Die Kleidung im gesellschaftlichen Leben

[102] Zu Beginn dieser Abteilung führten wir ein Sprichwort an, dessen Anfang lautet: »Man empfängt die Menschen nach ihrem Kleide.« In der Tat spielt im gesellschaftlichen[102] Leben die Kleidung eine hervorragende Rolle, und in den verschiedenen Abschnitten haben wir auch nie versäumt, jene Regeln mitzuteilen, die in Bezug auf die äußere Erscheinung Geltung haben. Mancherlei bleibt aber noch zu erwähnen, was wir an dieser Stelle nachtragen wollen.

Da ist freilich die Grundbedingung für die elegante Erscheinung des einzelnen, daß er guten Geschmack besitze, daß er Sauberkeit und Ordnung liebe. Ein einfaches, sauberes Kleid entspricht den gesellschaftlichen Forderungen viel mehr als ein reiches, ohne guten Geschmack gewähltes, unsauberes; es muß eben Übereinstimmung herrschen zwischen dem Träger und seinem Anzuge.

Eine wirklich vornehme Frau wird sich nie derartig kleiden, daß ihre Persönlichkeit dutch die Kleidung in den Hintergrund gedrängt wird; sie wird stets nur die Kleidung als Rahmen zu dem Bilde betrachten, das ihre Person darbietet. Aber auch im einfachen Hauskleide wird die wirklich vornehme Dame stets eine Erscheinung bieten, die bei dem Beschauer die gleichen angenehmen Eindrücke hervorrufen wird, als träte sie in vornehmster Gesellschaftskleidung vor ihn hin.

Eine Hauptsache bei der Zusammenstellung jeden Anzuges bilden die zu wählenden Farben der einzelnen Kleidungsstücke. Hierbei ist zu beachten, ob letztere für das Haus oder für die Gesellschaft bestimmt sind; ferner ist Rücksicht zu nehmen auf das eigene Alter, denn was eine junge Dame recht vorteilhaft kleidet, kann eine ältere einfach lächerlich machen. Damen im Alter von vierzig Jahren und mehr dürfen wohl kaum in den sanften, schmachtenden Farben rosa und blau, die den jungen Mädchen gehören, gefallen; andererseits werden letztere nicht violette oder goldgelbe Kleider tragen, denn diese Farben gehören einzig und allein älteren, verheirateten Damen. Weiß wird von älteren Damen nur in schweren Stoffen getragen; wogegen Mull, Tarlatan, Gaze und dergleichen unbestritten der Jugend gehören. Oftmals kann man Mutter und Tochter gleichmäßig gekleidet nebeneinander gehen sehen. Das ist aber nicht dem guten Geschmack angemessen, denn die Mutter setzt sich dem Verdacht aus, jünger erscheinen zu wollen, als sie ist.[103]

Allzu bunte, schillernde und auffallende Farben suche man zu vermeiden, wenigstens muß man es unterlassen, Farben nebeneinander zu stellen, die nicht zusammenpassen, also z.B. grün und rot, grün und blau, blau und lila usw. Je harmonischer die Farben miteinander übereinstimmen, einen desto angenehmeren Eindruck wird der Anzug auf das Auge machen, denn auch die Farben können beleidigen. Zu Hauskleidern wähle man dunklere Farben und praktische Stoffe; Spitzen, reicher Schmuck und schwere Stoffe sind nur bei großer Gesellschaftskleidung zulässig, nie aber auf der Straße, auf Landausflügen oder auf der Reise.

Bei Einkäufen trägt man keine hellen Glacehandschuhe, am allerwenigsten aber bereits etwas schmutzige, weiße Ballhandschuhe, die man ›verbrauchen‹ will. Handschuhe sind überhaupt ein Bestandteil des Anzugs, der noch viel zu wenig Beachtung findet! Denn die Gesetze guter Lebensart verlangen, daß auf der Straße niemand ohne Handschuhe erscheinen soll, und zwar sind für die Straße und Reise dunkelfarbige die Regel, bei feierlichen Gelegenheiten weiße, bei Besuchen hellfarbige (nicht weiße), bei Trauerangelegenheiten schwarze. Damen freilich können schwarze Handschuhe auch auf der Straße anlegen.

Bei Besuchen behält man die Handschuhe an, bei einem Essen jedoch zieht man sie aus, wenn man sich zu Tische setzt, und zwar ehe man das Mundtuch entfaltet. Die Handschuhe dann neben den Teller zu legen ist unschicklich; man steckt sie einfach in die Tasche. Ohne Handschuhe oder nur mit einem Handschuh zu tanzen, ist unschicklich; nur beim Anfassen von Obst, Backwerk, ferner beim Umschlagen von Blättern eines Buches oder Notenheftes ist es erlaubt, den Handschuh der rechten Hand auszuziehen.

Auch für Schmucksachen gibt es gewisse Regeln, die beachtet werden müssen. Junge Mädchen z.B., deren schönster Schmuck die Jugend ist, tragen niemals Diamanten, höchstens eine Perlen- oder Korallenkette, ein Medaillon oder Kreuz an schwarzem Samtbande; in späteren Jahren kommen dann die Granaten, Kameen und emaillierten Schmuckgegenstände an die Reihe. Auch Ringe sind für junge Mädchen nicht passend, höchstens ein einfacher Reif mit einer Perle oder einem Brillant am vierten Finger der[104] rechten Hand, nie aber große Siegelringe. Jedenfalls muß der Schmuck, der aus Ohrgehängen, Brosche, Halsband, Kreuz oder Bildkapsel, Armband und Manschettenknöpfen bestehen kann, mit dem Anzuge im Einklang stehen. Sich mit viel Goldsachen zu behängen, ist unpassend, und als selbstverständlich kann doch wohl gelten, daß man zu silbernen Schmuckgegenständen keine goldenen Ketten anlegt. Bei Trauerkleidung sind Schmucksachen aus schwarzem Bernstein oder Haararbiet einzig und allein zulässig.

Herren dürfen auch nicht zu viel Ringe anlegen, auch die großen Anhängsel und dergleichen an der Uhrkette sind zu vermeiden.

Auch der Fächer muß mit der Kleidung einer Dame in Übereinstimmung stehen; man kann natürlich für den Ballsaal und die Promenade nicht den gleichen Fächer verwenden.

Mit Riechmitteln gehe man vorsichtig um. Zur Erzielung eines angenehmen, gleichmäßigen Wohlgeruchs lege man verschiedene Riechkissen sowohl in den Wäscheschrank als auch in den Kleiderschrank, natürlich von demselben Parfüm. Man vermeide aber alle strengen Gerüche, wie Moschus oder Patschuli, die nicht für jedermann angenehm sind.

Übrigens ist bei allen auf die Kleidung bezüglichen Gegenständen der herrschenden Mode Rechnung zu tragen, denn


»Die Leute lieben buntes Licht

Und freu'n wie Kinder sich an neuen Schimmersachen.

So kommt es denn, daß Kleider Leute machen;

Nur Menschen, nein! die machen sie noch nicht,

Der Mensch ist Mensch, die Leute sind verschieden.«
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Quelle:
Berger, Otto: Der gute Ton. Reutlingen [1895], S. 102-106.
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