1. Der Meister ohne Worte

[217] Tiën Dsï Fang war am Hofe des Fürsten Wen von We und zitierte häufig den Ki Gung.

Fürst Wen sprach: »Ist Ki Gung Euer Lehrer?«

Dsï Fang sprach: »Nein, er ist ein Nachbar von mir. Er redete über den SINN häufig ganz richtig; darum zitiere ich ihn.«

Fürst Wen sprach: »Habt Ihr denn keinen Lehrer gehabt?«

Dsï Fang sprach: »O ja.«

»Und wer war Euer Lehrer?«

Dsï Fang sprach: »Meister Schun von Ostweiler.«

Fürst Wen sprach: »Wie kommt es dann, daß Ihr den noch nie zitiert habt?« Dsï Fang sprach: »Er ist ein Mann, der das wahre Wesen erreicht hat. Dem Äußeren nach ein Mensch, in Wirklichkeit wie der Himmel. Er paßt sich in Freiheit der Welt an und verhüllt doch sein wahres Wesen. Er ist rein und läßt doch alle Geschöpfe gewähren. Fehlt den Geschöpfen der rechte SINN, so ist er vorbildlich in seinem Benehmen, um sie dadurch zu erwecken. Er macht, daß der Menschen eigene Gedanken verschwinden. Aber man kann keines seiner Worte auswählen, um es zu zitieren.«

Als Dsï Fang hinausgegangen war, da saß der Fürst Wen[218] einen ganzen Tag lang in sprachloser Erstarrung. Dann berief er einen der umstehenden Räte vor sich und sprach zu ihm: »Wie weit ist uns doch ein Mann, der völliges LEBEN besitzt, überlegen! Ich hielt es bisher für das Höchste, zu reden die Worte heiliger Weisheit und zu wirken die Werke der Liebe und Pflicht. Aber nun ich von Dsï Fang's Meister gehört habe, ist mein Körper schlaff und mag sich nicht mehr rühren, mein Mund verschlossen und mag nicht mehr reden. Was ich gelernt habe, ist in Wirklichkeit nur Staub und Erde. Mein Land We ist in Wirklichkeit nur eine Belastung für mich.«

Quelle:
Dschuang Dsï: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Düsseldorf/Köln 1972, S. 217-219.
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