§ 29. Makrokosmus und Mikrokosmus.

[306] Durch Scotismus und Terminismus war die Glaubensmetaphysik des Mittelalters zersetzt und in der Mitte gespalten worden: alles Uebersinnliche war dem Dogma anheimgegeben, und als Gegenstand der Philosophie blieb die Erfahrungswelt übrig. Ehe aber noch das Denken Zeit gehabt hatte, um sich über die Methode und die besonderen Aufgaben dieser weltlichen Erkenntnis klar zu werden, brach der Humanismus und mit ihm vor allem die platonische Weltanschauung herein Kein Wunder, daß man bei dieser zunächst die Lösung der Aufgabe suchte, die man selbst erst im Dämmerschein vor sich sah: und um so willkommener mußte gerade diese Lehre, zumal in ihrer neuplatonischen Ausgestaltung sein, als sie die Welt des Uebersinnlichen ahnungsvoll im Hintergrunde zeigte, daraus aber das sinnlich Besondere in zweckvoll bestimmten Umrissen deutlich hervortreten ließ. Mochte also das Uebersinnliche selbst und alles, was daran mit dem Heilsleben des Menschen zusammenhing, getrost der Theologie anheimgestellt werden: die Philosophie konnte sich der Aufgabe, Naturwissenschaft zu sein, um so ruhigeren Gewissens widmen, je[306] mehr sie nach neuplatonischem Vorgange auch die Natur als ein Produkt des Geistes auffaßte und so im Begriffe der Gottheit einen höchsten Einheitspunkt für die sich scheidenden Zweige der Wissenschaft, den geistlichen und den weltlichen, beizubehalten meinte. Lehrte die Theologie, wie sich Gott in der Schrift offenbart, so war es nun Sache der Philosophie, seine Offenbarung in der Natur bewunderungsvoll aufzufassen. Deshalb sind die Anfänge der modernen Naturwissenschaft theosophisch und durchweg neuplatonisch gewesen.

1. Dabei aber ist das Charakteristische, daß bei dieser Erneuerung des Neuplatonismus auch die letzten dualistischen Motive, welche ihm angehaftet hatten, völlig beiseite gedrängt wurden. Sie wichen zusammen mit dem spezifisch religiösen Interesse, das sie getragen hatte, und das theoretische Moment, in der Natur die schaffende Gotteskraft zu erkennen, trat rein hervor.636 Der Grundzug in der Naturphilosophie der Renaissance war deshalb die phantasievolle Auffassung der göttlichen Einheit des Allebens, die Bewunderung des Makrokosmus. Plotins Grundgedanke von der Schönheit des Universums ist von keiner andern Zeit so sympathisch aufgenommen worden wie von dieser: und diese Schönheit wurde auch jetzt als Erscheinung der göttlichen Idee betrachtet. Eine solche Anschauung spricht sich fast ganz in neuplatonischen Formen bei Patrizzi, in origineller Gestalt und mit starker poetischer Eigenheit bei Giordano Bruno und ebenso bei Jacob Boehme aus. Bei jenem waltet noch das Bild des allgestaltenden und allbelebenden Urlichtes (vgl. § 20, 7) vor, bei diesen dagegen dasjenige des Organismus: die Welt ist ein Baum, der von der Wurzel bis zur Blüte und Frucht von Einem Lebenssafte durchquollen, durch die eigene Keimtätigkeit von innen heraus gestaltet und gegliedert ist.637

Darin liegt der Natur der Sache nach die Neigung zum vollen Monismus und Pantheismus. Alles muß seine Ursache haben, und die letzte Ursache kann nur Eine sein – Gott.638 Er ist nach Bruno zugleich die formale, die wirkende und die Zweckursache, nach Boehme zugleich der »Urgrund« und die »Ursache« (principium und causa bei Bruno) der Welt. Daher aber ist auch das Weltall nichts als »die kreatürlich gemachte Wesenheit Gottes selbst«.639 Und doch verbindet sich mit dieser Anschauung wie im Neuplatonismus, so auch hier die Vorstellung von der Transzendenz Gottes. Boehme hält darauf, daß Gott nicht als vernunft- und »wissenschafts« lose Kraft, sondern als der »allwissende, allsehende, allhörende, allrüchende, allschmeckende« Geist gedacht werde; und Bruno fügt eine andere Analogie hinzu, ihm ist Gott der Künstler, der unaufhörlich wirkt und sein Inneres zu reichem Leben ausgestaltet.

Danach ist denn auch für Bruno Harmonie das innerste Wesen der Welt, und wer sie mit begeistertem Blicke aufzufassen vermag (wie der Philosoph es in den Dialogen und Dichtungen Degli eroici furori tut), für den verschwinden[307] die scheinbaren Mängel und Unvollkommenheiten des Einzelnen in der Schönheit des Ganzen. Es bedarf keiner besonderen Theodicee; die Welt ist vollkommen, weil sie Gottes Leben ist, bis in alles Einzelne hinein, und nur derjenige klagt, welcher sich nicht zur Anschauung des Ganzen erheben kann. Die Weltfreudigkeit der ästhetischen Renaissance singt in Brunos Schriften philosophische Dithyramben: ein universalistischer Optimismus von hinreißendem Schwung waltet in seinen Dichtungen.

2. Die Begriffe, welche dieser Entfaltung der metaphysischen Phantasie bei Bruno zu Grunde liegen, weisen der Hauptsache nach auf Nicolaus Cusanus zurück, dessen Lehren durch Charles Bouillé aufrecht erhalten worden waren, in dieser Darstellung jedoch ihre belebende Frische einigermaßen eingebüßt hatten. Gerade diese wußte ihnen der Nolaner wiederzugeben. Er steigerte nicht nur das Prinzip der coincidentia oppositorum zu der künstlerischen Aussöhnung der Gegensätze, zur harmonischen Gesamtwirkung widerstreitender Teilkräfte des göttlichen Urwesens, sondern er gab vor allem dem Begriffspaar des Unendlichen und Endlichen eine sehr viel weiter tragende Bedeutung. Hinsichtlich der Gottheit und ihrer Beziehung zur Welt bleibt es im wesentlichen bei den neuplatonischen Verhältnissen. Gott selbst als die über alle Gegensätze erhabene Einheit ist durch keine endliche Bestimmung erfaßbar und deshalb seinem eigensten Wesen nach unerkennbar (negative Theologie); dabei aber wird er doch als die unerschöpfbare, unendliche Weltkraft, als die natura naturans gedacht, die in ewiger Veränderung sich gesetzmäßig und zweckvoll zur natura naturata gestaltet und »expliziert«. Diese Gleichsetzung des Wesens von Gott und Welt ist eine allgemeine Lehre der Naturphilosophie der Renaissance; sie findet sich ebenso bei Paracelsus, bei Sebastian Franck, bei Boehme und schließlich auch bei den gesamten »Platonikern«. Daß sie auch sehr extrem naturalistische Gestalt annehmen, zur Leugnung aller Transzendenz führen konnte, bewies die agitatorisch zugespitzte reklamehaft polemische Lehre von Vanini640.

Für die natura naturata dagegen, das »Universum«, den Inbegriff der Kreaturen, wird nicht das Merkmal der wahren »Unendlichkeit«, wohl aber dasjenige der Unbegrenztheit in Raum und Zeit in Anspruch genommen. Dieser Begriff aber gewann eine unvergleichlich deutlichere Gestalt und festere Bedeutung durch die kopernikanische Theorie.641 Dem Cusaner war, wie den alten Pythagoreern und wohl durch diese, die Kugelgestalt und die Achsendrehung der Erde eine bekannte Vorstellung gewesen; aber erst die siegreich bewiesene Hypothese von der Bewegung der Erde um die Sonne war imstande, die völlig neue Ansicht von der Stellung des Menschen im Weltall zu begründen, welche der Wissenschaft der Renaissance eigen ist. Die anthropozentrische Weltvorstellung, die das Mittelalter beherrscht hatte, ging aus den Fugen. Wie die Erde, so mußte erst recht der Mensch aufhören, als Mittelpunkt des Weltalls und des Weltgeschehens zu gelten. Ueber solche »Beschränktheit« hoben sich auf Grund der Lehre Köperniks, die deshalb auch von den dogmatischen Mächten aller Konfessionen verdammt wurde, auch[308] solche Männer wie Patrizzi und Boehme hinaus; aber der Ruhm, das kopernikanische System naturphilosophisch und metaphysisch zu Ende gedacht zu haben, gebührt Giordano Bruno.

Er entwickelte daraus die Anschauung, daß das Universum ein System zahlloser Welten bilde, von denen jede, um ihren sonnenhaften Mittelpunkt bewegt, ihr Eigenleben führe, aus chaotischen Zuständen zu klarer Ausgestaltung emporblühe und dem Geschick des Vergehens wieder anheimfalle. Wohl hat bei dieser Konzeption von der Pluralität entstehender und wieder absterbender Welten die demokritisch-epikureische Tradition mitgewirkt; allein gerade das ist das Eigentümliche der Brunoschen Lehre, daß ihm die Vielheit der Sonnensysteme nicht als ein mechanisches Beieinander, sondern als ein organischer Lebenszusammenhang. daß ihm der Prozeß des Aufblühens und Welkens der Welten als getragen von dem Pulsschlag des Einen göttlichen Allebens galt.

3. Drohte in dieser Weise der Universalismus mit dem kühnen Flug in räumliche und zeitliche Unbegrenztheit die Phantasie ganz für sich in Anspruch zu nehmen, so bestand ein wirksames Gegengewicht in der peripatetisch-stoischen Lehre von der Analogie zwischen Makrokosmus und Mikrokosmus, die im Wesen des Menschen den Inbegriff, die »Quintessenz« der kosmischen Gewalten fand. In den verschiedensten Formen sehen wir diese Lehre während der Renaissance wieder aufleben; sie beherrscht durchweg die Erkenntnistheorie dieser Zeit, und zwar ist dabei fast überall die neuplatonische Dreiteilung maßgebend, welche das Schema für eine metaphysische Anthropologie abgibt. Man kann nur erkennen, heißt es bei Valentin Weigel, was man selbst ist: der Mensch erkennt das All, sofern er es selbst ist. Das war ein durchgreifendes Prinzip der Eckhartschen Mystik. Aber dieser Idealismus nahm nun hier bestimmtere Form an. Als Leib gehört der Mensch der materiellen Welt an; ja er vereinigt in sich, wie Paracelsus und nach ihm Weigel und Boehme lehren, das Wesen aller materiellen Dinge in feinster Verdichtung: eben deshalb ist er befugt, die Körperwelt zu begreifen. Als intellektuelles Wesen aber ist er »siderischen« Ursprungs und vermag deshalb die geistige Welt in allen ihren Ausgestaltungen zu erkennen. Endlich als göttlicher »Funke«, als spiraculum vitae, als Teilerscheinung des höchsten Lebensprinzips vermag er auch des göttlichen Wesens bewußt zu werden, dessen Ebenbild er ist.

Eine mehr abstrakte Anwendung desselben Prinzips, wonach alle Welterkenntnis in der Selbsterkenntnis des Menschen wurzelt, findet sich bei Campanella: sie involviert nicht die neuplatonische Trennung der Weltschichten (obwohl auch diese bei Campanella vorkommt), sondern die Grundkategorien aller Wirklichkeit. Der Mensch, heißt es auch hier, erkennt eigentlich nur sich selbst und das übrige nur von sich aus. Alles Wissen ist Wahrnehmen (sentire); aber wir nehmen nicht die Dinge wahr, sondern nur die Zustände, in welche sie uns versetzen. Dabei aber erfahren wir der Hauptsache nach, daß wir, indem wir sind, etwas können, etwas wissen und etwas wollen642, und daß wir uns durch entsprechende Funktionen anderer Wesen beschränkt finden. Daraus ergibt sich, daß Macht, Wissen und Wollen die »Primalitäten«[309] alles Wirklichen sind und daß, wenn sie Gott unbeschränkt zukommen, er als allmächtig, allwissend und allgütig erkannt wird.

4. Die Lehre, daß alle Gottes- und Welterkenntnis schließlich in der Selbsterkenntnis des Menschen beschlossen sei, ist jedoch nur eine erkenntnis-theoretische Folgerung aus dem allgemeineren metaphysischen Prinzip, wonach das göttliche Wesen in jeder seiner endlichen Erscheinungen mit seinem ganzen unteilbaren Wesen gegenwärtig und enthalten sein sollte. Auch darin folgt Giordano Bruno dem Cusaner, daß nach ihm Gott ebenso das Kleinste wie das Größte, ebenso das Lebensprinzip des Einzelwesens wie dasjenige des Universums ist. Und danach wird also jedes Einzelding, nicht bloß der Mensch, zum »Spiegel« der Weltsubstanz. Jedes, ausnahmslos, ist seinem Wesen nach die Gottheit selbst, aber jedes in eigener, von allen andern unterschiedener Weise Diesen Gedanken legt Bruno in dem Begriff der Monade nieder. Er verstand darunter das urlebendige, unvergängliche Einzelwesen, welches, ebenso körperlicher wie geistiger Natur, als stets geformter Stoff eine der Teilerscheinungen der Weltkraft bildet, in deren Wechselwirkung das Weltleben besteht. Jede Monade ist eine individuelle Daseinsform des göttlichen Seins, eine endliche Existenzform der unendlichen Essenz. Da nun nichts ist als Gott und die Monaden, so ist das Universum bis in den kleinsten Winkel hinein beseelt, und das unendliche Alleben individualisiert sich an jedem Punkte zu besonderer Eigenart. Daraus ergibt sich, daß jedes Ding (wie der Weltkörper sich zu gleich um seine eigene Achse und um seine Sonne bewegt) in seiner Lebensbewegung teils dem Gesetze seines besonderen Wesens, teils einem allgemeineren Gesetze folgt. Campanella, der mit dem kopernikanischen System auch diese Lehre aufnahm, bezeichnete dies Streben zum Ganzen, diesen Zug zum Urquell aller Wirklichkeit als Religion und sprach in diesem Sinne von einer »natürlichen« Religion, d.h. von der Religion als »Naturtrieb« (man würde jetzt etwa sagen Zentripetaltrieb), den er folgerichtig allen Dingen überhaupt zuschrieb und der im Menschen die Sonderform der »rationalen« Religion annehmen sollte, d.h. des Strebens, durch Liebe und Erkenntnis mit Gott Eins zu werden.643

Dies Prinzip der unendlichen Variabilität des göttlichen Weltgrundes, der sich in jedem Einzeldinge unter besonderer Form darstelle, findet sich auch ähnlich bei Paracelsus. Hier wird wie bei Nicolaus Cusanus gelehrt, daß in Jedem Dinge alle Stoffe vorhanden seien, jedes also einen Mikrokosmus bedeute, jedes aber auch wieder noch sein besonderes Lebens- und Wirkungsprinzip habe. Diesen Sondergeist des Individuums nennt Paracelsus den Archeus; Jacob Boehme, auf den auch diese Lehre übergegangen ist, nennt ihn den Primus.

Bei Bruno verknüpft sich der Begriff der Monade in sehr interessanter Weise, wenn auch ohne weitere Wirkung auf seine physikalischen Anschauungen, mit demjenigen des Atoms, der ihm, wie der früheren Zeit, durch die epikureische Tradition (Lucrez) zugeführt wurde. Das »Kleinste «, in der Metaphysik die Monade, in der Mathematik der Punkt, ist in der Physik das Atom,[310] das unteilbare, kugelförmige Element der Körperwelt. Erinnerungen der pythagoreisch-platonischen Elementenlehre und der verwandten demokratischen Atomtheorie wurden so mitten im Neuplatonismus lebendig; sie fanden aber auch bei Männern wie Basso, Sennert u. a. selbständige Erneuerung und führten so zu der sog. Korpuskulartheorie, wonach die Körperwelt aus untrennbaren Atomkomplexen, den Korpuskeln, bestehen sollte. Für die Bewegung der Atome selbst wurde im Zusammenhange mit ihrer mathematischen Form eine ursprüngliche und unveränderliche Gesetzmäßigkeit angenommen, auf welche auch die Wirkungsweise der Korpuskeln zurückzufahren sei.644

5. Schon hierbei machen sich in der altpythagoreischen Form, bezw. deren demokritischer und platonischer Umbildung die Wirkungen der Mathematik geltend. Die letzten Bestandteile der physischen Wirklichkeit sind durch ihre stereometrische Form bestimmt, und auf diese müssen die qualitativen Bestimmungen der Erfahrung zurückgeführt werden. Die Verknüpfung der Elemente aber setzt als Prinzip der Mannigfaltigkeit die Zahlen und ihre Ordnung voraus.645 So treten wieder die Raumfomen und Zahlenverhältnisse als das Wesentliche und Ursprüngliche in der physischen Welt hervor; und damit wird die aristotelisch-stoische Lehre von den qualitativ bestimmten Kräften, von den inneren »Formen« der Dinge, von den qualitates occultae verdrängt. Wie sie einst über das pythagoreisch-demokritisch-platonische Prinzip gesiegt hatte, so mußte sie diesem wiederum weichen: und hierin liegt eine der wichtigsten Vorbereitungen für den Ursprung der neueren Naturwissenschaft.

Die Anfänge dazu finden sich auch schon bei Nicolaus Cusanus; aber jetzt erfuhren sie eine wesentliche Stärkung aus derselben Quelle, woraus sie bei ihm sich erklären: aus der alten Literatur, insbesondere aus den neupythagoreischen Schriften. Eben deshalb aber haben sie auch um diese Zeit noch das phantastisch-metaphysische Gewand der Zahlenmystik und Zahlensymbolik. Das Buch der Natur ist in Zahlen geschrieben, die Harmonie der Dinge ist diejenige des Zahlensystems. Alles ist von Gott nach Maß und Zahl geordnet, alles Leben ist eine Entwicklung mathematischer Verhältnisse. Allein ebenso wie im späteren Altertum, so entfaltet sich auch hier dieser Gedanke zunächst als eine willkürliche Begriffsdeuterei und eine geheimnisvolle Spekulation. Von der Konstruktion der Dreieinigkeit an, wie sie z.B. auch Bouillé versuchte, soll das Hervorgehen der Welt aus Gott wieder als der Prozeß der Verwandlung der Einheit in das Zahlensystem begriffen werden. Solchen Phantasien gingen Männer wie Cardanus und Pico nach; Reuchlin fügte noch die mythologischen Gebilde der jüdischen Cabbala hinzu.

6. So trat das zu fruchtbarster Entfaltung bestimmte Prinzip zunächst wieder mit alter metaphysischer Wunderlichkeit umhüllt in die neue Welt, und es bedurfte noch frischer Kräfte, um es daraus zu rechter Wirkung herauszuschälen. Inzwischen aber mischte es sich mit ganz andern Bestrebungen, die gleichfalls in der neuplatonischen Tradition ihren Ursprung hatten. Zu der Idee eines seelischen Universallebens, zu der phantasievollen Vergeistigung der Natur gehörte auch der Trieb, mit geheimnisvollen Mitteln, mit Beschwörungen[311] und Zauberkünsten in den Lauf der Dinge einzugreifen und ihn nach dem Willen des Menschen zu leiten. Auch hier schwebte dem phantastischen Drange der aufgeregten Zeit ein hoher Gedanke vor: die Beherrschung der Natur durch die Kenntnis der in ihr wirkenden Kräfte. Aber auch diesen übernahm man in der Hülle antiken Aberglaubens. Betrachtete man mit den Neuplatonikern das Leben der Natur als ein Walten von Geistern, als einen geheimnisvollen Zusammenhang innerlicher Kräfte, so galt es sich diese durch Wissen und Willen untertan zu machen. So wurde die Magie zu einem Lieblingsgegenstande der Renaissance, und ihre Wissenschaft bemühte sich wieder System in den Aberglauben zu bringen.

Die Astrologie mit ihren Einwirkungen der Gestirne auf das Menschenleben, die Traum- und Zeichendeutung, die Nekromantik mit ihren Geisterbeschwörungen, die Wahrsagungen der Ekstatischen – alle diese Elemente der stoisch-neuplatonischen Mantik standen damals in üppigster Blüte. Pico und Reuchlin brachten sie mit der Zahlenmystik in Verbindung, Agrippa von Nettesheim übernahm alle skeptischen Angriffe gegen die Möglichkeit rationaler Wissenschaft, um bei mystischen Erleuchtungen und geheimen Zauberkünsten Hilfe zu suchen. Cardanus ging allen Ernstes daran, die Gesetzmäßigkeit dieser Wirkungen zu bestimmen, und Campanella räumte ihnen in seiner Weltvorstellung einen ungewöhnlich breiten Raum ein.

Insbesondere zeigten sich diesen magischen Künsten die Aerzte geneigt, deren Beruf den Eingriff in den Naturverlauf verlangte und von den geheimen Künsten besondere Förderung erwarten zu dürfen schien. Aus diesem Gesichtspunkt wollte Paracelsus die Medizin reformieren. Auch er geht von der Sympathie aller Dinge, von dem geistigen Zusammenhange des Universums aus. Er findet das Wesen der Krankheit in der Beeinträchtigung des individuellen Lebensprinzips, des Archeus, durch fremde Mächte, und er sucht die Mittel, um den Archens zu befreien und zu kräftigen. Da aber dies durch entsprechende Zusammensetzung der Stoffe geschehen sollte, so mußten allerlei Wundertränke, Tinkturen und sonstige Geheimmittel gebraut werden, und so wurden die Künste der Alchymie in Bewegung gesetzt, die trotz aller Wunderlichkeiten bei einem unglaublichen Massenbetrieb schließlich doch eine Anzahl brauchbarer Ergebnisse für chemische Einsichten abwarfen.

Dabei führte die metaphysische Grundvoraussetzung von der wesentlichen Einheitlichkeit aller Lebenskraft zu dem Gedanken, daß es auch ein einfaches, kräftigstes Gesamtmittel zur Stärkung jedes beliebigen Archeus, daß es eine Panacee gegen alle Krankheiten und zur Aufrechterhaltung aller Lebenskräfte geben müsse; und der Zusammenhang mit den makrokosmischen Bestrebungen der Magie näherte die Hoffnung, daß der Besitz dieses Geheimnisses die höchste Zaubermacht verleihen und die begehrtesten Schätze gewähren werde. Das alles sollte der »Stein der Weisen« leisten: alle Krankheiten sollte er heilen, alle Stoffe in Gold verwandeln, alle Geister in die Gewalt seines Besitzers bannen. Und so waren es schließlich sehr reale und nüchterne Absichten, die in den Abenteuern der Alchymie sich zu befriedigen dachten.

7. Die Einfügung dieser magischen Naturanschauung in das religiöse Grübelsystem der deutschen Mystik macht das Eigentümliche von Jac. Boehmes Philosophie aus. Auch er ist von dem Gedanken, daß die Philosophie Naturerkenntnis[312] sein solle, ergriffen; aber der tiefe Ernst des religiösen Bedürfnisses, welcher der deutschen Reformation zu Grunde lag, ließ ihn sich nicht bei der seinerzeit üblichen Scheidung von religiöser Metaphysik und Naturwissenschaft begnügen, und er suchte beide wieder in Eins zu arbeiten. Derartige Bestrebungen, die über die dogmatische Fixierung des Protestantismus hinaustrieben und mit einer christlichen Metaphysik die Aufgaben der neuen Wissenschaft zu lösen hofften, wuchsen auch sonst neben dem offiziellen Peripatetizismus empor. Taurellus wollte eine solche überkonfessionelle Philosophie des Christentums liefern und eignete sich mit richtigem Instinkt dafür manche Elemente der augustinischen Willenslehre an, vermochte aber nicht genug aus dem realen Inhalt des Zeitinteresses in diese Gedanken hineinzuarbeiten, gelangte vielmehr schließlich zu einer völligen Abscheidung der empirischen Forschung von aller Metaphysik. Aehnlich erging es der mystischen Bewegung, die mit volkstümlichem Gegensatz gegen die neue Orthodoxie um so mehr anschwoll, je mehr diese in sich vertrocknete und verknöcherte: auch die mystischen Lehren blieben in vager Allgemeinheit hangen, bis ihnen zuerst durch Weigel und dann vollständig durch Boehme der Paracelsismus zugeführt wurde.

In Boehmes Lehre nimmt der Neuplatonismus wieder völlig religiöse Färbung an. Auch hier gilt der Mensch als der Mikrokosmus, von dem aus die leibliche, die »siderische« und die göttliche Welt erkannt werden können, wenn man, unbeirrt von gelehrten Theorien, der rechten Erleuchtung folgt. Die Selbsterkenntnis jedoch ist die religiöse, welche den Gegensatz des Guten und des Bösen als Grundzug des menschlichen Wesens findet. Derselbe Gegensatz erfüllt die ganze Welt; er herrscht im Himmel wie auf Erden, und da alles nur in Gott seine Ursache haben kann, so muß er auch in diesem aufgesucht werden. Boehme dehnt die coincidentia oppositorum, bis auf die äußerste Grenze aus, und er findet mit wohl kaum bewußtem Anschluß an Meister Eckhart den Grund der Dualität in der Notwendigkeit der Selbstoffenbarung des göttlichen Urgrundes. Wie das Licht nur an der Finsternis, so kann Gottes Güte nur an seinem Zorn offenbar werden. So schildert denn Boehme den Prozeß der ewigen Selbstgebärung Gottes, wie aus dem dunklen Seinsgrunde in ihm der »Drang« oder der Wille, welcher nur sich selbst zum Gegenstande hat, zur Selbstoffenbarung in der göttlichen Weisheit gelangt, und wie der so offenbar Gewordene sich in die Welt gestaltet. Geht so unmittelbar die theogonische Entwicklung in die kosmogonische über, so zeigt sich in der letzteren überall das Bestreben, den religiösen Grundgegensatz in den naturphilosophischen Kategorien des paracelsischen Systems durchzuführen. So werden drei Reiche der Welt und sieben Gestalten oder »Qualen« konstruiert, die von den materiellen Kräften der Anziehung und Abstoßung zu denen des Lichts und der Wärme und von da zu denen der sensiblen und intellektuellen Funktionen aufsteigen. An diese Schilderung des ewigen Wesens der Dinge knüpft sich dann die Geschichte der irdischen Welt, welche mit dem Sündenfall Lucifers und der Versinnlichung jenes geistigen Wesens beginnt und mit der Ueberwindung des hochmütigen »Vergafftseins« in die Kreatur, mit der reinen mystischen Hingabe des Menschen an die Gottheit, schließlich mit der Wiederherstellung der geistigen Natur endet. Das alles wird von Bochme in prophetenhafter Rede, voll tiefer Ueberzeugung, mit einer einzigartigen Mischung von Tiefsinn[313] und Dilettantismus vorgetragen. Es ist der Versuch der Eckhartschen Mystik, der modernen Interessen der Wissenschaft Herr zu werden, und der erste, noch tastend unsichere Schritt dazu, die Naturwissenschaft in eine idealistische Metaphysik emporzuheben. Aber weil dies aus innerstem religiösen Leben her geschieht, so treten bei Boehme die intellektualistischen Züge der älteren Mystik mehr zurück: wenn der Weltprozeß bei Eckhart im Entstehen wie im Vergehen eine Erkenntnis sein sollte, so ist er bei Boehme vielmehr ein Ringen des Willens zwischen dem Guten und dem Bösen.

8. Auf allen diesen Wegen war der Erfolg der Ablösung der Philosophie von der dogmatischen Theologie doch immer der, daß die gesuchte Naturerkenntnis die Form der älteren Metaphysik annahm. Dieser Vorgang war so lange unvermeidlich, wie der Wunsch nach Naturerkenntnis noch weder über ein selbsterworbenes Tatsachenmaterial noch über neue begriffliche Formen zu dessen Verarbeitung verfügen konnte. Als Vorbedingung dazu aber war es erforderlich, daß man die Unzulänglichkeit der metaphysischen Theorien einsah und sich von ihnen her dem Empirismus zuwendete. Diesen Dienst haben der Genesis des modernen Denkens die Tendenzen des Nominalismus und Terminismus, zum Teil auch die rhetorisch-grammatische Opposition gegen die Schulwissenschaft, sowie die Erneuerung der antiken Skepsis geleistet.

Als gemeinsamer Ausgangspunkt dieser Bestrebungen müssen die Schriften von Ludovico Vives angesehen werden; aber sie beweisen auch, daß die Bedeutung aller dieser Anregungen zunächst wesentlich negativen Charakters bleibt. An Stelle der dunklen Wörter und der willkürlichen Begriffe der Metaphysik wird in nominalistischer Weise die unmittelbare, intuitive Auffassung der Sachen selbst durch die Erfahrung verlangt; aber die Bemerkungen über die Art, wie diese nun wissenschaftlich angestellt werden soll, sind dürftig und unsicher; vom Experiment ist die Rede, aber ohne tiefere Einsicht in sein Wesen. Ganz ebenso liegt die Sache später bei Sanchez. Und wenn die Verkünstelungen der syllogistischen Methode mit großem Lärm angegriffen wurden, so hatte an deren Stelle diese Richtung schließlich nur die ramistischen Einfälle der »natürlichen Logik« zu setzen (vgl. § 28, 4).

Es kam hinzu, daß dieser Empirismus gerade vermöge seines Ursprungs aus dem Terminismus sich der äußeren Natur gegenüber nur sehr unsicher bewegen konnte. Er vermochte den Hintergrund des Occamschen Dualismus nicht zu verleugnen. Die Sinneswahrnehmung galt ja nicht als ein Abbild des Dinges, sondern als ein der Gegenwart desselben entsprechender innerer Zustand des Subjekts. Diese Bedenken konnten durch die Theorien der antiken Skepsis nur verstärkt werden: denn es kam nun die Lehre von den Sinnestäuschungen, die Betrachtung der Relativität und des Wechsels aller Wahrnehmungen hinzu. Daher warf sich auch jetzt dieser Empirismus der Humanisten mehr auf die innere Wahrnehmung, die allgemein für sehr viel sicherer erachtet ward als die äußere. Am glücklichsten ist Vives, wo er der empirischen Psychologie das Wort redet; Männer wie Nizolius, Montaiglle, Sanchez teilten diese Ansicht, und Charron gab ihr praktische Bedeutung. Bei allen diesen geht, so sehr sie auf Anschauung der Sachen selbst dringen, doch schließlich die äußere Wahrnehmung verhältnismäßig leer aus.

Wie wenig selbstgewiß und wie wenig fruchtbar in prinzipieller Hinsicht[314] dieser Empirismus damals war, zeigen gerade am meisten seine beiden Hauptvertreter in Italien: Telesio und Campanella. Der erstere, einer der rührigsten und einflußreichsten Gegner des Aristotelismus, wird schon in seiner Zeit (auch von Bruno und Bacon) überall als derjenige gerühmt, welcher am schärfsten verlangt habe, daß die Wissenschaft sich nur auf dem Boden sinnlich wahrgenommener Tatsachen aufbauen solle, und er gründete in Neapel eine Akademie, die sich nach seiner Heimat die kosentinische nannte und in der Tat viel zur Pflege des empiristisch-naturwissenschaftlichen Sinnes beigetragen hat. Sehen wir aber zu, wie er nun selbst über die Natur »juxta propria principia« handelt, so begegnen uns echt naturphilosophische Theorien, welche ganz in der Weise der alten Ionier von wenigen Beobachtungen her schnellfertig zu allgemeinsten metaphysischen Prinzipien überspringen. Da werden das Trocken-Warme und das Feucht-Kalte als die beiden gegensätzlichen Grundmächte dargestellt, aus deren Kampf sich das makrokosmische wie das mikrokosmische Leben erklären soll. Fast noch mehr tritt derselbe innere Widerspruch bei Campanella hervor. Dieser lehrt den ausgesprochensten Sensualismus. Alles Wissen ist ihm ein »Fühlen« (sentire); selbst Erinnerung, Urteil und Schluß sind ihm nur modifizierte Formen jenes Fühlens. Aber auch bei ihm kippt der Sensualismus in den psychologischen Idealismus um; er ist viel zu sehr Nominalist, um nicht zu wissen, daß alles Wahrnehmen nur das Fühlen der Zustände des Wahrnehmenden selbst ist. So nimmt er denn seinen Ausgang von der inneren Erfahrung und baut auf ein einfaches Aperçu (vgl. oben Nr. 3) nach dem Prinzip der Analogie von Makrokosmus und Mikrokosmus eine vielgliedrige Ontologie. In diese zieht er dann auch noch den ganz scholastischen Gegensatz des Seins und des Nichtseins (ens und non-ens) herein, welcher nach neuplatonischem Muster mit demjenigen des Vollkommenen und des Vollkommenen identifiziert wird, und zwischen beiden spannt er das bunte metaphysische Bild eines schichtenweis gegliederten Weltsystems aus.

So zähe hängen sich überall die lang eingelebten Gewohnheiten des metaphysischen Denkens an die Anfänge der neuen Forschung.

Quelle:
Wilhelm Windelband: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie. Tübingen 61912, S. 306-315.
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