11.


[346] Im April 1828 war der Hofschauspieler und Regisseur Krüger gestorben. Dieser Todesfall hatte für mich die Folge, daß mir das Vertrauen der Direction den durch ihn erledigten Posten eines Regisseurs übertrug. Der Antritt[346] dieses Amtes ist mir dadurch besonders in Erinnerung, weil er den Monat November 1828 und daher fast das ganze umfangreiche Gastspiel Ludwig Devrient's auf dem Hofburgtheater umfaßte.

Nach langem Zureden von Berliner und Wiener Freunden hatte sich endlich der kränkliche Meister entschlossen, das »Wagestück«, wie er es in seiner liebenswürdigen Bescheidenheit nannte, zu unternehmen und um ein Gastspiel anzusuchen, das ihm mit Freuden zugestanden wurde, und mit der Auszeichnung einer Erhöhung des sonst üblichen Gasthonorars beinahe auf das Doppelte.

Es war in der That kein geringes Unternehmen für den kranken Freund, eine so bedeutende Reise in rauher Jahreszeit anzutreten. Er bedurfte auch wirklich einiger Erholung, ehe er im Stande war, vor das fremde Publicum zu treten, das er so lange und gerade in den Jahren seiner Kraft gemieden hatte.

Wenn man den seltenen Mann mit dem genialen Kopf, mit den krankhaft glühenden Augen vor dem Beginne der Vorstellung in der Garderobe sitzen sah, matt, kaum im Stande, den vor Abspannung der Nerven zusammensinkenden Körper zu regieren, wenn man sah, wie er bemüht war, aus einigen aufgepflanzten Bouteillen jenen Grad von Stärkung zu schöpfen, der dem flammenden Geiste das Mittel zur Beherrschung des widerspenstigen Organismus verschaffen sollte, wenn man sah, wie er dem bedienenden Garderobegehilfen mechanisch Arme und Beine hinstreckte, um sich mit den bunten Kleidungsstücken zuzudecken, so begriff man kaum, wie diese herabgekommene[347] Natur im Stande sein sollte, vor den Lampen eine freie künstlerische Geistesthätigkeit auszuüben.

Aber das eben ist das wunderbare Geheimniß unseres Standes. Der Schauspieler, der den wahren künstlerischen Funken in sich trägt, zieht mit dem Schritte aus den Coulissen den Alltagsmenschen aus; die Gegenwart und die Vergangenheit verschwindet für ihn; für Seelen- und Körperleiden schlürft er den Lethetrank und das Publicum hat keine Ahnung, wie oft der Künstler seine Aufgabe unter Stimmungen und Verhältnissen lösen muß, die den gewöhnlichen Menschen zu Boden drücken.

Ich habe diese Erfahrung an mir selbst gar oft gemacht. Ich habe die erschöpfendsten Rollen, wie: Lear, Othello, Belisar, mit Kopf- und Zahnschmerzen spielen können, die mir hinter den Coulissen beinahe Sinne und Denkvermögen hinderten. Während der leidenschaftlichen Scenen schwiegen die Schmerzen. Ich habe den Nathan unter dem Eindrucke gespielt, den ich vom Sterbelager meines plötzlich verschiedenen Bruders Gustav hinwegtrug. Ich habe den Verrina unter den qualvollsten Magenkrämpfen zu Ende zu spielen vermocht. Eben so geht es mit geringeren Anständen. Wie selten wird es vorkommen, daß ein Schauspieler selbst bei einem heftigen Schnupfen auf der Bühne niest; einen durch Rheuma gelähmten Arm kann der Schauspieler oftmals auf der Scene bewegen. Die Physis tritt vor der geistigen Aufregung und vor der arbeitenden Phantasie zurück.

So war es bei Devrient. Der alte Löwe schüttelte die Mähnen. Wie Grillparzer's Ottokar in der Schlacht ausruft: »Trage,[348] Fuß, jetzt ist nicht Zeit zu schmerzen!« so sprach Devrient's Genius zu dem siechen Körper, als er am 27. October 1828 in der Rolle des Shylok vor dem Wiener Publicum erschien.

Schon bei seinem Erscheinen wurde der Meister mit einer stürmischen Acclamation begrüßt, die allerdings für ihn einen Maßstab geben mußte, was man von seinem Namen erwartete. Aber er kam, er sah und siegte. Ein Beifallsorcan folgte seiner großen Scene mit Tubal. In der Gerichtsscene herrschte eine athemlose Stille und eine fieberhaft gespannte Aufmerksamkeit, und hier war ich leider der Urheber einer Störung und eines Intermezzo's. Ich hatte bei jenen Stücken, die mir zum Theil wörtlich geläufig waren und worin dieser oder jener Schauspieler mich besonders interessirte, von jeher Mühe, mich während des stummen Spieles vor der Begleitung der Reden Anderer durch Lippenbewegung und Mienenausdruck zu hüten. Die Theilnahme für meinen alten Freund und die Bewunderung für den unvergleichlichen Meister rissen mich aber in der Gerichtsscene dergestalt hin, daß ich alle seine Reden flüsternd begleitete und endlich über eine wunderbar gesprochene Stelle bis zur gänzlichen Zerstreutheit in Anschauung versank. Eine tiefe Pause schreckte mich auf und von den Umstehenden wurden mir die Anfangsworte meiner Rede zugeflüstert. Porzia hatte die Worte gesprochen: »Kommt, Kaufmann, habt Ihr noch etwas zu sagen?« Aber ich war selbst zum Zuschauer geworden und hatte sie überhört. Als ich nun, zu Tode erschrocken, mich gesammelt und die Worte gesprochen hatte: »Nur wenig, ich bin fertig und gerüstet,« wurde plötzlich im Publicum applaudirt. Es hatte den Wienern[349] gefallen, daß ich über die Bewunderung meines Kunstgenossen auf meine Aufgabe vergaß und der gemüthliche Zuruf sollte bedeuten: »Wir rechnen Dir diesen Fehler nicht an.«

Daß Devrient nach dem vierten Acte hervorgejubelt wurde, war wohl ganz natürlich. Aber das Publicum hatte dem Gaste noch eine eigenthümliche Ovation zugedacht, denn nach dem Schlusse des letzten Actes, in welchem Shylok bekanntlich nicht mehr erscheint, erneuerte sich der stürmische Ruf nach dem Gefeierten, der das Theatergebäude bereits verlassen hatte.

Devrient's Triumphe wuchsen nun mit jeder folgenden Darstellung. An zw eiundzwanzig Abenden führte er einen großen Theil seines Repertoires vor.

Publicum und Berufsgenossen schwelgten gleichmäßig in dieser Fülle von Gestalten, an diesen Schätzen des seltensten Genius, die von der Kränklichkeit des Menschen noch kaum angehaucht waren.

Die Dankbarkeit des Künstlers bereitete den Wienern zum Schlusse seines Aufenthaltes noch das herrlichste Fest. Friederike Herbst, Devrient's Schülerin und wenn ich nicht irre, auch Pathe, war Mitglied des Theaters an der Wien unter Carl's Direction. Dieser stellte ihr ein halbes Benefice in Aussicht, wenn es ihr gelänge, Devrient zu einer Gastrolle am Theater an der Wien zu bestimmen, und Devrient versprach seiner Schülerin die Darstellung des Franz Moor! Die »Räuber,« mit Devrient! Wien gerieth in Aufruhr. Förmliche Schlachten wurden geschlagen, um Sperrsitze und offene Plätze zu erobern. Das große Auditorium ächzte unter der Last, die es tragen mußte.[350]

Die Wirkung war eine ungeheuere und nichts hatte Zeit und Kränklichkeit verwischt. Wie ich diesen Franz Moor in Leipzig und Breslau bewundert hatte, so stand er in seiner ganzen Herrlichkeit und Furchtbarkeit an jenem Decemberabende vor mir. Größeres als dieses Gemälde kann Schauspielkunst nicht hervorbringen.

Die Beifallsstürme, die ihn diesen Abend begleitet hatten, verpflanzten sich noch am nächsten Abend in das Burgtheater, wo Devrient seine Abschiedsvorstellung gab. Glänzender ist nach ihm kein Bühnenkünstler ausgezeichnet worden, wenn sich auch bei Epigonen die Anzahl der Vorrufungen verfünffacht haben.

Auf Devrient machte der Wiener Erfolg einen tiefen Eindruck. »Verdiene ich denn das Alles?« war mehr als Einmal seine allzubescheidene Bemerkung und es ging ihm wie so Vielen, die Wien mit Vorurtheilen betreten, der Abschied wurde ihm wahrhaft schwer.

Daß dieses Wiedersehen wahrscheinlich das letzte für uns sein werde, ließ mich der Zustand Devrient's ziemlich sicher voraussetzen, und ich benutzte daher seinen Aufenthalt, um noch möglichst viel von seinem anregenden Verkehre zu profitiren. Er war sehr viel in meinem Familienkreise, den er mit einem wahren Schatze von Mittheilungen, Imitationen bekannter Persönlichkeiten, und einem Füllhorne jokoser Anecdoten belebte und erheiterte.

Seine häuslichen Verhältnisse waren bekanntlich nicht glücklich. Ein schriller Mißton ging durch seine dritte Ehe, die er besser nicht geschlossen hätte. Mein Bruder Gu stav, den er[351] sich als Begleitung nach der Weinstube5 auserkoren hatte, wo er zu frühstücken pflegte, fragte ihn einst beim Heraustreten: »Nun, Devrient, wo gehen wir jetzt hin?« Devrient antwortete mit einem erschütternd wehmüthigen Tone: »Bruder, wohin Du willst, nur nicht nach Hause!«

Dieses eheliche Mißverhältniß mag wohl viel dazu beigetragen haben, daß er sich dem Aufenthalte in einer geregelten Häuslichkeit immer mehr entzog, sein permanentes Quartier bei Lutter und Wegener in Berlin aufschlug und dieser zerstörenden Unordnung gänzlich zum Opfer fiel.

Der Herbst 1828 hatte dem Repertoire des Burgtheaters Schiller's »Wilhelm Tell« eingeflochten. Was für Kämpfe hat Schreyvogl bestanden, um das durchzusetzen. Daß er ungeachtet unzähliger Abweisungen seinen Vorsatz immer wieder erneuerte und endlich die Hydra »Censur« überwand, ist nicht sein geringstes Verdienst.

Die Aufnahme von Schiller's Schwanengesang war eine so enthusiastische, wie man es nur bei Novitäten gewöhnt ist, und der Zudrang des Publicums zu dem Kleinod seines Lieblingsdichters wuchs von einer Vorstellung zur anderen.

Wer als Schauspieler nur halbwegs seiner Sache gewiß und im Besitze des Ausdruckes für Gemüth und schlichte Gradheit ist, wird bei dieser Rolle kaum fehlgreifen. Wer aber diese beiden Elemente nur weißmachen will, wird sich umsonst abquälen und wenn er noch so viel schreit, tobt und weint.[352]

Es ist viel darüber gesprochen und geschrieben worden, daß Schiller den Geßler zu Pferde erscheinen ließ. Der Eindruck, den seinerzeit das imposante Schauspiel des Krönungszuges in der »Jungfrau« bei der Darstellung in Berlin gemacht hatte, mag vielleicht nicht ohne Einfluß auf die vorgeschriebene Reitererscheinung Geßler's gewesen sein. Es liegt etwas Gewaltiges in der Idee, den brutalen Tyrannen als Centauren unter seiner Umgebung und unter dem harmlosen Hirtenvolke einzuführen. Aber abgesehen von dem Umstande, daß, wenn die Erscheinung wahrscheinlich sein soll, doch wohl auch Rudenz, Bertha, der Harras und Andere als Geßler's Jagdgefährten zu Pferde erscheinen müßten, ein Aufzug, der in den Kunstreitercircus, aber nicht auf die Bühne gehört, so sind doch auch andere Uebelstände nicht zu vermeiden, wenn das edle vierbeinige Thier zum Schauspieler wird. Jedes Stampfen, Kopfschütteln, jede Seitenbewegung des Pferdes, von anderen Zufälligkeiten zu schweigen, erregt Geräusch, lenkt die Aufmerksamkeit des Zuschauers von der Hauptsache ab und bringt eine Störung hervor.

Ich habe daher, wo es auf mich ankam, stets die Beseitigung des vierbeinigen Collegen angestrebt und war auch das einzige Mal mit Holbein einverstanden, als er das Geßler'sche Reiterkunststück vom Burgtheater abschaffte.

Den Schluß des Jahres 1828 bildeten zwei Erscheinungen, die insofern im Zusammenhang standen, als sie beide einen Bezug auf Sofie Müller hatten. Es waren das die Vorführung des »Nibelungenhortes« von Raupach und[353] das Gastspiel einer jugendlichen Liebhaberin vom Dresdener Hoftheater: Julie Gley.

Sofie Müller, schon von den Geierkrallen ihres tödtlichen Uebels gefaßt, setzte an die Durchführung der Chriemhild, dieser für den kräftigsten weiblichen Organismus erschöpfenden Aufgabe, das ganze Aufgebot ihrer sinkenden Jugendkräfte. Dieser Erfolg war einer ihrer glänzendsten, aber es war auch ihr letzter Triumph. Die zahlreichen Wiederholungen des Trauerspieles zehrten den letzten Rest ihrer reichen Mittel auf, wozu sich noch eine beklagenswerthe Angewöhnung gesellte, die wohl auch eine Folge ihres Leidens war. Um die innerliche Erhitzung zu dämpfen, die sie nach den leidenschaftlichen Scenen empfand, nahm sie in den Pausen Eis zu sich und kein Zureden war im Staude, sie von diesem unseligen Brauche abzubringen. Im nächsten Frühjahr machte der tödtliche Ausbruch des Leidens ihrer künstlerischen Wirksamkeit ein Ende.

Die drohenden Anzeichen ihrer Kraftabnahme entgingen Schreyvogl nicht und machten ihn aufmerksam, daß es geboten sei, bei Zeiten sich um eine Nachfolgerin umzusehen. Julie Gley, ein jugendliches Talent des Dresdener Hoftheaters, ward von Ludwig Tieck ungewöhnlicher kritischer Aufmerksamkeit gewürdigt und Schreyvogl bewilligte ihr ein Gastspiel.

Der Erfolg war ein ehrenvoller und obgleich Schreyvogl die Schonung hatte, bei Lebzeiten der kranken Sofie Müller nur die gangbarsten Rollen durch bereits in Engagement[354] stehende Liebhaberinnen provisorisch zu besetzen,6 so behielt er doch Julie Gley fortwährend im Auge und gewann sie nach dem Ableben Sofie Müller's wirklich für das Hofburgtheater, als dessen Mitglied sie im Herbste 1830 debütirte.

Julie Gley, seither in Julie Rettich umgewandelt, ein Name, der so weit gedrungen ist, als man von deutscher Bühnenkunst überhaupt weiß!

Mit einer bei Frauen seltenen geistigen Begabung und Bildung, mit einer glühenden, rastlos schaffenden Phantasie, mit einem feurigen Temperamente und einer angenehmen Gestalt ausgerüstet, die sich in ihren Formen bis in späte Jahre erhalten hat, mußte das gewaltige Schauspielertalent dieser Frau eine außerordentliche Laufbahn zurücklegen.

Die klare Einfachheit ihrer Darstellungen, von dem reichsten Geistes- und Seelenleben gehoben, von der reinsten Sittlichkeit veredelt und verschönert, gewann dem neunzehnjährigen Mädchen bei ihrem ersten Gastspiele als Mädchen von Marienburg, Johanna d'Arc, Irene in »Belisar« die Herzen der Wiener und ihr erstes Engagement am Hofburgtheater vom October 1830 bis Mai 1833 befestigte sie in[355] der Gunst des Publicums so rapid, daß Schreyvogl es wagen konnte, dem im Sturme sich entwickelnden Talente Rollen wie Johanna von Montfaucon und Sappho, zwei der gefeiertsten Partieen Sofie Schröder's, anzuvertrauen. Sie erschien in diesen dritthalb Jahren fast in allen bedeutenden Rollen der jugendlichen tragischen Liebhaberinnen und Heldinnen und von Monat zu Monat, von Rolle zu Rolle stieg die Anerkennung des Publicums und mit dieser ihr Selbstvertrauen und die Kraft ihrer Darstellungen.

Eine ihrer ersten neuen Rollen war Hero in Grillparzer's »Des Meeres und der Liebe Wellen«. Ich habe von ganzem Herzen eingestimmt in die rauschende Anerkennung, welche die mit Recht gefeierte Bayer-Bürk in dieser Rolle zwanzig Jahre später gefunden hat; aber Julie Gley hat ihr in keiner Hinsicht nachgestanden. Daß die eine begabte Darstellerin diesen Moment glücklicher zum Ausdruck bringt, die andere jenen, das liegt eben in der Individualität. Auf der Hero, wie sie Julie Gley hingestellt hat, lag unnennbarer Zauber, lag aller Schmelz und alle Weihe weiblicher Jugend und in der erschütternden tragischen Gewalt des fünften Actes war sie ihrer Nachfolgerin weit überlegen.

Ja, höre ich gewisse Stimmen ausrufen, woran liegt es dann, daß das prachtvolle Gedicht damals sich nicht behaupten konnte, während es seit 1851 Epoche machte? Nicht an Julie Gley und ihrer Umgebung, sondern an der Zeit und dem minder gereiften Urtheil des Publicums. Auch ist es eine gewöhnliche Erscheinung, daß man eine bedeutende Persönlichkeit wie Grillparzer, im Alter, wo man ihn vielleicht bald[356] verlieren kann, mit weit mehr Pietät behandelt als in der Jugend. Denn von den sogenannten glänzenden Erfolgen, wie sie heutzutage künstlich geschaffen werden, wußte man damals noch nichts. Das »griechische Stück« wurde eben langweilig gefunden, weil man viele Schönheiten gar nicht erfaßte. Das Jahr 1848 hat in dieser Beziehung Vieles geändert.

Julie Gley als Hero, Löwe und Fichtner als Naukleros und Leander, alle Drei in der Blüte ihrer Jahre und Kraft, und Heurteur als Tempelhüter! Es war ein Ensemble, das sich wahrhaftig sehen lassen konnte.

Julie Gley hatte mit Raupach's »Genofeva«, mit Lucie in Raupach's »König Enzio« und mehreren anderen Rollen ihre Stellung gegenüber dem Publicum fest begründet; gegenüber dem obersten Hoftheaterdirector gelang ihr das nicht. Die Mißhelligkeiten zwischen dem Chef des Hofburgtheaters und Schreyvogl wurden immer schroffer und schließlich negirte der einflußreiche Vorgesetzte alle Maßregeln und Anordnungen des Dramaturgen.

Das Engagement Julie Gley's war das Werk Schreyvogl's, daher unzweckmäßig und weil sich der laute Beifall des Publicums nicht negiren ließ, so überredete sich der oberste Chef, daß dieser Beifall nur von »einigen Sachsen« herrühre. Nach Schreyvogl's Pensionirung im Jahre 1832 wünschte man vielleicht, das glänzende Rollenrepertoire zum Theile für eine damals besonders protegirte Schauspielerin benützen zu können. Deinhardstein erneuerte den Contract mit Julie Gley nicht wieder und Fräulein Antonia Fournier, jetzige Kronser,[357] wurde im Herbste zum Gastspiele auf Engagement aus Berlin verschrieben. In dieser Zeit hatte sich Julie Gley mit dem jetzigen Hofschauspieler Rettich verlobt. Zum Theile vielleicht dieses frohe Ereigniß, zum Theile der Tod ihres Vaters, den die Cholera hinwegraffte, zog der jungen Künstlerin ein Nervenfieber zu, welches sie durch den ganzen Winter an das Krankenbett fesselte.

Da eröffnete Sofie Schröder Mitte März 1833 nach vierjähriger Abwesenheit von Wien ein längeres Gastspiel am Hofburgtheater als Fürstin Isabella in der »Braut von Messina«.

Es war einer der interessantesten Theaterabende. Der Vorhang rollt auf. Die gefeierte deutsche Tragödin, der seit vier Jahren schwervermißte Liebling der Wiener, steht auf der Bühne und ein minutenlanger Applaus, ein donnernder Ausdruck der Verehrung und Bewunderung begrüßt Sofie Schröder und begleitet sie von Rede zu Rede durch den ganzen Act.

Der zweite Act beginnt und aus den Tempelstufen des Gartens tritt die genesene Julie Gley. Es wird lebhaft applaudirt, aber dieser Applaus geht augenblicklich in ein jauchzendes Freudengeschrei über; die stürmischen Liebeszurufe verstatten dem überraschten Mädchen lange nicht, ihren großen Monolog anzufangen, den sie endlich, von der freudigen Erschütterung beklommen, mit leisen, fast zitternden Tönen beginnt. Bald aber hat sie sich gefaßt, sie geht zur hinreißendsten Begeisterung über, denn für den Liebesbeweis des Publicums, das fühlt sie, muß sie alle Kräfte einsetzen. Ein zweiter Künstlertriumph[358] wird vom Publicum bereitet und wie verschieden beide in der Färbung! Das sind jene so seinen und doch so hochgehenden Wellenbewegungen, welche in einem großen Publicum vorkommen und für welche nur der Sachverständige das volle Unterscheidungsvermögen besitzt.

Das konnte der oberste Hoftheaterdirector nicht ertragen. Sogleich ließ er Deinhardstein in seine Loge rufen und gab den Befehl, daß Julie Gley vor ihrem Abgange nicht wieder beschäftigt werden dürfe.

Im Jahre 1835 trat eine Aenderung in den Directionsverhältnissen des Burgtheaters ein. Der Oberstkämmerer wurde nach dem Tode des Kaisers Franz jeden Einflusses auf die Theatergeschäfte enthoben und Landgraf von Fürstenberg zum bevollmächtigten Intendanten ernannt.

Eine fast unmittelbare Folge dieses Directionswechsels war die Einladung des Rettich'schen Ehepaars zum Gastspiele am Hofburgtheater, welches Julie Rettich Anfangs October 1835 als Maria Stuart eröffnete. Enthusiastisch begrüßt und ausgezeichnet, feierte Julie Rettich in ihrem umfangreichen Gastspiele einen immer mehr sich steigernden Triumph, welcher in »Faust's« Gretchen und in »Iphigenie auf Tauris« einen himmelstürmenden Gipfelpunct erreichte.

Eine Margarethe wie Julie Rettich hat Wien und vielleicht die deutsche Bühne nicht wieder besessen.

Aber noch höher strebte ihre Iphigenie. Die Weihe, Klarheit, Größe und Einfachheit dieser Darstellung war von so überwältigender Wirkung, daß man unwillkürlich zugestehen mußte: diese Künstlerin hat bereits den Höhepunct ihrer[359] Talententfaltung erstiegen und wird einst in der Kunstgeschichte den Platz neben Sofie Schröder einnehmen.

Dieses Gastspiel hatte zur Folge, daß derselbe Oberstkämmerer, dessen Gunst Julie Rettich niemals erringen konnte, wenige Tage später das kaiserliche Decret der lebenslänglichen Anstellung für die Gäste unterzeichnen mußte. »Eine bittere Pille,« sagt Lear.

Ihre erste künstlerische Aufgabe in der neuen Stellung war, den unbekannten Verfasser der »Griseldis« über Nacht zum gefeierten österreichischen und bald auch deutschen Dichter zu machen.

Ein rastlos strebender Geist, eine übervolle Phantasie bilden die beiden Factoren, welche bei Julie Rettich fortwährend in Thätigkeit sind. Weilsie gern das Beste leisten will, so studirt sie, so beobachtet sie unermüdlich. Keine literarische und künstlerische Erscheinung entgeht ihr und dieser geistige Vorzug ist sogar die Quelle eines Tadels geworden. Man hat in den letzten 15 Jahren bemerken wollen, daß die Darstellungen Julie Rettich's an französische und italienische Darstellungskunst erinnern. Konnten an einem so beweglichen Geiste Erscheinungen wie Rachel und Ristori vorübergehen, ohne Spuren und Eindrücke zu hinterlassen?

Ich habe mich in die Länge verloren, aber ich sage mit Posa: »Mein Gegenstand reißt mich dahin.« Für alles Bedeutende in meiner Kunst glühe ich noch jetzt mit Jünglingsfeuer, und daß Julie Rettich unter den Bedeutendsten zu den Bedeutendsten gehört, darüber ist die deutsche Theaterwelt von[360] der Adria bis zum Belt und vom Rheine bis zur Oder wohl einstimmig einverstanden.

Das Frühjahr 1829 warf Sofie Müller, wie schon erwähnt wurde, auf das Krankenlager, von welchem sie nicht wieder erstehen sollte.

Ein zweiter Schlag folgte mit dem Ablauf des Ferialmonates.

Giuditta Pasta machte ihren Triumphzug durch Europa.

Der Goldregen, welcher auf die gefeierte Sängerin niederfiel, scheint nicht ohne Einfluß auf den Entschluß Sofie Schröder's gewesen zu sein, ihr Engagement am Hofburgtheater aufzugeben und mit Hilfe ihres genialen Talentes sich auf einer großen Gastspiel-Rundreise durch ganz Deutschland gleichfalls ein Vermögen zu erwerben. Vielleicht hatten auch unerquickliche Verhältnisse in ihrem Privatleben ihr die Entfernung von Wien wünschenswerth erscheinen lassen. Freilich hatte Sofie Schröder bei allem gerechtfertigten Selbstbewußtsein nicht berechnet, daß zwischen einer italienischen Sängerin, welcher die Bühnen aller Nationen offen stehen, und zwischen einer deutschen Schauspielerin, die mehr oder minder auf eine geringe Anzahl bedeutender deutscher Bühnen beschränkt ist, ein fühlbarer Unterschied sei. Genug, sie glaubte wenigstens etwas Außergewöhnliches erreichen zu können.

Sie bat um ihre Entlassung, erhielt jedoch eine abschlägige Antwort. Sie verlor weiter keine Sylbe und bat um die Paßbewilligung zum Gastspiele an dem kaiserlichen Hoftheater zu Petersburg. Als aber dieses Gastspiel ohne Ansuchen um Urlaubsverlängerung im August fortgesetzt wurde, unterlag[361] es keinem Zweifel mehr, daß Sofie Schröder die Absicht habe, in ihr Wiener Engagement nicht mehr zurückzukehren.

Man deutete mit der Anzeige von dem gewaltsamen Schritte mittelst Correspondenz in Petersburg an, daß man es sehr angenehm vermerken würde, wenn das Gastspiel Sofie Schröder's keine weitere Fortsetzung erführe.

Sofie Schröder erhielt wirklich die Weisung, Rußland zu verlassen. Auch an andern Orten machten sich ähnliche Einwirkungen geltend, und so war die Künstlerin, statt einen Schatz zu heben, so gut wie geächtet, als ihr gütiges Geschick sie nach München führte. König Ludwig von Baiern nahm von den kleinlichen Verfolgungsgelüsten keine Notiz und engagirte sie mit allen Merkmalen königlicher Großherzigkeit und fürstlicher Auszeichnung für das Münchner Hoftheater. Ja, als Sofie Schröder 1835 wieder an das Hofburgtheater zurückkehrte, halte dieser kunstsinnige Monarch die Gnade, der scheidenden Künstlerin eine nicht unbedeutende Pension zu bewilligen, wobei der König noch den nachfolgenden ebenso geistreichen als großmüthigen Scherz gemacht haben soll. Sofie Schröder bat um ihre Entlassung, um wieder in das Wiener Engagement zurückzutreten. Der König antwortete: »Nein, liebe Schröder, das kann nicht sein, entlassen werde ich Sie nicht.« Sofie Schröder bemerkte, daß doch so manche Erinnerung sie nach Wien ziehe und wiederholte ihre Bitte um Entlassung. König Ludwig versetzte: »Daß Sie nach Wien zurück wollen, finde ich begreiflich und ich halte Sie nicht ab. Sofie Schröder aber wird von mir nicht entlassen, ich kann sie nur pensioniren.«[362]

Das Jahr 1829 sollte aber nicht allein durch Verluste unvergeßlich bleiben, es führte dem Burgtheater Caroline Müller als Mitglied zu.

Caroline Müller übernahm von Julie Löwe die Erbschaft der Salondamen und Koketten. Wenn sie auch mitunter an Feinheit, Noblesse und künstlerischer Durchführung ihrer Vorgängerin weichen mußte, so übertraf sie dieselbe unbedingt an Liebenswürdigkeit des Temperamentes, sowie an Geist und Witz der Darstellung.

Man hatte seinerzeit den Reichthum und Geschmack in Julie Löwe's Toilette bewundert. Caroline Müller brachte in dieser Beziehung eine förmliche Revolution hervor, und wenn man ihr hiefür einen Vorwurf machen kann, so ist es der, daß sie den Toilettenluxus zur Tagesordnung gemacht und den Anstoß zu dem gegenwärtig unentbehrlichen Uebermaße gegeben hat. Während jedoch in unseren Tagen auch arme Waisen und Bettlerinnen geputzt erscheinen, trieb Caroline Müller nur angemessenen Luxus und erschien einfach und ärmlich, wo es die Rolle verlangte. Obgleich der künstlerische Ausdruck für Gemüth nicht eigentlich in Caroline Müller lag, so konnte sie doch ein sehr annehmbares Surrogat dafür geben. Sie spielte die Professorin im »verkannten Amor«, die junge Fresen in Iffland's »Fremden«, die gefährliche Tante vortrefflich, aber sie befriedigte auch als Adelheid von Walldorf und spielte selbst die Leonore Sanvitale ganz verständig. Von der angenehmsten Wirkung war sie in Bauernfeld's Lustspielen, die ihr sozusagen von dem Verfasser auf den Leib gepaßt[363] wurden. Hier entwickelte sie eine Schalkhaftigkeit und einen Reiz, denen sich der Zuschauer wehrlos überließ.

Für Caroline Müller gab es keinen Uebergang, aber sie erkannte das selbst und sie zog sich in das Privatleben zurück, ehe das Publicum der reizenden Liebhaberin zurufen konnte: »Es kommen die Jahre, die uns nicht gefallen.«


Quelle:
Anschütz, Heinrich: Erinnerungen aus dessen Leben und Wirken. Wien 1866, S. 346-364.
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