dazu steigern können, daß das sonst unwillkürlich Geübte zu einem erkenntnistheoretischen Postulat proklamiert wurde (KANT).


5. Indessen verdankt nun der philosophiegeschichtliche Prozeß seine ganze Mannigfaltigkeit und Vielgestaltigkeit erst dem Umstande, daß die Entwicklung der Ideen und die begriffliche Ausprägung allgemeiner Ueberzeugungen sich nur durch das Denken der einzelnen Persönlichkeiten vollzieht, die, wenn auch ihre Auffassungen noch so sehr in dem sachlichen Zusammenhange und in dem Vorstellungskreise einer historischen Gesamtheit wurzeln, doch durch Individualität und Lebensführung stets noch ein Besonderes hinzufügen. Dieser individuelle Faktor der philosophiegeschichtlichen Entwicklung ist um so mehr zu beachten, weil ihre Hauptträger sich als ausgeprägte, selbständige Persönlichkeiten erweisen, deren eigenartige Natur nicht bloß für die Auswahl und Verknüpfung der Probleme, sondern auch für die Ausschleifung der Lösungsbegriffe in den eigenen Lehren, wie in denjenigen der Nachfolger maßgebend gewesen ist. Daß die Geschichte das Reich der Individualitäten, der unwiederholbaren und in sich wertbestimmten Einzelheiten ist, zeigt sich auch in der Geschichte der Philosophie: auch hier haben große Persönlichkeiten lang hinreichende und auch hier nicht ausschließlich fördernde Wirkungen ausgeübt. Aristoteles darf in dieser Hinsicht als charakteristisches Beispiel gelten.

Es leuchtet ein daß die oben besprochene Problemverschlingung durch die subjektiven Verhältnisse, unter denen die einzelnen philosophierenden Persönlichkeiten stehen, noch in viel höherem Maße herbei geführt wird, als durch die in dem allgemeinen Bewußtsein einer Zeit, eines Volkes u.s.w. gegebenen Anlässe. Es gibt kein philosophisches System, welches von diesem Einflusse der Persönlichkeit seines Urhebers frei wäre. Deshalb sind alle philosophischen Systeme Schöpfungen der Individualität, die in dieser Hinsicht eine gewisse Aehnlichkeit mit Kunstwerken haben und als solche aus der Persönlichkeit ihres Urhebers begriffen sein wollen. Jedem Philosophen wachsen die Elemente seiner Weltanschauung aus den ewig gleichen Problemen der Wirklichkeit und der auf ihre Lösung gerichteten Vernunft, außerdem aber aus den Anschauungen und den Idealen seines Volkes wie seiner Zeit zu: die Gestalt aber und die Ordnung, der Zusammenhang und die Wertung, welche sie in seinem Systeme finden, sind durch seine Geburt und Erziehung, seine Tat und sein Schicksal, seinen Charakter und seine Lebenserfahrung bedingt. Hier fehlt somit oft die Allgemeingültigkeit, welche in abgestufter Bedeutung den beiden andern Faktoren beiwohnt. Bei diesen rein individuellen Bildungen muß der ästhetische Reiz an Stelle des Wertes bleibender Erkenntnis treten, und das Eindrucksvolle vieler Erscheinungen der Philosophiegeschichte beruht in der Tat nur auf diesem Zauber der »Begriffsdichtung«.

Zu den Problemverschlingungen und den durch Phantasie und Gefühl bestimmten Vorstellungen, wel che schon das allgemeine Bewußtsein in die Irre zu führen vermögen treten somit bei den Individuen noch ähnliche, aber rein persönliche Vorgänge hinzu, um der Problembildung und -Lösung noch mehr den Charakter der Künstlichkeit zu verleihen. Es ist nicht zu verkennen, daß vielfach sich die Philosophen auch mit Fragen herumgeschlagen haben, denen es an der natürlichen Begründung fehlte, so daß alle darauf verwendete Denkmühe vergebens war, und daß anderseits auch bei der Lösung realer Probleme unglückliche Versuche von Begriffskonstruktionen mit untergelaufen sind, welche mehr Hindernisse als Förderungen für den Austrag der Sache gebildet haben.

Das Bewunderungswürdige in der Geschichte der Philosophie bleibt eben dies, daß aus solcher Fülle individueller und allgemeiner Verwirrungen sich doch im ganzen der Grundriß allgemeingültiger Begriffe der Weltauffassung und Lebensbeurteilung niedergeschlagen hat, der den wissenschaftlichen Sinn dieser Entwicklung darstellt. Deshalb aber ist die Geschichte der Philosophie auch das vornehmste Organon der Philosophie selber und gehört nicht nur in weit größerem Maße, sondern auch in ganz anderem Sinne als es bei andern Wissenschaften der Fall ist, als integrierender Bestandteil zu ihrem System. Denn sie bildet in ihrer Gesamtheit die umfassendste und geschlossenste Entwicklung der Probleme der Philosophie selbst. Vgl. W. WINDELBAND, Festschrift f. Kuno Fischer, »Die Philosophie der Gegenwart« (Heidelberg, 2. Aufl. 1907) p. 529 ff.[12]

6. Hiernach hat die philosophiegeschichtliche Forschung folgende Aufgaben zu erfüllen: 1) genau festzustellen, was sich über die Lebensumstände, die geistige Entwicklung und die Lehren der einzelnen Philosophen aus den vorliegenden Quellen ermitteln läßt; 2) aus diesen Tatbeständen den genetischen Prozeß in der Weise zu rekonstruieren, daß bei jedem Philosophen die Abhängigkeit seiner Lehren teils von denjenigen der Vorgänger, teils von den allgemeinen Zeitideen, teils von seiner eigenen Natur und seinem Bildungsgange begreiflich wird; 3) aus der Betrachtung des Ganzen heraus zu beurteilen, welchen Wert die so festgestellten und ihrem Ursprunge nach erklärten Lehren in Rücksicht auf den Gesamtertrag der Geschichte der Philosophie besitzen.

Hinsichtlich der beiden ersten Punkte ist die Geschichte der Philosophie eine philologisch-historische, hinsichtlich des dritten Moments ist sie eine kritisch-philosophische Wissenschaft.

a) In Bezug auf die Feststellung des Tatsächlichen ist die Geschichte der Philosophie auf eine sorgfältige und umfassende Durchforschung der Quellen angewiesen. Diese fließen aber für die verschiedenen Zeiten mit sehr verschiedener Durchsichtigkeit und Vollständigkeit.

Die Hauptquellen für die philosophiegeschichtliche Forschung sind selbstverständlich die Werke der Philosophen selbst. Hinsichtlich der neueren Zeit stehen wir in dieser Hinsicht auf verhältnismäßig sicherem Boden. Seit Erfindung der Buchdruckerkunst ist die literarische Tradition so fest und deutlich geworden, daß sie im allgemeinen keinerlei Schwierigkeiten macht. Die Schriften, welche die Philosophen seit der Renaissance herausgegeben haben, sind für die heutige Forschung durchgängig zugänglich: die Fälle, in denen Fragen der Echtheit, der Entstehungszeit u.s.w. zu Kontroversen Anlaß gäben, sind verhältnismäßig äußerst selten; eine philologische Kritik hat hier nur geringen Spielraum, und wo sie (wie z. B. teilweise bei den verschiedenen Auflagen der kantischen Werke) eintreten kann, betrifft sie lediglich untergeordnete und in letzter Instanz gleichgültige Punkte. Auch sind wir hier der Vollständigkeit des Materials leidlich sicher: daß Wichtiges verloren oder noch von späterer Publikation zu erwarten wäre, ist kaum anzunehmen, wenn die geschärfte philologische Aufmerksamkeit der letzten Jahrzehnte uns über SPINOZA, LEIBNIZ, KANT, MAINE DE BIRAN Neues gebracht hat, so ist der philosophische Ertrag davon doch nur verschwindend gegenüber dem Werte des schon Bekannten gewesen. Höchstens handelt es sich dabei um Ergänzungen, insbesondere tritt wohl die Wichtigkeit gelegentlicher brieflicher Aeußerungen in Kraft, welche über den individuellen Faktor der philosophiegeschichtlichen Entwicklung mehr Licht zu verbreiten geeignet sind.

Weniger günstig schon steht es um die Quellen der mittelalterlichen Philosophie, welche zu einem (freilich geringen) Teile noch eine nur handschriftliche Existenz führen. V. COUSIN und seine Schule haben sich zuerst um die Publikation der Texte sehr verdient gemacht, und im ganzen dürfen wir überzeugt sein, auch für diese Zeit ein zwar lückenhaftes, aber doch zutreffendes Material zu besitzen. Dagegen ist unsere Kenntnis der arabischen und jüdischen Philosophie des Mittelalters und damit auch ihres Einflusses auf den Gang des abendländischen Denkens im einzelnen noch sehr problematisch; und es dürfte dies die empfindlichste Lücke in der Quellenforschung der Geschichte der Philosophie sein.

Viel schlimmer noch ist es um den direkten Quellenbefund der antiken Philosophie bestellt. Erhalten ist von Originalwerken uns allerdings die Hauptsache: der Grundstock der Werke von Platon und Aristoteles, auch dieser freilich nur in vielfach zweifelhafter Form, und daneben nur die Schriften späterer Zeit, wie diejenigen Ciceros, Senecas, Plutarchs, der Kirchenväter und der Neuplatoniker. Der weitaus größte Teil der philosophischen Schriften des Altertums ist verloren. Statt ihrer müssen wir uns mit den Fragmenten begnügen, welche der Zufall gelegentlicher Erwähnung bei den erhaltenen Schriftstellern, auch hier vielfach in fragwürdiger Form übrig gelassen hat50.[13]

Wenn es trotzdem gelungen ist, ein bis in das einzelne hinein durchgeführtes und wissenschaftlich gesichertes Bild von der Entwicklung der alten Philosophie (deutlicher als von dem der mittelalterlichen) zu gewinnen so ist dies nicht nur den unausgesetzten Mühen philologischer und philosophischer Durcharbeitung dieses Materials zu danken, sondern auch dem Umstande, daß uns neben den Resten der Originalwerke der Philosophen auch diejenigen der historischen Berichte des Altertums als sekundäre Quellen erhalten sind. Das Beste freilich auch daraus ist verloren, die historischen Werke nämlich, welche der gelehrten Sammlung der peripatetischen und der stoischen Schule zu Ende des vierten und im dritten Jahrhundert v. Chr. entsprangen. Diese Arbeiten sind dann später durch mehrfache Hände gegangen, ehe sie sich in den uns noch aus der Römerzeit vorliegenden Kompilationen erhalten haben, wie in den unter dem Namen Plutarchs gehenden Placita philosophorum51, in den Schriften des Sextus Empiricus52, in den Deipnosophistae des Athenaios53, in der Schrift des Diogenes Laertius peri biôn, dogmatôn kai apophthegmatôn tôn en philosophia eudokimêsantôn,54 in den Zusammenstellungen der Kirchenväter und in den Notizen der Kommentatoren der spätesten Zeit, wie Alexander von Aphrodisias Themistios und Simplikios. Eine vorzügliche Durcharbeitung dieser sekundären Quellen der antiken Philosophie hat H. DIELS, Doxographi Graeci (Berlin 1879), gegeben.

Wo, wie auf dem ganzen Gebiet der alten Philosophie, der Quellenbefund ein so zweifelhafter ist, da muß die kritische Feststellung des Tatsächlichen mit der Erforschung des pragmatischen und genetischen Zusammenhanges Hand in Hand gehen. Denn wo die Ueberlieferung selbst zweifelhaft ist, da kann die Entscheidung nur durch die Auffassung eines vernünftigen, der psychologischen Erfahrung entsprechenden Zusammenhanges gewonnen werden: in diesen Fällen ist also die Geschichte der Philosophie, wie alle Geschichte, darauf angewiesen, mit Zugrundelegung des quellenmäßig Gesicherten sich auch in denjenigen Regionen zu orientieren, mit denen die Ueberlieferung eine direkte und gesicherte Fühlung verloren hat. Die philosophiegeschichtliche Forschung des 19. Jahrhunderts darf sich rühmen, diese Aufgabe nach den Anregungen SCHLEIERMACHERs durch die Arbeiten von H. RITTER, dessen Geschichte der Philosophie (12 Bde. Hamburg 1829-53) jetzt freilich veraltet ist, von BRANDIs und ZELLER über die antike, von J. E. ERDMANN und KUNO FISCHER über die neuere Philosophie gelöst zu haben. Unter den zahlreichen Gesamtdarstellungen der Geschichte der Philosophie ist in diesem Hinsichten die bei weitem zuverlässigste J. E. ERDMANNS Grundriß der Geschichte der Philosophie, 2 Bde., 3. Aufl., Berlin 1878, 4. Aufl. bearb. von BENNO ERDMANN 1896. Allen größeren oder kleineren Darstellungen der Geschichte der Philosophie ist bisher der Gesamtplan der Anordnung gemeinsam, daß chronologisch nach der Reihenfolge der bedeutenderen Philosophen und der Schulen verfahren wird: die Unterschiede betreffen nur einzelne, nicht immer bedeutsame Verschiebungen. Unter den neuesten wären etwa wegen der geschmackvollen und einsichtigen Behandlung noch die von J. BERGMANN (2 Bde., Berlin 1892) und K. VORLÄNDER (2 Bde., Leipzig 1908) zu nennen. Eine eigenartige und feinsinnige Auffassung, in der das übliche Schema durch die Betonung großer weltgeschichtlicher Zusammenhänge glücklich durchbrochen ist, bietet R. EUCKEN, Die Lebensanschauungen der großen Denker (7. Aufl., Leipzig 1907).

Eine vortreffliche, die Literatur in erschöpfender Vollständigkeit und guter Ordnung sammelnde Bibliographie der gesamten Geschichte der Philosophie findet man in UEBERWEGs Grundriß der Geschichte der Philosophie, 4 Bde., 9. bezw. 10. Aufl., herausgegeben von M. HEINZE (Berlin 1901-6). Weitere allgemeine Hilfsmittel sind die philosophischen Lexika, wie das von AD. FRANCK herausgegebene Dictionnaire des sciences philosophiques (3. Aufl., Paris 1885) oder das von J. M. BALDWIN herausgegebene Dictionary of Philosophy and Psychology (London und Newyork 1901-1905, drei Bände), ferner etwa EISLER Wörterbuch der philosophischen Begriffe und Ausdrücke (2 Aufl., 2 Bde. Berlin 1904). Zur Geschichte der philosophischen Terminologie hat RUD. EUCKEN (Leipzig 1878) wertvolle Anregungen gegeben.

b) Die Erklärung des Tatsächlichen in der Geschichte der Philosophie ist entweder pragmatisch oder kulturhistorisch oder psychologisch, den drei Faktoren entsprechend, welche als die den Gang des Denkens bestimmenden oben auseinandergelegt wurden. Welche dieser drei Erklärungsarten im einzelnen Falle anzuwenden ist, hängt lediglich von dem Tatbestand der Ueberlieferung ab: daher ist es unrichtig, die eine[14] oder die andere zum alleinigen Prinzip der Behandlung zu machen. Die pragmatische Erklärungart wiegt bei denjenigen vor, welche in der ganzen Geschichte der Philosophie die Vorbereitung für ein bestimmtes System der Philosophie sehen, so bei HEGEL und seinen Schülern (s. o. S. 9), so vom HERBARTschen Standpunkte bei CHR. A. THILO, Kurze pragmatische Geschichte der Philosophie, 2 Tle. (Coethen 1876-80). Die kulturgeschichtliche Betrachtung und die Bezugnahme auf die Probleme der Einzelwissenschaften haben in der Auffassung der neueren Philosophie besonders KUNO FISCHER und W. WINDELBAND betont.

Ganz unzulänglich als wissenschaftliche Darstellung der Geschichte der Philosophie ist die rein biographische, welche nur eine der Persönlichkeiten nach der andern behandelt. In neuerer Zeit ist sie durch die Schrift von G. H. LEWEs, The history of philosophy from Thales to the present day (2 vs. London 1871) vertreten, ein Buch ohne alle historische Auffassung und zugleich eine Parteischrift im Sinne des COMTEschen Positivismus. Auch die Arbeiten der französischen Historiker (DAMIRON, FERRAZ) haben gern diese Form der getrennten, essayartigen Behandlung einzelner Philosophen, verlieren aber darüber nicht den Entwicklungsgang des Ganzen aus den Augen55.

c) Am schwierigsten ist es die Prinzipien festzustellen, nach denen die philosophischkritische Beurteilung der einzelnen Lehren stattzufinden hat. Wie jede Geschichte, so ist auch die der Philosophie eine kritische Wissenschaft: sie hat nicht nur zu berichten und zu erklären, sondern auch zu beurteilen, was in der historischen Bewegung, wenn sie erkannt und begriffen ist, als Fortschritt, als Ertrag zu gelten hat. Es gibt keine Geschichte ohne diesen Gesichtspunkt der Beurteilung, und das Zeugnis der Reife für den Historiker ist, daß er sich dieses seines Gesichtspunktes der Kritik klar bewußt ist, denn wo dies nicht der Fall ist, da verfährt er in der Auswahl seines Berichts und in der Charakterisierung des einzelnen nur instinktiv und ohne klare Norm56.

Dabei versteht es sich von selbst, daß dieser Maßstab der Beurteilung nicht eine Privatansicht des Historikers, auch nicht seine philosophische Ueberzeugung sein darf; wenigstens raubt die Anwendung einer solchen der danach geübten Kritik den Wert wissenschaftlicher Allgemeingültigkeit. Wer sich dem Glauben hingibt, die alleinige philosophische Wahrheit zu besitzen, oder wer von den Gewohnheiten der Spezialwissenschaften herkommt, in welchen allerdings ein sicheres Ergebnis die Beurteilung der Versuche, die dazu geführt haben, sehr einfach macht57, der mag wohl in Versuchung sein, alle die vorüberwandelnden Gestalten auf das Prokrustesbett seines Systems zu spannen: wer aber mit offenem historischen Blick die Arbeit des Denkens in der Geschichte betrachtet, den wird respektvolle Scheu zurückhalten. die Heroen der Philosophie wegen ihrer Unkenntnis der Weisheit eines Epigonen abzukanzeln58.

Dem äußerlichen Absprechen gegenüber hat die wissenschaftliche Geschichte der Philosophie sich auf den Standpunkt der immanenten Kritik zu stellen, und deren Prinzipien sind zwei: die formallogische Konsequenz und die intellektuelle Fruchtbarkeit.

Das Denken eines jeden Philosophen ist an den Vorstellungszustand gebunden, in den er hineinwächst, und unterliegt in seiner Entwicklung der psychologischen Notwendigkeit: die kritische Untersuchung hat festzustellen, wie weit es ihm möglich geworden ist, die verschiedenen Elemente seines Denkens in Uebereinstimmung miteinander zu bringen. Der Widerspruch tritt in der intellektuellen Wirklichkeit fast nie direkt so auf, daß ausdrücklich dasselbe behauptet und auch verneint würde, sondern stets so, daß verschiedene Behauptungen aufgestellt werden, die erst vermöge ihrer logischen Konsequenzen auf direkten Widerspruch und sachliche Unvereinbarkeit führen. Die Aufdeckung dieser Unzulänglichkeiten ist die formale Kritik, sie fallt häufig mit der pragmatischen Erklärung zusammen, weil diese Kritik schon in der Geschichte selbst von[15] den Nachfolgern vollzogen worden ist und deren Probleme bestimmt hat.

Doch genügt dieser Gesichtspunkt allein nicht: er trifft als rein formal alle Ansichten, die hinsichtlich eines Philosophen bezeugt sind, ausnahmslos, aber er gibt kein Kriterium der Entscheidung darüber, worin die philosophische Bedeutung einer Lehre sachlich besteht: denn es zeigt sich vielfach, daß die Wirkung der Philosophie historisch nicht als in sich fertig und wider gerade in Begriffen sich vollzogen hat, die durchaus nicht als in sich fertig und widerspruchlos gelten dürfen, während eine Menge einzelner Behauptungen, die zu beanstanden kein Anlaß ist, für die geschichtliche Betrachtung unbeachtet in der Ecke bleiben müssen. Große Irrtümer sind in der Geschichte der Philosophie wichtiger als kleine Wahrheiten.

Denn darauf kommt es vor allem an, was einen Beitrag geliefert hat zur Ausbildung der menschlichen Weltanschauung und Lebensbeurteilung; diejenigen Begriffsbildungen sind der Gegenstand der Geschichte der Philosophie. welche als Auffassungsformen und Urteilsnormen sich dauernd lebendig erhalten haben und in denen damit die bleibende innere Struktur der Vernunft zu klarer Erkenntnis gekommen ist.

Dies ist denn auch der Maßstab, nach dem allein entschieden werden kann, welche unter den oft sehr verschiedenartige Dinge betreffenden Lehren der Philosophen als die eigentlich philosophischen anzusehen, und welche anderseits aus der Geschichte der Philosophie auszuscheiden sind. Die Quellenforschung freilich hat die Pflicht, alle Lehren der Philosophen sorgfältig und vollständig zu sammeln, und damit das ganze Material für die pragmatische, kulturhistorische und psychologische Erklärung zu geben; aber der Zweck dieser mühsamen Arbeit ist doch nur der, daß schließlich das philosophisch Gleichgültige als solches erkannt und dieser Ballast über Bord geworfen werde.

Insbesondere ist dieser Gesichtspunkt der wesentlich bestimmende für Auswahl und Darstellung in einem Lehrbuch, das nicht die Forschung selbst geben, sondern ihre Ergebnisse zusammenfassen soll.

Quelle:
Wilhelm Windelband: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie. Tübingen 61912, S. 7-16.
Lizenz:

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