Auswanderung

[129] Die A. wird unternommen von einem ganzen Volke oder einem Teile eines solchen (Massenwanderung) oder von einzelnen Personen oder Familien (Einzelwanderung), und zwar geschieht sie gewaltsam oder freiwillig und dann namentlich aus polit., religiösen oder wirtschaftlichen Gründen. In den ältesten Zeiten erscheint die Massenauswanderung in Gestalt von Eroberungszügen ganzer Völkerschaften oder als staatliche Kolonisation (z. B.) der phöniz. und griech. Städte). Beispiele zwangsweiser Versetzung nach neuen Wohnsitzen bietet in vorchristl. Zeit das Geschick der Bewohner von Israel und Juda, ferner die große Völkerwanderung am Anfang des Mittelalters, im 16. und im Anfang des 17. Jahrh. die Vertreibung der Mauern aus Spanien, im 19. Jahrh. die Vertreibung des Indianerstammes der Seminolen aus Florida und der Cherokees aus Georgia sowie die Verbrecherkolonie.

Aus politischen Gründen geschahen die Wanderungen (das Trekken) der Buren in Südafrika und die A. der Tscherkessen, Religiöse Gründe veranlaßten im 17. Jahrh. die Ansiedelung der engl. Independenten und Puritaner in den Neuengland-Staaten und die A. der franz. Protestanten infolge des Edikts von Nantes nach Deutschland (1685), im 18. Jahrh. die A. der Salzburger Protestanten und in neuester Zeit die der Mennoniten nach Amerika. Gegenwärtig überwiegen die Gründe wirtschaftlicher und sozialer Natur: Übervölkerung, ungenügender Bodenertrag, geringe Arbeitslöhne etc. dementsprechend richtet sich im allgemeinen der Strom der Auswanderer aus den Ländern mit hoch entwickelter Kultur nach den Gebieten mit reichen, aber noch unerschlossenen natürlichen Hilfsquellen, unter denen unter andern auch die Golddistrikte (Kalifornien, Australien, Südafrika, Klondyke) große Anziehung ausüben.

Die Statistik der A. läßt sich für kein Land mit genügender Vollständigkeit und Zuverlässigkeit aufstellen, doch reichen die vorhanden Angaben aus, um ein Bild von der Bedeutung der A. zu geben. Aus Deutschland wanderten nach überseeischen Ländern von 1851-90 mindestens 3.100.000 Personen, seit Anfang der zwanziger Jahre etwa 4.700.000 Personen aus, hauptsächlich über Bremen und Hamburg; dazu kommen noch sonstige deutsche sowie belg. (Antwerpen), hölland. und franz. Häfen. Seit ihrem Höhepunkt in den J. 1880-82. (221.000) ist die A. mit kleinen Schwankungen bis 1892 allmählich und von da an rasch gesunken. In den J. 1871-90 wanderten 95,5 Proz. allein nach den Ver. Staaten von Amerika aus, 2 Proz. nach Brasilien, 1,2 Proz. nach andern Teilen von Amerika, 0,9 Proz. nach Australien, 0,3 nach Afrika und 0,1 nach Asien. Wie die einzelnen Teile des Reichs ungleich betroffen werden, sind auch die Altersklassen verschieden stark beteiligt, am stärksten jene von 21-30 Jahren, also gerade die in den besten Lebensjahren stehende Bevölkerung, und zwar die männliche mehr als die weibliche; so waren unter den Auswanderern des J. 1903: 58 Proz., unter der Gesamtbevölkerung dagegen nur 49 Proz. männlichen Geschlechts. Ein sicheres Urteil über die Frage nach den Berufsverhältnissen der Auswanderer lassen die bisherigen statist. Ermittelungen nicht zu. Im Frühjahr pflegt die A. am stärksten, im Winter am schwächsten zu sein.

Die A. aus Großbritannien und Irland nach außereurop. Ländern war bis 1815 außerordentlich gering. Seitdem ist sie, von einigen Schwankungen abgesehen, dauernd gestiegen und erreichte in den vierziger und fünfziger Jahren des 19. Jahrh. eine bedeutende Höhe. Trotz des ausgedehnten engl. Kolonialbesitzes wenden sich etwa zwei Drittel aller Auswanderer nach den Ver. Staaten von Amerika. Die in der umstehenden Übersicht angegebenen Zahlen beziehen sich nur auf die ausgewanderten Engländer, Schotten und Irländer (ausschließlich der Ausländer); die Gesamtauswanderung ist um etwa 50 Proz. höher. Unter der Gesamtzahl der 1853-1902 ausgewanderten brit. und irischen Auswanderern von 9.242.133 waren 4.923.714 Engländer, 943.545 Schotten und 3.374.874 Irländer. Dem Verlust durch A. steht überdies ein nicht geringer Gewinn durch Einwanderung gegenüber, der das Endergebnis erheblich günstiger für das Land erscheinen läßt. So betrug 1898 der Wanderungsverlust gegenüber der Gesamtauswanderung 74.825 Personen.

Bedeutend ist auch die A. aus Italien, namentlich wenn man die von der ital. Statistik unterschiedene »zeitweilige« A. hinzurechnet. Zu letzterer werden diejenigen Auswanderer gerechnet, welche bei Entnahme eine Passes erklären, daß sie vor Ablauf eines Jahres zurückzukehren gedenken. Hierher gehören namentlich die Auswanderer, die bei Eisenbahnbauten, Straßenanlagen etc. in europ. Ländern Beschäftigung suchen. Die Zahlen für dauernde und zeitweilige A. fallen ziemlich genau zusammen mit der Unterscheidung nach außereurop. und europ. Ländern. Der Hauptform der überseeischen A. fließt nach Südamerika. Im J. 1901 kamen 47 Proz. der Auswanderer auf Europa, 16 auf Brasilien, 11 auf die La-Plata-, 23 Proz. auf die Ver. Staaten.

Die A. aus Schweden und Norwegen richtet sich ebenso wie die aus Dänemark fast ausschließlich nach Nordamerika. Sie betrug durchschnittlich jährlich aus Schweden 1856-60: 831, 1861-65: 3963, 1866-70: 20.526, 1871-75: 12.893, 1876-80: 17.160, 1881-85: 34.966, 1886-90: 40.314, 1891-95: 28.378, dagegen 1896-1900 nur noch 12.527; 1900 (16.434) ist wieder eine Steigerung eingetreten. Die Durchschnittszahlen für Norwegen betrugen 1836-45: 620, 1846-55: 3227, 1856-65: 4500, 1866-70: 15.593, 1871-75: 10.166, 1876-80: 9156, 1881-85: 22.454, 1886-90: 16.197, 1891-95: 12.203, 1896-1900: 6767, 1900: 12.747; für Dänemark 1876-80: 5045, 1881-85: 11.145, 1886-90: 9892, 1891-95: 7334, 1896-1900: 2769.

Das Ziel der schweizerischen A. sind überwiegend die Ver. Staaten (1881-85: 10.718, 1886-90: 7678, 1891-95: 5539, 1896-1900: 2487), das der niederländischen die Kolonien zu einem und das Ausland (Ver. Staaten) zu drei Viertel. In Belgien wird der Auswanderungsverlust (1901: 19.710) durch die Einwanderung (29.138) mehr als gedeckt. Ziel der A. ist besonders Frankreich, der überseeischen A. die Ver. Staaten.

Merkwürdig gering ist die Beteiligung an der überseeischen A. in Frankreich. Sie betrug durchschnittlich jährlich 1861-65: 6106, 1866-70: 6141, 1871-75: 8325, 1876-80: 2974, 1881-85: 5098, 1886-90: 18.667, 1889: 31.354 (die höchste bisher erreichte Ziffer), 1891-94: 5583. Die A. wird durch Einwanderung bei weitem ersetzt. Auch Österreich-Ungarn hat nur eine schwache überseeische A., die meist über deutsche Häfen geht und sich nach den Ver. Staaten von Amerika (1902: 67.622 Österreicher, 68.421 Ungarn) richtet.

Aus Spanien wanderten aus 1890: 65.860, 1891: 68.037, 1892: 66.406, 1893: 76.526, 1895: 121.166, 1898: 59.543, 1900: 63.020, 1901: 56.901 Personen; Hauptziel war Kuba; doch wird die span. A. durch Fremdenzufluß (1895-97: 206.790 gegen 260.967) beinahe ersetzt. Die Angaben über die A. aus Portugal sind wenig zuverlässig, da sie auf Grund Auslandspässe gemacht worden sind (1872-80: 13.350, 1881-90: 18.972, 1891-95: 31.340, 1896-1900: 22.224); Ziel der A. ist vorwiegend Brasilien.

In Rußland ist die Stärke der eigentlichen A. nicht zu beziffern, da die Auswanderer von den einfachen Reisenden nicht unterschieden werden. Seit einigen Jahren findet eine sehr starke A. aus dem europ. Rußland nach Sibirien statt (1887-97: 842.355, 1901: 128.131). Die von 1894 ab in der Übersicht angegebenen Zahlen beziehen sich auf die A. aus dem europ. Rußland über deutsche Häfen, die sich größtenteils nach den Ver. Staaten (1887-91: 55.524, 1892-96: 56.969, 1897-1901: 60.386) richtet.

Die Auswanderung aus europ. Staaten 1871-1904.

Auswanderung. Die Auswanderung aus europ. Staaten 1871-1904.
Auswanderung. Die Auswanderung aus europ. Staaten 1871-1904.

Die Stärke der A. aus den einzelnen Kulturländern ist somit sehr verschieden. Z. B. entfielen in den Jahren sehr starker A. 1881-85 auf 1000 E. des betr. Staates Auswanderer nach überseeischen Ländern in Irland 15,4, Norwegen 12,4, Schweden 7,7 Schottland 7,2 England 5,9, Dänemark 5,6 den Niederlanden 3,8, der Schweiz 3,7, dem Deutschen Reich 3,6, Italien 2,9, Frankreich 0,1.

Auch in bezug auf das Ziel der A. zeigen die einzelnen Staaten gewisse Eigentümlichkeiten. Aus den german. und slaw. Staaten sowie aus Belgien und Ungarn wenden sich die A. ausschließlich oder doch zum größten Teil nach den Ver. Staaten von Amerika; nur für Großbritannien kommen daneben noch dessen Kolonien in Betracht. Die roman. Staaten bevorzugen Südamerika, Westindien und Nordafrika. Für die Vereinigten Staaten von Amerika, das Hauptziel der A. überhaupt, liefert die Statistik folgende Zahlen über die gesamte Einwanderung in den J. 1821-1903:

Auswanderung. Gesamte Einwanderung in den J. 1821-1903
Auswanderung. Gesamte Einwanderung in den J. 1821-1903

In den letzten Jahren betrug die Zahl der in die Ver. Staaten eingewanderten Europäer in Tausenden:

Auswanderung. In die Ver. Staaten eingewanderte Europäer in Tausenden in den Jahren 1890-1903
Auswanderung. In die Ver. Staaten eingewanderte Europäer in Tausenden in den Jahren 1890-1903

Den Ver. Staaten am nächsten kommt Australien, dessen Einwanderung aber fortwährend zurückgeht; 1890 betrug der Überschuß der Einwanderung über die A. 51.804, 1903 nur noch 15.895 Personen. In Argentinien schwankt die überseeische Einwanderung sehr; sie betrug 1890: 77.815, 1891: 28.266, 1892: 39.993, 1893: 52.067, 1894: 54.720, 1902: 96.080, 1903: 75.227 Personen. Das Hauptkontingent stellt Italien, dann folgt in weitem Abstande Spanien, dann Frankreich. Ebenso ist das Verhältnis in Uruguay (1894: 11.875, 1903: 7268 Einwanderer), während in Brasilien (1894: 63.294, 1899: 85.130, 1902: 40.794) zwischen Italiener und Spanier sich die Portugiesen einschieben und zuletzt die Deutschen kommen.[129]

Quelle:
Brockhaus' Kleines Konversations-Lexikon, fünfte Auflage, Band 1. Leipzig 1911., S. 129-130.
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