6. Brief.

[37] Wenn Du, lieber Neffe, die Höflichkeit und den Anstand Dir im vollkommnen Grade erworben hast, so besitzest Du dann das, was man seine Sitten, seine Lebensart nennt. Du wirst daher, hoffe ich, schon jetzt einsehen, von welchem Umfange, von welcher Wichtigkeit diese ist. Es ist kein festliches Kleid, welches Du nur zu gewissen Zeiten anlegst, keine besondere Rolle, welche Du bey besondern Gelegenheiten spielst, es ist Dein ganzes geselliges Leben, in welchem Du erscheinst, Dein ganzer Umgang mit Andern in Geschäften und Vergnügungen, durch welchen Du zu jeder Zeit, in jedem Augenblicke gefällst, Dir den ersten Weg zu den Herzen Anderer öffnest, ihre Aufmerksamkeit auf Dich ziehest und Dir ihr Wohlwollen und Zuneigung erwirbst, noch ehe sie Deine Talente, [37] Kenntnisse, Tugenden und Verdienste kennen lernen, Dir nützliche und angenehme Bekanntschaften und Verbindungen machst, den ersten Grund Deines guten Rufs vielleicht Deines ganzen Glücks legest, Dir überhaupt Ruhe und Zufriedenheit erhältst, manche Freuden schaffest und viel Verdruß, Feindschaften, Haß und Verfolgungen von Dir entfernest.

Allein eben deswegen, weil Höflichkeit und Anstand so eine wichtige, weitumfassende Sache ist, so ist es nichts weniger, als leicht, dieselben sich eigen zu machen. Es erfordert ganz eigene, mit nicht geringen Schwierigkeiten verbundene Mittel, dieses Ziel zu erreichen. Ich werde Dich daher, lieber Wilhelm, mit den vorzüglichsten dieser Mittel zuerst bekannt machen, weil dann, wenn Du sie mit Fleiß und Eifer, mit gehöriger Einsicht anwendest, Dir nicht nur die Beobachtung der einzelnen Regeln der Höflichkeit und des Anstandes, davon ich Dir die wichtigsten angeben werde, sehr leicht fallen, sondern auch die Anweisung vieler dieser Regeln selbst überflüssig seyn wird.

[38] Das erste und vornehmste Mittel ist: Bilde Deinen Verstand zur Wahrheit im praktischen Leben, zur Kenntniß dessen, was wirklich gut, edel, schön und schätzenswerth ist, zur Beobachtung und richtigen Beurtheilung der Menschen, ihrer verschiedenen Charaktere, Neigungen und Leidenschaften und deren verschiedenen Aeußerungen, ihrer Handlungen und deren Bewegungsgründe, ihrer schwachen Seiten und besondern Verdienste, der allgemeinen und der besondern. Verhältnisse, in denen Du mit ihnen und sie unter einander flehen, hauptsächlich der verschiedenen Stände und Gesellschaften mit ihren eigenen Grundsätzen und Gewohnheiten, mit ihrem eigenen Gesellschafts- Zunft- und Familien-Geist, dem Geiste des Adels, des Militärs, der Gelehrten, der Kaufmannschaft, der Künstler und Handwerker, einem Geiste, welcher in mancher Rücksicht für die einzelnen Schwachen sein Gutes haben kann, aber doch sehr oft zu lächerlichen Vorurtheilen, zu einem ungerechten Stolze und zu leeren Täuschungen verleitet, die man kennen, oft übersehen und schonen muß, um nicht anzustoßen.

[39] Je feiner, geübter und richtiger dieser praktische Verstand ist, desto leichter wird Dir die Weltkenntniß werden, ohne welche die wahre seine Lebensart unmöglich ist.

Mit diesem gebildeten Verstande, mit dieser Kenntniß, mit welcher Du eine genaue Kenntniß Deiner selbst, Deiner Neigungen und Leidenschaften, Deiner Tugenden und Fehler verbinden mußt, um jederzeit mit Fassung und Besonnenheit, mit Selbstbeherrschung ohne alle Uebereilung handeln zu können, wirst Du überall, in jeder Lage, die Regeln der Höflichkeit und des Anstandes zu bestimmen wissen, welche Du, und die Art und Weise, wie Du sie zu beobachten hast. Ohne diesen Verstand und diese Kenntnisse wirst Du auch mit dem besten Willen immer Neuling, folglich blöde, furchtsam und verlegen seyn, oft das thun und sagen, was misfällt, unterlassen, was gefällt, Du wirst anstoßen und nicht selten lächerlich werden.

Suche Dir hierbey allgemein interessante und angenehme Kenntnisse zu erwerben. Ob es gleich immer Dein Hauptbestreben [40] seyn muß, Dir diejenigen Kenntnisse, welche Deine öffentliche Bestimmung erfordert, mit der möglichsten Gründlichkeit und in der höchsten Vollkommenheit zu verschaffen, um sie in den Dir einst anzuvertrauenden Geschäften mit dem besten Erfolge üben zu können: so ist es doch für einen Jüngling, der unter allerley Menschen, zumal unter den gebildeten Ständen leben soll und zu ihnen gehört, höchst nöthig und nützlich, und bey einem sorgfältigen Gebrauche der Zeit auch sehr möglich, sich mit jenen Kenntnissen der lebenden Sprachen, der Naturlehre und Naturgeschichte, der Erd- und Völkerkunde, der Geschichte, zumal der neuern und der schönen Künste und Wissenschaften bekannt zu machen. Sie erwecken und schärfen das Gefühl für das Wahre, Gute und Schöne, bilden den Geschmack, klären den Geist auf, interessiren allgemein, und machen denjenigen, welcher sie besitzt, interessant und angenehm.

Besitzest Du sie, lieber Wilhelm, so wirst Du schon in den gewöhnlichen Gesellschaften, wo Du jedesmal Deinen Antheil zur Unterhaltung beytragen willst und sollst, nicht in der traurigen [41] Nothwendigkeit seyn, Armseligkeiten auf das Tapet zu bringen, vom Wetter und den Zeitungen zu schwatzen, von Prozessen, die Jedermann haßt, vom Rekrutiren und Exerciren, das Niemand liebt, von Steuern und Accise, die Niemand gerne bezahlt, von Krankheiten, die Jedermann scheut, oder gar Deine Kanzel aufzuschlagen und vom Verderben der Zeiten zu predigen; vielmehr wirst Du im Stande seyn, sowohl an jedem Gespräche über allgemein interessante Dinge Antheil zu nehmen, es zu unterhalten und fortzuführen, als auch Gegenstände nach dem Geschmacke der Gesellschaft und der einzelnen Mitglieder in die Unterhaltung zu bringen, die allgemein gefallen: Du wirst an jeden Faden auch der gemeinsten Unterhaltung Perlen zu reihen wissen, die ihr Reiz und Werth geben.

Fahre daher fort, Dich mit jenen allgemeinen Kenntnissen, welche den menschlichen Geist nähren und bilden, und deren Niemand, welcher sich zu den gebildeten Ständen rechnet, entbehren kann, immer bekannter zu machen.

Insbesondere lerne Deine Muttersprache vollkommen richtig und gut sprechen und schreiben, und [42] Dir ihre Reinheit, Bestimmtheit, Klarheit und Geschmeidigkeit, durch die fleißige Lesung der klassischen Werke eines Lessing, Weiße, Garve, Engel und Wieland, eigen machen. Aus des letztern Schriften wirst Du besonders mit der leichten und geschmeidigen Conversationssprache bekannt werden.

Mit der deutschen Sprache verbinde die französische, welche Du eben so gut, eben so vollkommen zu erlernen nöthig hast. Es ist die allgemeine Gesellschaftssprache in ganz Europa, die Jeder sprechen und schreiben muß, der nicht gewiß ist, daß sein Schicksal ihm einen kleinen, unbekannten Winkel in irgend einer entlegenen Provinz zu seinem beständigen Wirkungskreise anweisen wird. Ueber, dieß sind die französischen Schriftsteller die besten Lehrer des guten Geschmacks, der Menschen- und Weltkenntniß und der wahren seinen Lebensart. Du wirst daher wohl thun, dieselben, besonders Boileau, Racine, Toussaint, la Rochefoucault, mit vorzüglichem Fleiße zu studiren. –


[43] ** den 13. Julii 1802.


Quelle:
[Anonym]: Briefe über die Höflichkeit und den Anstand oder die feine Lebensart. Leipzig 1804, S. 37-44.
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