Ermordung betagter und kränklicher Wenden.

[45] Die alten christlichen Schriftsteller mahlen uns den Charakter der Wenden mit den schwärzesten Farben. Allein in allen diesen Schilderungen herrscht nicht nur Uebertreibung, sondern auch [45] der Fehler, daß das Lobenswürdige wenig oder gar nicht erwähnt wird.

Der größte Vorwurf, welcher diesen Völkern gemacht werden kann, und welcher ihnen auch häufig gemacht wurde, ist die Grausamkeit, von welchem Laster man sie auch nicht freisprechen kann. Wir wollen der grausamen Behandlung gegen die Heidenbekehrer und ihres grausamen Verfahrens im Kriege nicht erwähnen; denn beides ließe sich noch entschuldigen, weil sie hiezu durch harte Behandlungen gereizt wurden, welche sie von den Christen erlitten, die jede Grausamkeit gegen diese Nation für erlaubt hielten.

Weit verabscheuungswürdiger war aber ihr Betragen gegen ihre nächsten Blutsverwandten, welches jedes menschliche Herz empören und dasselbe mit Abscheu und Verachtung erfüllen muß. Sie ermordeten nicht nur ihre kranken Knechte, sondern auch ihre alten, schwachen Eltern und kranken Kinder. Dies ist unstreitig der höchste Grad von Grausamkeit, welcher auch den größten Abscheu [46] verdient. Eine solche un natürliche Handlung mußte aber auch ihren Grund haben, und derselbe lag bei den Wenden in ihren Religionsbegriffen. Denn nach denselben konnten nur die im Kriege Getödteten, oder die auf eine gewaltsame Art ihres Lebens Beraubten, an den Freuden eines künftigen Lebens Antheil nehmen. In dieser Rücksicht verdienen sie also mehr unser Mitleiden, als unsern Abscheu, besonders, wenn man bedenkt, daß sie durch falsche Religionsgrundsätze zur Verleugnung der natürlichen Empfindungen verleitet wurden.

Quelle:
[Anonym]: Sitten, Gebräuche und Narrheiten alter und neuer Zeit. Berlin 1806, S. 45-47.
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