23. Brief.

[137] Lieber Wilhelm.


Gebildete Menschen sehen und besuchen einander, nicht bloß der Geschäfte wegen, sondern auch zur Erholung von den vollendeten Geschäften. Sie fühlen das Bedürfniß, sich Andern mitzutheilen, ihre Gedanken, Meinungen, Empfindungen und Wünsche mit den ihrigen zu tauschen und durch diesen Tausch ihre Bildung so wie ihr Vergnügen zu vermehren. Sie haben es daher zur Sitte gemacht, sich einander öfters zu sehen und zu besuchen. Die nähern Verhältnisse der Verwandtschaft, des Amtes, des Standes, des Orts, veranlassen diese Besuche, und machen sie in vielen Fällen zur Pflicht.

[137] Diese Pflicht wirst Du, lieber Neffe, in Deinen Verhältnissen sehr gerne ausüben. Nur empfehle ich Dir hierbey die nöthige Vorsicht und Einschränkung. Alles Gute liegt in der Mitte, von beyden Extremen gleichweit entfernt. So wie ich einerseits von Deinem Fleiße und Deiner Ordnungsliebe erwarten kann, daß Du nie auf Kosten und mit Vernachlässigung Deiner häuslichen und öffentlichen Geschäfte Gesellschaft suchen und Besuche machen wirst, wozu junge Leute sich sehr leicht durch ihre Bekanntschaften, zumal in Häusern, wo sie sehr willkommen sind, verleiten lassen, und hierbey wohl sehr angenehme Gesellschafter, aber sehr schlechte, unzuverlässige Geschäftsmänner werden: so darf ich andrerseits auch nicht fürchten, daß Du Deine guten und für Dich in so vieler Rücksicht vortheilhaften Verbindungen, durch zu seltene Besuche, zum Nachtheil Deiner Bildung und Deiner äußern Verhältnisse, aus Blödigkeit oder Trägheit, oder Stolz und Geringschätzung vernachlässigen wirst. Es ist keine Zeit, die von den Geschäften übrig ist, besser angewandt, als in der Gesellschaft guter, edler, gebildeter Menschen. Arbeitsamkeit und gewissenhafte Ausübung der Berufspflichten [138] auf der einen und Umgang mit solchen Menschen auf der andern Seite, sind die besten Mittel zur Weisheit und Tugend und die sichersten Schutzwehren vor allen Abwegen zu Thorheiten und Lastern.

Du wirst daher hier die rechte Mittelstraße wählen und beydes klüglich vereinigen. Sind Deine Geschäfte vollkommen besorgt und vollendet, so wirst Du die Gesellschaft jener guten, und immer der besten Menschen suchen. Du wirst Höhere und Vorgesetzte aus Ehrerbietung besuchen, mehr oder weniger, je nachdem Du weißt, daß sie es mehr oder weniger wünschen; Deine Freunde und Verwandte und diejenigen, mit welchen Du sonst in nähern Verbindungen stehest, wirst Du öfters sehen, um ihnen Deine Liebe, Achtung und Anhänglichkeit zu beweisen, und Niedere, bisweilen, zur Bezeigung Deiner Zufriedenheit.

In jeder Gesellschaft, die Du besuchest, wirst Du zuverlässig gefallen, wenn Du folgende zwey Hauptregeln beobachtest.

[139] Erstlich tritt in sie ein mit Achtung und Wohlwollen gegen einen Jeden und mit einem sichtbaren Vergnügen, das Dir die Gesellschaft gewährt. Wenn Du zeigest, wie wichtig, wie schätzbar Dir die Gesellschaft ist, wie viel Interesse sie für Dich hat, und ein Jeder, der in derselben ist, wenn Du erscheinst mit einem natürlichen, gefälligen Anstande, mit einem frohen, offenen Muthe, mit einer bescheidenen Zuversicht, ohne Schüchternheit und Verlegenheit, mit jener ruhigen, gelassenen, milden Gemüthsstimmung, die so liebenswürdig ist; wenn Du den Vorsatz mitbringst, und das Bestreben zeigst, mit Aufmerksamkeit gegen Jeden, an der Unterhaltung, an den Vergnügungen Theil zu nehmen, und mit zuvorkommender Gefälligkeit das Deinige hiezu beyzutragen: so kannst Du sicher darauf rechnen, daß Du angenehm seyn wirst. Diejenigen können nie gefallen, welche mit Gleichgültigkeit, mit Geringschätzung, mit übler Laune, mit Mismuth, mit einem geheimnißvollen, zweydeutigen Wesen kommen; sie beleidigen und entfernen Andere von sich. Es gibt gewisse junge Leute, die mit keiner Gesellschaft zufrieden sind, oder Unzufriedenheit und [140] Gleichgültigkeit affectiren, ersteres, weil sie schon übersättiget sind, und nirgends mehr Vergnügen finden, und letzteres aus einem sehr thörichten Stolze. Sie sind nie bey der Unterhaltung, nehmen immer andere Dinge vor, lesen Briefe, spielen mit ihrer Uhr, sehen sich nach Dingen im Zimmer um, gähnen, brummen eine Melodie, machen Geräusche mit den Füßen, treten in das Fenster und sehen auf die Straße etc: Man läßt sie gehen und bedauert sie.

So wie ich Dir schon gesagt habe, daß, um Jedem zu gefallen, es nöthig sey, sich ihm zu verähnlichen, solst diese Verähnlichung auch ganz besonders nöthig in einer Gesellschaft, in der Du Dich befindest. Du wirst Dich in ihre Gedenkungsart und Handlungsweise, in ihren Geist und Geschmack, in ihre Sitten hineinzusetzen, und ihren Ton anzunehmen wissen. Eine jede Gesellschaft erfordert einen eigenen Ton, ein eigenes Benehmen. Hier ist Scherz, dort Ernst, hier Trockenheit, dort Laune an ihrem Platze; hier spricht man von seinen Vergnügungen, von lustigen Dingen, dort von ernsthaftern, von Politik, von Oekonomie, [141] von Geschäften; hier ist man mit Ministern, dort mit Offizieren, hier mit Philosophen, dort mit Frauenzimmern.

Bist Du mit Höhern und Vorgesetzten, so handelst Du wie sie, nur ohne Anmaßung. Der Höhere darf mehr und zwangloser sprechen und urtheilen als Du, sich gewisse Freyheiten und Gemächlichkeiten erlauben, die Dir nicht zukommen. Bist Du mit Niedern, so bequeme Dich nach ihrer Handlungsweise; doch kannst Du das Lästige, Schwerfällige, das Umständliche und Ceremoniöse, aber unvermerkt und stillschweigend, absondern und weglassen. Sie umarmen sich, küssen sich, machen weitläuftige Komplimente, halten wortreiche Danksagungen etc.; alles dieß kannst Du abkürzen oder unterlassen, nur daß es nicht auffalle.

Uebrigens wirst Du jene kleinern, theils in der Natur der Höflichkeit und des Anstandes liegenden, theils conventionellen Regeln bey Deinen Besuchen um so weniger unterlassen, da manche Personen sehr viel Werth darauf legen. So begrüßt man die Frau und den Herrn vom [142] Hanse jederzeit zuerst und dann die Uebrigen, ohne dabey viel zu sprechen. Man küßt der Frau oder andern Damen nie die Hand, was so Viele thun, die nicht wissen, daß dieß nur bey den nächsten Verwandten erlaubt ist, oder dann, wenn man seine besondere Dankbarkeit für ein Geschenk oder eine Gefälligkeit einer Dame beweisen will. Man legt Hut und Stock oder Degen nicht ab bey kurzen Besuchen oder bey Höhern, oder in gemischter Gesellschaft nicht eher, als bis es die Höhern gethan haben. Man bittet wohl seines Gleichen oder Niedere, wenn sie unsertwegen aufstehen, sich zu setzen, aber nie Höhere, die sich setzen, wenn sie wollen, und man bleibt stehen, so lange sie stehen. Bey Höhern besonders beobachtet man wohl, wie lange sie wünschen, daß man bleiben soll. Man setzt sich ihnen nie zur Seite, sondern gegenüber, um ganz bereit zu seyn, sie zu hören und ihnen seine Aufmerksamkeit zu widmen. Ist die Gesellschaft zahlreich, so verlaßt man sie, ohne Abschied zu nehmen, um den Herrn und die Frau von Hause nicht zu belästigen. Besuchst Du aber einzelne Personen, so nimm kurz Abschied, und wenn der Wirth Dich begleitet, so [143] mache nicht tausend Verbeugungen, die Dir und ihm beschwerlich, oft gefährlich werden können. Begleitet Dich ein Höherer, so hindere ihn nicht daran; er weiß, was er thut, es könnte seyn, daß er nicht Deinetwegen das Zimmer verlassen wollte. Verbeuge Dich einmal und gehe dann Deinen Weg, ohne Dich umzusehen. Begleitet er Dich doch, zum Exempel auf dem Lande, bis in den Hof, und Du gehest zu Pferde oder im Wagen ab, so steige nicht eher auf oder ein, als bis er sich entfernt hat; bleibt er, so empfiehlst Du Dich und läßt den Wagen oder das Pferd fortführen; befiehlt er Dir aber auf- oder einzusteigen, so mußt Du gehorchen. So gibt es noch manche kleine Regeln, die Du durch den Umgang lernen wirst. Du wirst, zum Beyspiel, einen Vorgesetzten besuchen, wenn er verreist oder zurück kommt, um seine Befehle zu empfangen; Du wirf wissen, wenn er Dir seinen Besuch ankündigt, ob dieß blos ein Wink ist, daß Du zu ihm kommen sollst, wie es gemeiniglich ist, oder ob er Dich wirklich besuchen will. –

Empfängst Du Besuche, so behandle Deine Gesellschaft und einen Jeden so, [144] daß sie mit Dir und mit sich selbst zufrieden, Dich verlassen können. Schenke einem Jeden Deine Aufmerksamkeit und setze ihn in eine Lage, worin er sich gefällt. In Deinem Hause hat Jeder vor Dir den Vorzug und wärest Du auch sein Vorgesetzter. Laß den Höhern bey Dir handeln nach seinem Gefallen als wäre er Herr in Deinem Hause. Nöthige ihn nicht sich zu setzen, wenn er stehen will, nicht zu bleiben, wenn er gehen will, und gib ihm keine Aufträge mit. Verbittet er sich Drin Ehrenbezeigungen, so gehorche und mache keine lästigen Umstände. Ist er aber ein Freund von Cerimonien, so unterlasse keine einzige; gehe ihm mit dem Hute in der Hand bis zur Straße entgegen, führe ihn in Dein bestes Zimmer, setze Dich nicht vor ihm, empfange seine Befehle und befolge sie pünktlich. Kommt Deines Gleichen zu Dir, so bezeige ihm Freundlichkeit und Vergnügen über seine Gegen wart. Einen Niedern laß nicht lange im Vorzimmer warten, eine sehr üble Gewohnheit so mancher gar nicht vornehmer Personen, die sich gerne wichtig machen wollen; nimm ihn mit Sanftmuth an und behandle ihn mit Wohlwollen und Güte.

[145] Hast Du zahlreiche Gesellschaft bey Dir, so sorge zuvörderst dafür, daß bey der Bedienung alles so ordentlich, so ruhig und gelassen geschehe, als wenn Du und Dein Haus daran gewöhnt wäre. Der beste Beweis, daß in einem Hause wahrer Anstand herrscht, ist, wenn Alles in einer so stillen Ordnung fortgehet, daß Niemanden etwas auffällt, und keine besondere Bemühung wahrgenommen wird, Ordnung und Annehmlichkeit hervorzubringen und zu erhalten. Wenn aber die Fremden bemerken müssen, daß Herr und Frau und Domestiken hin und her laufen, Geräusche machen, die Gäste warten lassen, alles ungeschickt vornehmen, wenn Herr und Frau immer Verweise geben und die Fremden um Vergebung bitten müssen, so zeigt dieß alles von einer sehr schlechten Einrichtung und setzt die Fremden in sehr unangenehme Lagen.

Der Höchste muß Deine vorzügliche Aufmerksamkeit haben; daher kannst Du ihn nie verlassen, um einen Niedern zu empfangen oder zu begleiten; diesen aber mußt Du verlassen, um den Höhern durch den Empfang oder die Begleitung auszuzeichnen. Eben dieß gilt von [146] den Damen, die jederzeit höher sind, als alle Herren.

Ist ein Unbekannter in Deiner Gesellschaft, so mache ihn mit den Andern bekannt, damit er frey und ungezwungen handeln kann. Ich war einst im Cirkel einer Familie, wo nicht nur die meisten Mitglieder mir unbekannt blieben, sondern auch von lauter Familienangelegenheiten und Anekdoten gesprochen wurde, die ich nicht verstand und zu denen ich kein Wort sagen konnte, dieß war eben so unhöflich, als wenn man in einer Gesellschaft französisch spricht, in welcher es nicht jedes Mitglied verstehet. –


[147] ** den 2. Nov. 1802.


Quelle:
[Anonym]: Briefe über die Höflichkeit und den Anstand oder die feine Lebensart. Leipzig 1804, S. 137-148.
Lizenz:

Buchempfehlung

Hoffmann von Fallersleben, August Heinrich

Deutsche Lieder aus der Schweiz

Deutsche Lieder aus der Schweiz

»In der jetzigen Zeit, nicht der Völkerwanderung nach Außen, sondern der Völkerregungen nach Innen, wo Welttheile einander bewegen und ein Land um das andre zum Vaterlande reift, wird auch der Dichter mit fortgezogen und wenigstens das Herz will mit schlagen helfen. Wahrlich! man kann nicht anders, und ich achte keinen Mann, der sich jetzo blos der Kunst zuwendet, ohne die Kunst selbst gegen die Zeit zu kehren.« schreibt Jean Paul in dem der Ausgabe vorangestellten Motto. Eines der rund einhundert Lieder, die Hoffmann von Fallersleben 1843 anonym herausgibt, wird zur deutschen Nationalhymne werden.

90 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon