Vorerinnerung.

Die nachfolgenden Briefe wurden an einen Jüngling geschrieben, um ihn, bey seinem Eintritte in die Welt, auf einen Gegenstand desto aufmerksamer zu machen, je weniger derselbe jetzt, wie es scheint, von so vielen jungen Leuten beachtet und beherziget zu werden pflegt. Viele sehen das, was eigentlich[5] Höflichkeit, Anstand, gute, seine Lebensart ist, mit einer Art von Geringschätzung und Gleichgültigkeit an und vernachlässigen sie; noch Mehrere halten sie blos für jene conventionellen Sitten und Gebräuche, welche in ihrem Lande, an ihrem Orte hergebracht sind, und beobachten ihre Regeln mit eben der maschinenmäßigen Gedankenlosigkeit, mit welcher sie dieselben auswendig gelernt haben; die Wenigsten haben einen richtigen, vollständigen Begrif von ihrem hohen, moralischen Werthe, von ihrem Umfange und wesentlichen Einflusse auf das ganze gesellige Leben.

[6] Es ist wohl nicht zu läugnen, daß die Schuld hiervon an den Aeltern und Erziehern liegt, deren so viele diesen so wichtigen Gegenstand der Erziehung zu vernachlässigen pflegen. Vielleicht sind auch die hier über bisher erschienenen Unterweisungen noch nicht hinreichend und zweckmäßig genug, da sie gewöhnlich aus bloßen Rhapsodien von Regeln ohne Zusammenhang, ohne Feststellung der allgemeinen Grundbegriffe, bestehen.

Aus diesen Ursachen fand man sich bewogen, diese Briefe zu sammeln und der Jugend mitzutheilen, um die Bildung ihrer [7] Sitten befördern zu helfen. Man wird sich sehr freuen, wenn diese Absicht erreicht und dadurch zugleich etwas zum Nutzen und Vergnügen, zur Zufriedenheit, vielleicht zum wahren Glücke mancher Jünglinge beygetragen wird.


Der Verfasser.


** den 1. Junii 1802.


Quelle:
[Anonym]: Briefe über die Höflichkeit und den Anstand oder die feine Lebensart. Leipzig 1804.
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