5. Angesichts des Todes

[92] Yen Hui befragte den Kung Dsï und sprach: »Dem Mong Sun Tsai war seine Mutter gestorben. Er weinte wohl, aber seine Tränen strömten nicht reichlich. Im innersten Herzen war er nicht angegriffen, und er erfüllte die Trauerbräuche ohne Klage. Und doch gilt er im Staate Lu für den, der sich am besten aufs Trauern versteht.«

Kung Dsï sprach: »Mong Sun Tsai hat das Rechte getroffen. Er war vorgeschritten in seinem Wissen. So suchte er von den (äußeren Zeichen der Trauer) loszukommen, aber er konnte es nicht (um der andern willen); doch lag schon darin ein Loskommen. Er kennt keinen zureichenden Grund für das Leben und kennt keinen zureichenden Grund für das Sterben; darum weiß er nicht, ob es besser ist, sich der Vergangenheit zuzuwenden oder der Zukunft. So läßt er die Wandlung, durch die die Erscheinungen hervorgebracht werden, an sich vorübergehen im Bewußtsein dessen, daß diese Wandlung unerkennbar ist. Wenn es aussieht, als werde sich[92] etwas wandeln: woher kann man wissen, ob es nicht in der Tat sich nicht wandelt; wenn es aussieht, als wolle sich etwas nicht wandeln: wie kann man wissen ob es in der Tat nicht schon in Wandlung begriffen ist? Sind nicht vielleicht gerade ich und du in einem Traum befangen, von dem wir noch nicht erwacht sind? Jener zeigt äußere Trauer, während er im Herzen unberührt bleibt. Für ihn gibt es nur (den Aufbruch) aus einer Morgenhütte, kein wirkliches Sterben. Mong Sun ist erwacht. Wenn die andern weinen, so weint er mit. Das ist der Grund, warum er sich so benimmt. Außerdem, was wir gegenseitig als unser Ich bezeichnen: wer weiß denn, was das ist, das wir unser Ich nennen? Würdest du träumen, du seiest ein Vogel und flögst am Himmel, würdest du träumen, du seist ein Fisch und schwämmest in der Tiefe: du würdest nicht wissen, ob das, was wir jetzt miteinander reden, im Traum oder im Wachen geredet war. Wem der große Schritt gelungen, dessen Freude tut sich nicht mehr äußerlich kund; wer seine Freude noch äußerlich zeigt, der ist nicht durchgedrungen zu jenen Ordnungen. Wer sich beruhigt bei jenen Ordnungen und dem Wandel entronnen ist, der geht ein in das grenzenlose All.«

Quelle:
Dschuang Dsï: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Düsseldorf/Köln 1972, S. 92-93.
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