1. Kapitel. Die theoretischen Fragen.

[374] »The proper study of mankind is man.« Dies Wort Popes gilt für die gesamte Aufklärungsphilosophie nicht nur in dem praktischen Sinne, daß sie den Zweck aller wissenschaftlichen Untersuchung zuletzt immer in der »Glückseligkeit« des Menschen findet, sondern auch in theoretischer Hinsicht insofern als sie – ihrem Gesamtzuge nach – alle Erkenntnis auf die Beobachtung der tatsächlichen Vorgänge des Seelenlebens gründen will. Seitdem Locke784 das Prinzip aufgestellt hatte, vor allen metaphysischen Ueberlegungen und Streitigkeiten müsse entschieden werden, wie weit überhaupt die menschliche Einsicht reiche, und das sei wiederum nur möglich durch die genaue Darlegung der Quellen, aus denen sie fließe, und des Entwicklungsganges, durch welchen sie[374] zustande komme, – seitdem war die Erkenntnistheorie in die erste Linie des philosophischen Interesses gerückt, zugleich aber für sie als maßgebende und entscheidende Instanz die empirische Psychologie anerkannt. Die Tragweite der menschlichen Vorstellungen soll danach beurteilt werden, wie sie entstehen. So wird die Erfahrungsseelenlehre mit all den stillschweigenden Voraussetzungen, die in ihr üblich sind, zur Grundlage der gesamten philosophischen Weltansicht, zur Lieblingswissenschaft des Zeitalters und zugleich zur Vermittlung der Wissenschaft mit der allgemeinen Literatur. Wie in dieser, zumal bei den Engländern und Deutschen, die Seelenmalerei und die Selbstbespiegelung vorwalteten, so sollte auch die Philosophie nur das Bild des Menschen und seiner Bewußtseinstätigkeiten zeichnen. Es gründeten sich Gesellschaften zur »Beobachtung des Menschen«, in weitschichtigen »Magazinen« wurden allerlei dilettantische Berichte über merkwürdige Erlebnisse aufgespeichert, und die Regierung der französischen Republik ersetzte in ihrem offiziellen Unterrichtssystem785 die »Philosophie« durch den tönenden Titel der Analyse de l'entendement humain.

Wenn somit unter den theoretischen Fragen der Aufklärungsphilosophie diejenige nach dem Ursprung, der Entwicklung und der Erkenntniskraft der menschlichen Vorstellungen obenan stand, so wurde diese von vornherein unter der Voraussetzung der populären Metaphysik, des naiven Realismus gestellt. Da ist »draußen« eine Welt von Dingen, von Körpern oder wer weiß sonst was, – und hier ist ein Geist, der sie erkennen soll: wie kommen in diesen Geist Vorstellungen hinein, die jene Welt in ihm reproduzieren? Dies altgriechische Schema des Erkenntnisproblems beherrscht die theoretische Philosophie des 18. Jahrhunderts vollständig und gelangt in ihr ebenso zu vollkommenster Formulierung wie zu entscheidender Zersetzung. Gerade in dieser Hinsicht nimmt die cartesianische Metaphysik mit ihrem Dualismus von bewußten und körperlichen Substanzen eine beherrschende Stellung für das ganze Aufklärungszeitalter ein, und die populär-empirische Ausdrucksweise, in der sie von Locke vorgetragen wurde, machte diesen zum Führer der neuen Bewegung. Die methodischen und metaphysischen Ueberlegungen, welche in Descartes' bedeutenden Schülern zu großer und charaktervoller Entfaltung gekommen waren, wurden nun in die Sprache der empirischen Psychologie übersetzt und so für das gemeine Bewußtsein zurechtgelegt.

In diesem Zusammenhange aber kam der in der gesamten neueren Philosophie angelegte und besonders in England (Hobbes) gepflegte Terminismus zu siegreichem Durchbruch: die qualitative Sonderung des Bewußtseinsinhaltes und der Bewußtseinsformen von der »Außenwelt«, auf die sie sich doch allein beziehen sollten, wurde Schritt für Schritt weiter und tiefer und schließlich bis zu der äußersten Konsequenz in Humes Positivismus geführt. Der wissenschaftlichen Auflösung, welche damit die Metaphysik erfuhr, entsprach dann in der Folge wieder eine populär praktische und anspruchsvoll bescheidene Abwendung von aller feineren Begriffsarbeit oder ein und so ausdrücklicheres Bekenntnis zu den Wahrheiten des gesunden Menschenverstandes.

Was dabei von metaphysischem Interesse in der Aufklärungsliteratur[375] lebendig blieb, heftete sich an das religiöse Bewußtsein und an diejenigen Bestrebungen, welche über den Streit der Konfessionen hinaus zu einer allgemeinen und rationalen Ueberzeugung zu gelangen hofften. In dem Deismus, der aus dem englischen Freidenkertum sich über Europa verbreitete, konzentrierten sich die positiven Welt- und Lebensansichten der Aufklärungszeit, und wenn diese Ueberzeugungen anfangs sich aus dem Zusammenhange der naturwissenschaftlichen Metaphysik des vorigen Jahrhunderts entwickelten und infolgedessen den Problemen der Teleologie ein besonders lebhaftes Interesse zuwandten, so verschoben sie sich mit der Zeit immer mehr aus dem metaphysischen auf das moralische, aus dem theoretischen auf das praktische Gebiet.

Quelle:
Wilhelm Windelband: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie. Tübingen 61912, S. 374-376.
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