15. Brief.

[93] Lieber Wilhelm!


So wie jene Uebereinstimmung Deines Anzugs mit Deinem Alter, Stande und der Mode einen gefälligen Anstand hervorbringt, so hat sie auch diese schöne Wirkung, wenn Du sie auf Deine ganze übrige Lebensweise überträgst und beobachtest.

Jedes Alter, jeder Stand, jede Lage des Lebens, jedes Geschäft hat einen gewissen Charakter des Anstandes, dem man getreu seyn muß. Verläßt man ihn und tritt aus dessen Gränzen heraus, so macht man sich lächerlich und verächtlich. [93] Der unterscheidende Charakter des Anstandes bey jungen Leuten, zum Beyspiel, ist ein ganz besonderes, bescheidenes, zurückhaltendes, ehrerbietiges und gefälliges Betragen gegen Aeltere und Höhere. Handelt aber der eitle, selbstsüchtige, von sich eingenommene Jüngling nicht diesem Charakter gerade entgegen, welcher mit einer Miene von Wichtigkeit in die Gesellschaft eintritt, alle Anwesende mit einem stolzen Blicke mißt, sich nachlässig in den Stuhl wirft, die Unterredung unterbricht, widerspricht, jede Sache besser weiß, über alles schneidend abspricht, den Ton angibt, das Gespräch auf sich, seine Talente und Vorzüge, seine glänzenden Bekanntschaften und Verbindungen lenkt, und, wenn er nun damit fertig ist, auf einmal verstummt, sich mit sich beschäftiget, die Andern und deren Gespräch keiner Aufmerksamkeit würdiget, oder sie mit Unverschämtheit, mit höhnischer Miene fixirt, und dann sich plötzlich entfernt? Welche höchst unangenehmen, widerlichen Empfindungen erwecken gegen sich so viele junge Frauenzimmer der gegenwärtigen Zeit, welche, indem sie sich von der ehemaligen großmütterlichen Steifheit und Blödigkeit, und pretidsen Ziererey entfernt halten [94] wollen, aus Mangel von Bildung in das andere Extrem fallen, und ohne Zartgefühl, ohne jene sanfte, bescheidene und ihrer Natur so gemäße Zurückhaltung und ohne jene gelassene, von Leidenschaften entfernte Sittsamkeit, die von der Weiblichkeit, wenn sie schön und liebenswürdig bleiben soll, ganz unzertrennlich ist, sich überall auf den Ton des Leichtsinns, der Fahrlässigkeit, der Familiarität setzen, vorlaut, mit Hastigkeit geschwätzig und mit dreister, der Gesellschaft gleichsam Trotz bietender Miene entscheidend, zudringlich sind, hell aufschreyen und laut auflachen, mit fast jungenhaften Manieren kek herumschwanken, und überhaupt einen Ton haben, wobey die weibliche Grazie und Würde ganz vernachlässiget wird, und welcher die jungen Mannspersonen verleitet, die ohnedieß nach dem gegenwärtigen Geiste der Zeit verminderte Aufmerksamkeit und Achtung gegen das weibliche Geschlecht ganz aus den Augen zu setzen! Ist es nicht ferner ein lächerlicher Uebelstand, wenn junge Personen sich die Gemächlichkeiten und Freyheiten erlauben wollen, zu denen nur das Alter berechtiget ist; wenn Personen von gesetzten Jahren sich jene lustigen Unterhaltungen und oft läppischen [95] Spiele nicht versagen, die man nur der Jugend verzeiht; wenn Männer so viel ängstliche Sorge und Zeit auf ihren Anzug wenden, als Frauenzimmer; wenn Männer und Weiber noch tanzen und ihren Söhnen und Töchtern, wohl gar ihren Enkeln die Plätze wegnehmen; wenn nicht mehr junge Weiber noch jene kleinen Künste der Eitelkeit anwenden, um zu gefallen, anstatt daß sie, da nun Schönheit und Jugend vorüber sind, diese Absicht nur durch angenehme Talente und Eigenschaften des Geistes und Herzens, die nie ihren Reiz verlieren, erreichen sollten; wenn öffentliche Beamte unwürdige Nebengeschäfte treiben; wenn Männer, die ihre bestimmten Geschäfte haben, oder sich doch männliche Geschäfte machen können, die kleine weibliche Hauswirthschaft besorgen, und wenn hingegen Weiber sich die männlichen Geschäfte anmaßen, wenn sie den Minister, den Präsident, den Gerichtsherrn machen, wenn sie das Regiment kommandiren wollen, oder sich auch nur erlauben, den geringsten Einfluß auf die Geschäfte und Angelegenheiten des Mannes zu erkennen, zu geben; wenn Personen der niedern Stände sich die sogenannten Airs der höhern geben wollen und einen lächerlichen Contrast von Größe und Kleinheit [96] aufstellen, oder wenn die Höhern bey ihrem Tone von Größe, Ueberfluß und Luxus überall etwas Aermliches, Kärgliches und Kleinliches durchblicken lassen etc.?

Gesunder, ausgebildeter Verstand, ein zartes Gefühl des Schicklichen, ein richtiger Geschmack für das Wahre, Schätzungswerthe in der menschlichen Gesellschaft und Achtung gegen die einmal hergebrachten, obgleich oft willkührlichen Gewohnheiten und Sitten in jedem Verhältnisse, werden Dich vor dergleichen Uebelstande sichern und in Deine ganze Lebensweise in Absicht der Geschäfte, die Du unter Dir hast, der Art und Weise sie zu verrichten, der Art Deiner Nebenbeschäftigungen, Zerstreuungen und Vergnügungen, Deiner Wohnung und deren Einrichtung, Deines Aufwandes, jene edle Harmonie bringen, die alles dieses zu einem schönen, angenehmen und gefälligen Ganzen macht. –


[97] ** den 7. Sept. 1802.


Quelle:
[Anonym]: Briefe über die Höflichkeit und den Anstand oder die feine Lebensart. Leipzig 1804, S. 93-98.
Lizenz: