Zurück nach Wetzlar und weiter

[47] Am 27. Februar 1860 trat ich die Heimreise an. Bahnen gab es zu jener Zeit im südöstlichen Bayern noch nicht, außerdem reiste damals der Handwerksbursche am billigsten zu Fuß, wenn er sich ein bißchen mit aufs Fechten verlegte. Das Wetter war wieder miserabel. Als ich eines Tages bei stürmischem Schneewetter, das mir ins Gesicht schlug, die Hände in den Hosentaschen, den Stock unter dem Arme und die Hutkrempe ins Gesicht gezogen, auf der Straße über den fränkischen Landrücken stapfte, wurde ich plötzlich am Arm gepackt und in den Straßengraben geschleudert.[47] Als ich verwundert aufschaute, war es das Pferd von einem mir entgegenkommenden Fuhrwerk, das mich klugerweise am Arme gepackt und beiseitegeschleudert hatte. Bei dem stürmischen Wetter hatte ich das herankommende Fuhrwerk weder gesehen noch gehört.

Jetzt war ich zum drittenmal über München gewandert und von dort nach Ingolstadt, Eichstätt, Nürnberg, Fürth, Würzburg, Aschaffenburg und Frankfurt. Zwischen Würzburg und Aschaffenburg durchschritt ich während mehr als vier Stunden einen prächtigen Buchenwald, der zum Spessart gehörte, in dem ich keiner Seele begegnete. Meine Schritte waren das einzige Geräusch, das ich vernahm. Selbst das mitten im Walde abseits von der Straße liegende Försterhaus sah aus, als sei es unbewohnt. Ich atmete auf, als ich den endlos scheinenden Wald hinter mir hatte. Böcklins Gemälde »Das Schweigen im Walde«, das ich Jahrzehnte später kennenlernte, erzeugte in mir zum erstenmal wieder die Stimmung, die mich damals bei dem einsamen Marsch durch den gespenstisch stillen Buchenwald beschlich. Als ich mich endlich Wetzlar näherte, wurde es mir etwas eigenartig ums Herz. Ich eilte eine vor mir liegende leichte Anhöhe hinauf, von wo ich zunächst die Spitze des Domes und bald darauf das ganze Städtchen vor mir liegen sah. Es war Mitte März, als ich nach mehr als zweijähriger Abwesenheit die zweite Heimat wieder zu sehen bekam. Ich fand bei einer meiner Tanten, der Müllerin, vorübergehende Unterkunft.

Bei der Militäraushebung wurde ich wegen allgemeiner Körperschwäche um ein Jahr zurückgestellt. Dasselbe passierte mir die nächsten Jahre bei der Gestellung in Halle a.S., wohin ich von Leipzig zweimal reiste, so daß ich schließlich als militäruntauglich entlassen wurde. Einstweilen trat ich, da eine Arbeitsstelle in Wetzlar nicht zu haben war, bei einem jüdischen Drechslermeister in Butzbach, zwei Meilen von Wetzlar, in Arbeit. Als aber die Jahreszeit immer schöner wurde und eines Tages drei meiner Schulfreunde mit dem Berliner auf dem Rücken in die Werkstatt traten und mir mitteilten, daß sie sich auf der Wanderschaft nach Leipzig befänden, »da zog es mich mächtig hinaus«, wie es im Handwerksburschenlied heißt, und ihnen nach. Ich versprach meinen Freunden, binnen drei Tagen zu folgen, und hoffte sie einzuholen, falls sie nicht zu große Märsche machten. Ich konnte dieses Angebot riskieren, denn im Marschieren war mir zu jener Zeit keiner voraus.

Ich hatte bisher nicht die geringste Sehnsucht gehabt, Leipzig und Sachsen kennenzulernen, und wäre es auf mich angekommen, ich hätte[48] damals beides nicht gesehen. Und doch war diese Reise in mehr als einer Richtung entscheidend für meine ganze Zukunft. So entscheidet sehr oft der Zufall über das Schicksal des Menschen.

Ich möchte hier einschalten, daß ich von dem Satze: der Mensch ist seines Glückes Schmied, blutwenig halte. Der Mensch folgt stets nur den Umständen und Verhältnissen, die ihn umgeben und ihn zu seinem Handeln nötigen. Es ist deshalb auch mit der sogenannten Freiheit seines Handelns sehr windig bestellt. In den meisten Fällen kann der Mensch die Konsequenzen seines momentanen Handelns nicht übersehen; er erkennt erst später, zu was es ihn geführt hat. Ein Schritt nach rechts statt nach links, oder umgekehrt, würde ihn in ganz andere Verhältnisse gebracht haben, die wiederum bessere oder schlechtere sein konnten als jene, in die er auf dem eingeschlagenen Wege gekommen ist. Den klugen wie den falschen Schritt erkennt er in der Regel erst an den Folgen. Oftmals kommt ihm aber auch die richtige oder falsche Natur seines Handelns nicht zum Bewußtsein, weil ihm die Möglichkeit des Vergleichs fehlt. Der Selfmademan existiert nur in sehr bedingtem Maße. Hundert andere, die weit ausgezeichnetere Eigenschaften haben als der eine, der obenauf gekommen ist, bleiben im Verborgenen, leben und gehen zugrunde, weil ungünstige Umstände ihr Emporkommen, das heißt die richtige Anwendung und Ausnutzung ihrer persönlichen Eigenschaften verhinderten. Die »glücklichen Umstände« geben erst dem einzelnen den bevorzugten Platz im Leben. Für unendlich viele, die diesen Platz nicht erhalten, ist des Lebens Tafel nicht gedeckt. Sind aber die Umstände günstig, so muß allerdings die nötige Anpassungsfähigkeit vorhanden sein, sie auszunutzen. Das kann man als das persönliche Verdienst des einzelnen ansehen.

Ich holte die drei Freunde ein, noch ehe sie Thüringen erreicht hatten, und kam gerade recht, um den einen, der bereits wunde Füße hatte, hilfreich unter den Arm zu nehmen, was beim Durchwandern der Orte bei den Bewohnern öfters Heiterkeit erregte. Wir passierten Ruhla, Eisenach, Gotha und kamen nach Erfurt. Hier übernachteten wir zum ersten Male in der Herberge eines christlichen Jünglingsvereins. Aber nur einmal und nicht wieder. Das muckerische, schleichende Wesen des Herbergsvaters widerte mich an. Am Abend mußten wir auf Kommando gemeinsam zu Bett gehen. Als wir die erste Etage erstiegen hatten, öffnete sich die Tür zu einem kleinen Saal, und eine Choralmelodie tönte uns entgegen, die ein glattgescheitelter, hellblonder Jüngling auf einem Harmonium spielte. Überrascht traten wir ein, neugierig auf die Dinge, die da kommen[49] würden. Darauf trat der Herbergsvater auf ein Podium und las aus einem Gesangbuch einen Vers Zeile für Zeile vor. Die zitierte Zeile hatten wir unter Begleitung durch das Harmonium nachzusingen. Ähnliches war mir in einem katholischen Gesellenvereinshaus nicht passiert. In München zum Beispiel war an der Wand der Stube, in der wir zu zweit schliefen, ein gedrucktes Gebet angeschlagen, mit dem Ersuchen, es vor dem Zubettgehen zu beten. Von einem moralischen Zwang keine Spur. Ich wiederhole, wie es seitdem in den katholischen Gesellenvereinen geworden ist, weiß ich nicht.

In Erfurt fing der geschilderte Vorgang an, uns zu amüsieren. Wir brüllten wie Löwen die vorgespielte Melodie mit dem zitierten Text. Dann ging's höher hinauf in den Schlafsaal. Nachdem vorschriftsmäßig unsere Hemdkragen auf fremde Bewohner untersucht worden waren, stiegen wir zu Bett. Darauf entfernte sich der Herbergsvater mit dem Licht, und schwarze Dunkelheit herrschte. Jetzt ging aber unter den Dutzenden junger Leute, unter denen fast alle deutschen Landsmannschaften vertreten waren, ein Ulken und Spotten los, wie es mir bisher noch nicht zu Ohren gekommen war. Die Heiterkeit erreichte ihren Höhepunkt, als in der entferntesten Ecke des Saales ein Schlafgenosse aus Württemberg im unverfälschtesten Schwäbisch seine humoristischen Bemerkungen machte. Erst spät nahm der Lärm ein Ende. Nächsten Tages marschierten wir nach Weimar. Hier erklärten meine Begleiter, nicht weitergehen zu können, denn alle drei hatten sich die Füße wundgelaufen; sie wollten mit der Bahn nach Leipzig fahren. Ich protestierte dagegen, denn mein Geld war sehr knapp, und was dann, wenn es in Leipzig keine Arbeit gab? Doch mein Protest half nichts, wollte ich nicht allein reisen, so mußte ich mitfahren. Am 7. Mai 1860, abends 11 Uhr, kamen wir in Leipzig an und frugen uns durch nach der Herberge in der Großen Fleischergasse. Als wir nächsten Tages beim herrlichsten Maiwetter die Stadt und die in voller Frühjahrspracht stehenden Promenaden besichtigten, gefiel mir Leipzig ungemein. Ich hatte auch Glück und bekam Arbeit, und zwar in einer Werkstatt, in der ich den Artikel kennenlernte, auf den ich mich später selbständig machte. Traf ich vierundzwanzig Stunden später in Leipzig ein, so wäre die Stelle von einem anderen besetzt worden. So entschied hier wieder »ein Augenblick des Glückes« über meine Zukunft. Zum zweitenmal arbeitete ich in einer größeren Werkstatt. Es wurden fünf Kollegen und ein Lehrling neben mir beschäftigt. Meister und Kollegen gefielen mir, die Arbeit auch, bei der sich etwas lernen ließ. Was mir aber nicht gefiel, war der schlechte[50] Kaffee, den wir morgens erhielten, und das an Quantität und Qualität äußerst mangelhafte Mittagessen. Frühstück, Vesper und Abendbrot mußten wir uns selbst stellen. Die Schlafstelle war beim Meister; wir schliefen sieben Mann in einer geräumigen Bodenkammer. Ich fing sehr bald an, gegen die Kost zu rebellieren. In einigen Wochen hatte ich die Kollegen so weit, daß sie sich zu einer gemeinsamen Beschwerde bei dem Meister verstanden, wobei wir erklärten, gemeinsam die Arbeit einzustellen, falls unsere Beschwerde keinen Erfolg hätte. Wir drohten also mit Streik, noch ehe einer von uns dieses Wort gehört hatte. Die Form der Abwehr ergab sich eben aus der Sache selbst. Der Meister war äußerst betreten, er erklärte, er verstehe die Klagen nicht, ihm schmecke das Essen ausgezeichnet. Das war natürlich. Er aß mit seiner Familie später als wir und bekam ein anderes Essen. Das wußte er nicht. Nach wiederholten Verhandlungen erreichten wir, daß wir gegen entsprechende Entschädigung von seiner Seite die Selbstbeköstigung durchsetzten, wobei er, wie er behauptete, finanziell noch profitierte. Er hatte seiner Frau mehr für unsere Verpflegung zahlen müssen, als wir forderten. Später erreichten wir durch hartnäckiges Liegenbleiben im Bett, daß der Beginn der Arbeitszeit von morgens 5 Uhr auf 6 Uhr hinausgeschoben wurde. Noch später setzten wir auch die Stückarbeit durch, auf die der Meister nicht eingehen wollte, weil er fürchtete, schlechte Arbeit geliefert zu bekommen, worin er sich täuschte, wie er sich nachher überzeugte. Schließlich erlangten wir auch das Wohnen außer dem Hause.

Quelle:
Bebel, August: Aus meinem Leben. Band 1. Berlin 1946, S. 47-51.
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