2. Überlieferung der Lehre vom [87] Sinn

Kui, der Meister vom Süden, befragte den Frauenarzt und sprach: »Ihr seid alt an Jahren, und doch ist Euer Aussehen wie das eines Kindes.« Jener sprach: »Ich habe den SINN vernommen.«[87]

Kui sprach: »Ist der SINN etwas, das man durch Lernen erlangen kann?« Jener sprach: »Nein, wie sollte das möglich sein! Ihr seid nicht der Mann dazu. Da ist Sorglos Gratewohl, der hat die Gaben eines Berufenen, aber nicht den SINN des Berufenen. Ich verstehe den SINN des Berufenen, habe aber nicht die Gaben dazu. Ihn möchte ich belehren; da wäre vielleicht zu hoffen, daß er ein Berufener würde. Aber auch abgesehen davon: Es ist leicht, den SINN des Berufenen einem Manne kundzutun, der die entsprechende Begabung hat. Wenn ich ihn bei mir hätte zur Belehrung, nach drei Tagen sollte er so weit sein, die Welt überwunden zu haben. Nachdem er die Welt überwunden, wollte ich ihn in sieben Tagen so weit bringen, daß er außerhalb des Gegensatzes von Subjekt und Objekt stünde. Nach abermals neun Tagen wollte ich ihn so weit bringen, daß er das Leben überwunden hätte. Nach Überwindung des Lebens könnte er klar sein wie der Morgen, und in dieser Morgenklarheit könnte er den Einzigen sehen. Wenn er den Einzigen erblickte, so gäbe es für ihn keine Vergangenheit und Gegenwart mehr; jenseits der Zeit könnte er eingehen in das Gebiet, wo es keinen Tod und keine Geburt mehr gibt. Das, was den Tod des Lebens herbeiführt, ist selbst dem Tod nicht unterworfen; das, was das Leben erzeugt, wird selbst nicht geboren. Es ist ein Wesen, das alle Dinge begleitet, das alle Dinge empfängt, das alle Dinge zerstört, das alle Dinge vollendet. Sein Name heißt: Ruhe im Streit. Ruhe im Streit bedeutet, daß er durch den Streit zur Vollendung kommt.« Kui sprach: »Woher habt Ihr das nur gehört?«

Jener sprach: »Ich habe es gehört vom Sohne des Schriftstellers; der Sohn des Schriftstellers hat es gehört vom Enkel des Rhapsoden; der Enkel des Rhapsoden hat es gehört von Klarblick; Klarblick hat es gehört vom Hörenden; der Hörende hat es gehört vom Ton; Ton hat es gehört vom Laut; Laut hat es gehört vom Geheimnis; Geheimnis hat es gehört von der Leere; Leere hat es gehört vom Jenseits.«

Quelle:
Dschuang Dsï: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Düsseldorf/Köln 1972, S. 87-88.
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