Auf hoher See.

[202] Im Sommer 1898 brach ich auf nach Westen. Ich rückte streckenweise vor, mit dem Gang der Sonne.

Durch Westfalen über Holland nach Belgien ging der Marsch.

In Brüssel übte ich mich fleißig im Gebrauch des Französischen.

Ende Februar 1899 traf ich, von Lille kommend, in Paris ein.

Ich trug ganze 2 Franken in der Tasche. Aber schon von Lille aus hatte ich nach Haus geschrieben: »Lieber in Frankreich hungern, als mich in Preußen satt essen.«

Am Tage nach meiner Ankunft ward der Präsident Felix Faure begraben. Unter gewaltigem Prunk und Menschenandrang. Bänke, Tische, Trittleitern wurden an den Straßen als Stand vermietet. An den Bäumen hingen und klebten die Menschen wie Bienenklumpen, die sich nach dem Ausflug niederließen.

Ich stand vor der großen Fontäne auf der Place de la Concorde und ließ den Zug vorüberwallen. Mir war zumute, als geleite sich die bürgerliche Gesellschaft in dem prunkvollen Gepränge zu Ehren eines ihrer glänzendsten Vertreter selber zu Grabe. Faure war ja im Grunde nur ein oberflächlicher Blender, der die Eitelkeit der Menschen zu nutzen wußte und dem das läufische Glück nachbuhlte.

Es hieß, der noble Felix sei vergiftet worden. Andre schworen, er sei in den Armen seiner Geliebten, eines ganz gefährlichen Weibes, verschieden.[203]

Er hätte sich damit einen würdigen Ausgang erstorben. Emporkömmling und Dirne haben sich von jeher gut vertragen. Aber die Dirne überdauert den Hirnschlag des ausgebrannten Lebemanns und macht nicht an der Leiche des einen halt.

Paris! Wie der Name klingt! Die Erinnerung an den schönsten Mann und die schönste Frau des Altertums lebt in ihm fort. Wenn jemals bei einem Namen von Vorherbestimmung geredet werden darf, so trifft das zu für den Namen dieser Stadt des Geschmacks und der Lebenslust.

Paris! Auch der Asphalt seines Pflasters klingt! Der Fuß setzt sich fester auf, die Schritte scheinen beflügelt, der Körper reckt sich unwillkürlich geschmeidig hoch. Magnetische Kraft entzittert diesem Pflaster. Unter seinen Schichten empor bebt und singt noch immer der Pulsschlag größter Weltgeschicke.

Berlin ist die Stadt der Hohenzollern, Bismarcks, des Deutschen Reiches.

Paris bleibt die Hauptstadt der Welt, die Geburtsstadt des demokratischen Europas; Paris gehört der Menschheit.

Berlin drängt sein Königsschloß an die stummen Wasser der Spree; grau, freudlos spiegelt es sich in der trüben Flut.

Der Pariser Louvre öffnet seine Arme breit der Sonne und allen Wogenschlägen des Tages; seine Säulengänge und Fenster sind Triumphpforten des Lichts; seine Säle Festräume der Kunst. Majestätisch rollen der Seine Fluten, und über sie hinweg schwingen sich die schönsten Brücken der Welt.

Berlin stellt mächtige Häuserkasten an breite, schnurgerade Straßen. Eine saubere Stadt, so rühmen Einheimische und Fremde, und mit Recht. Aber auch eine kalte Stadt, eine nüchterne Stadt, eine nach allen Regeln der modernen Baukunst angelegte und der modernen Hygiene ausgebaute Großstadt.

Paris ist eine Heimstätte. In schützenden Falten breitet es den weiten Steinmantel der neuen Viertel um die inmitten[204] der Seine ruhende »Cité«. Trauliche Winkel dämmern, stille Gänge laufen fort, weite Zimmer schimmern im Raum. Kostbare Schmuckstücke, uralter Väter Hausrat, glänzen auf Simsen und in Nischen. Auch der Fremde begrüßt diesen Reichtum als ihm vertraut und zugehörig. Denn die Cité bleibt das Vaterhaus der Völker, wo die Wiege stand der neuen Zeit, wo stets das Herdfeuer flammt, an dem sich entzünden die Fackeln des Lebens.

So ist mir Paris in meiner Liebe aufgegangen, als ich es durfte kennen lernen; so lebt es fort in meinem dankbaren Gedächtnis. Freilich, alle Hoffnungen hat es mir nicht erfüllt. Die ersehnte Umwälzung hat es nicht gebracht, erobern ließ es sich nicht von mir. Als armer Flüchtling mußte ich auch über seine Schwelle zurückweichen.

Aber es hat mir die Achtung vor dem geschlagenen Helden in mir zurückgegeben; es hat mich mit großen Gefühlen gerüstet und ich habe es nicht auf Nimmerwiedersehen verlassen.

»Fluctuat, nec mergitur.« »Wogenauf und unter, doch es geht nicht unter.« Dieser stolze Wappenspruch, den ich mir habe verdeutschen lassen, soll auch an der Stirnseite meines Lebens prangen dürfen.


Paris.

Das ist Paris! das ist Paris!

Heisa, wie schwillt mir Herz und Sinn,

Als hätte fiebernd ich geleert

Den Gluttrank einer Zauberin!


Da rollt und tönt, das klatscht und dröhnt,

Die Plätze durch, die Hügel auf!

Die Jagd zum Glück, die wilde Jagd!

Millionen mit im Dauerlauf!


Menschendasein zu ergründen,

Brauch' ich einsam nur zu gehn,

Wo am Wege der Geschichte

Stumme Rätselbilder stehn.
[205]

Denn was je mit Schicksalsgröße

In der Menschheit Leben trat,

Hebt sich hier im Fluß des Tages,

Eine steingewordne Tat.


Obelisk und Römertherme,

Notre-Dame und Pantheon,

Sacré-Coeur und Siegessäule:

Alle zeugen sie davon.


Schreit' ich pilgernd hin und wieder,

Daß ich still vergleichen kann,

Starrt mich, scheinbar wechselnd, immer

Nur ein graues Antlitz an.


Rast' ich sinnend in den Hallen,

Leg' das Ohr ich an das Erz,

Tönt dieselbe wilde Klage

Tausendstimmig mir ins Herz.


In die Wunderwelt des Louvre

Trat ich hohen Herzens ein

Und ich sah und stand und staunte:

Kann das alles wirklich sein!


Denn verdämmert ist die Erde

Und ich steh mit einem Mal

Auf dem Gipfel des Olympos

In dem goldenen Göttersaal.


Lächelnd wandeln alle Hohen

Durch ihr ewig heitres Reich,

In dem Schimmerglanz der Leiber

Einem Chor von Sternen gleich.


Doch nicht weil' ich bei den Sternen,

Nach der Sonne sehn' ich mich:

Schaumgeborne, Aphrodite,

Wunder von Melos, zeige dich!


Sie erscheint! Nun juble, Seele!

Reichres sah mein Auge nie!

Bräutliche Gattin, Mutter der Liebe,

Göttin der Schönheit – Alles ist Sie!
[206]

Ich fand eine Wohnung in einer Mansarde der Rue du Temple, im Faubourg Saint-Antoine, in dessen Straßen seit Jahrhunderten die Garderegimenter der Revolutionen lagern. Fast täglich kreuzte ich den Bastilleplatz und grüßte mit stillem Jubel die fackelschwingende Göttin der Freiheit. Durfte ich mich ergehen, so führte mein Weg mit Vorliebe über den Republikplatz, den belebtesten Platz der Stadt, mit dem herrlichen Standbild der löwengehüteten Republik. So lagert das Faubourg Saint-Antoine auch heute noch, ein freiwillig gebundener Löwe, schützend vor dem Tempel der Volksfreiheiten.

Durch ein Empfehlungsschreiben führte ich mich bei den deutschen Sozialisten ein. Arbeit fand ich anfangs keine. Die drei staatlichen Tabakmanufakturen in Paris durften keinen Ausländer, der nicht französischer Bürger geworden war, in Arbeit nehmen. Geldunterstützung ward mir anfangs durch den internationalen Tabakarbeiterverband, dessen langjähriges Mitglied ich bin, gewährt. Die Hilfe französischer Genossen öffnete mir die Maison du Peuple. Ich verdiente dort meinen Unterhalt durch Handreichungen am abendlichen Schanktisch. Tagsüber hatte ich wenig zu tun. Ich nutzte die Zeit, sah mir die Stadt an, trieb Sprachstudien, übte mich im Lesen und Schreiben.

Ich kam durch Vermittlung eines freisinnigen deutschen Buchdruckers, der einen aus meinem Deutsch ins Französische übertragenen Aufsatz bei der »Aurore« untergebracht hatte, in Verbindung mit französischen Journalisten, die Deutsch verstanden. Sie empfahlen mich an Bekannte, die unsere Sprache lernen wollten.

Unter ihnen befand sich ein Oberarzt, der sich für den zur Zeit der Weltausstellung angesetzten internationalen Ärztekongreß mit dem Deutschen vertraut machen wollte. Ich ging fast ein Jahr lang jede Woche zu ihm. Trotz seiner 55 Jahre lernte er mit dem Eifer eines strebsamen Jünglings. Er zahlte mir fünf Franken die Stunde; seiner Unterstützung[207] habe ich es zu verdanken, daß ich mich das erste schlimmste Jahr über Wasser halten konnte.

Paris und die öffentliche Meinung standen damals im Zeichen des Dreyfusskandals. Die Republik machte überhaupt eine schwere Krisis durch. Die nationalistischen Verschwörer fanden einen unheimlichen Rückhalt an den Generälen und dem katholischen Klerus.

Dieselben unheilvollen Mächte, die in andern Ländern Fortschritt und Vernunft zur Strecke bringen, hier hatten sie keinen Erfolg. Militarismus und Klerikalismus wurden von der bürgerlichen Hand entlarvt und an den Pranger gestellt. In Frankreich senken sich nicht umsonst Regimentsfahnen und Offizierssäbel vor dem bürgerlichen Rock, und über dem Kreuz der Kirchen breitet seine Flügel der Wächter der Freiheit, der gallische Hahn.

Zola, Picquart, Scheuer-Kestner, Anatole France, so hießen in jenen Tagen die Wortführer des menschlichen Gewissens. Ihr edler Kreuzzug galt der Rettung eines Juden. Ich mochte den Antisemitenrummel nie mitmachen. In der jüdischen Synagoge ehre ich den ältesten Tempel der gottgläubigen Menschheit. In der jüdischen Nation bewundere ich die zäheste Stammesgemeinschaft, die ihre Eigenart, ihre Tüchtigkeit durch Jahrtausende siegreich gehütet hat. Die Juden sind das Märtyrervolk Jehovas und der Geschichte; sie bleiben eine unentbehrliche Kraft am Kulturhebel der Gegenwart.

Die Ausstellung brachte den erwarteten ungeheuern Menschenzulauf. Ich suchte meine inzwischen gesammelten Sprachkenntnisse nutzbar zu machen und bot mich als Fremdenführer aus.

Meistens führte ich Gruppen bis zu zehn Personen, was mir manches Geldstück einbrachte. Aus allen Gesellschaftsklassen setzten sie sich zusammen. Schneidergesellen, Buchdruckergehilfen, Berliner Markt-, Fisch und Schlachterweiber, Staatsanwälte, Künstler, Schriftsteller, Kongreßmitglieder[208] vertrauten sich meiner Leitung an. Ich gab mich ohne eitle Lobesanpreisung, aber mit bescheidenem Stolz.

»Was verlangen Sie?« So lautete stets die erste Frage.

»Nichts,« antwortete ich.

»Aber Sie können uns doch nicht umsonst führen.«

»Sehen Sie, meine Herrschaften, wenn Sie am Abend Grund haben, mit meiner Führung unzufrieden zu sein, so schulden Sie mir nichts. Habe ich aber Ihren Erwartungen entsprochen, so ersuche ich Sie um ein anständiges Honorar.«

So schaffte ich mir Achtung und Vertrauen. Und ich darf behaupten: meine Schützlinge haben durch mich was gesehen und gelernt. Ich kannte Paris in allen Höhen und Tiefen; ich wußte auch Bescheid in den Hallen der Kunst und auf den Stationswegen der Weltgeschichte.

Einmal nur hat mir ein Kunde den Vorwurf gemacht, ich sei ein schlechter Führer, ich wüßte ja nicht einmal, wo nackte Damen Champagner für siebzig Franken die Flasche kredenzen.

Natürlich war dies noble Früchtchen ein Landsmann, ein gesinnungstüchtiger Deutscher, ein windiger Preuße aus Potsdam.

Während des Sozialistenkongresses durfte ich die berühmtesten Vorkämpfer der internationalen Sozialdemokratie in einem Raume vereint sehen.

Feuer- und Strudelköpfe aus Frankreich, Belgien, Italien. Jaurès, van der Velde, Ferri warfen das Gold ihrer Beredsamkeit wie einen Regen der Schönheit aus. Auch einer deutschen Sozialistin durfte ich die Hand drücken, Lily Braun. Die hoffähige Tochter des Generals von Kretschmann hatte sich dem Genossen Braun angetraut und stand ihm zur Seite als kampffreudiger Kamerad. Ich bewundere diese aristokratische Rassefrau aufrichtig; aber meine Bewunderung gilt nicht nur der redebegnadeten Sozialistin, sie flammt zugleich dem Prachtweibe, das sie ist.

Noch eine andere Begegnung machte ich, auf die ich nicht gefaßt war. Die Weltausstellung brachte auch den[209] Priesterinnen der Venus reiche Ernte. Aus aller Herren Städte waren die girrenden Damen herangestrichen.

Eines Abends begleitete ich einen Fremden durch die Freudentempel des Montmartre und der großen Boulevards. Wir betraten auch den Moulin Rouge. Es war ein besserer Abend; der Cancan tanzte seine kühnsten, spitzenraschelnden Verrenkungen. Wir durchschritten die Tischreihen auf der Suche nach einem Stuhle. Plötzlich merke ich, wie von einem besetzten Tischchen aus zwei Augen mich merkwürdig anstarren. Ich blicke hin. Ich sehe ein bleiches Frauenantlitz, das sich mir erwartungsvoll entgegenwendet. Ich suche in meiner Erinnerung. Nun lächelt die Unbekannte, ein etwas müdes, gütiges Lächeln. Und da traf's mich in jäher Erkenntnis! Die Abschiedsworte meiner Schwester fielen mir ein. Sie mußte es sein. Sie hob sich von ihrem Stuhle. Es war Sannchen.

»Du in Paris, Franz?«

»Na, du vielleicht nicht?«

Wir lachten über den Witz und schüttelten uns herzlich die Hände.

»Das nenne ich eine Überraschung. Ich freue mich aufrichtig, dich zu sehen, Franz!«

»Und ich erst, nach all den langen Jahren der Trennung!«

»Du hast mich also nicht ganz vergessen?«

»Dafür hattest du mir eine allzu liebe Erinnerung gelassen, Sannchen.«

Sie errötete leicht und lachte kurz und schrill.

»Ach so, du denkst noch daran!«

Sie stand plötzlich verlegen und bohrte die Spitze ihres Sonnenschirms in den Boden.

»Bist du heute abend frei?«

Sie erwiderte hastig: »Heute abend nicht und morgen auch nicht. Aber übermorgen abend.«

»Du gehst mit dem blonden Herrn da?« Ich fügte[210] boshaft hinzu: »Etwas schlanker hättest du ihn schon wählen können!«

»Es ist ein Bierbrauer aus Dessau. So reich wie schwer.«

»Ach so! Ja, ja! Der goldene Ochse!«

»Man muß leben. Kommst du übermorgen? Meine Adresse lautet, – schreib' sie dir auf.« Sie flüsterte mir Straße und Nummer zu.

Ich betrachtete das Mädchen genauer. Sie war wirklich gealtert. Die stark geschminkten Wangen schienen schlaff. Die Augen flackerten unstet. Zwar die Schultern glänzten noch voll. Aber die Frische fehlte, der jugendliche Duft, an dem ich mich einmal berauschen durfte. Und jetzt, wie sie die überroten Lippen zu einem breiteren Lachen verzog, klaffte in der oberen Zahnreihe eine kleine Lücke: ein Augenzahn war halb abgebrochen.

Der Anblick dieser Wunde beleidigte mein Auge und entnüchterte mich. Nichts ist mir peinlicher, als zwischen Frauenlippen eine auch nur leicht verstümmelte Zahnreihe.

»Du kommst übermorgen?«

Sie flüsterte es verlangend.

»Dein Herr wird ungeduldig. Wir lenken die Aufmerksamkeit auf uns.« Ich sagte es kühl und besorgt.

Ein trauriges Lächeln spielte um ihre Mundwinkel und zog tiefe Falten zum Kinn herunter.

»Ich verstehe, Franz, Adieu! Es würde mir aber so großes Vergnügen machen. Und du würdest nichts dabei verlieren. Damals war ich noch ein dummes deutsches Gänschen. Aber jetzt ...«

Ich ließ ihre Hand aus meinen Fingern fallen. »Adieu!«

Noch einmal drängte sie sich an mich heran. Die geschminkten Lippen zischelten: »Der Dickwanst und die andern sind meine – Freunde. Doch du, du bliebest auch jetzt mein Geliebter!«[211]

Ich wandte mich um und ließ sie stehen.

Als wir endlich einen Stuhl ausfindig gemacht hatten, sah ich verstohlen nach ihrem Tischchen hin. Ihr Nachbar redete verdrossen auf sie ein. Sie starrte mit verzagtem Ausdruck vor sich hin. Jetzt sah sie noch älter aus. Plötzlich erhoben sich beide. Sannchens Augen schweiften zu mir herüber. Ich hielt ihren Blick aus und der darin flackernden Frage ruhig stand.

Da neigte sie mit trübem Lächeln den Kopf und schritt hinter ihrem Sultan hinaus.

Ich habe sie nicht aufgesucht und sah sie nicht wieder.

Ich hatte in Paris überhaupt wenig mit Weibern zu tun. Mir fehlte es dazu an Zeit und an Lust. Die gewöhnlichen Strichvögel waren mir zu ordinär. Ein kleines Techtelmechtel hatte ich angezettelt und in dem lebhaften Ladenmädel eine kundige Sprachlehrerin gewonnen. Das Verhältnis ließ sich ganz artig an. Aber der leichtblütigen Hexe ward es an der Seite des steifen »Prussien« nicht recht warm. Sie blieb im Herzen eben zu gut französisch und brach dem Erbfeinde durch.

Ich habe einen ähnlichen Versuch nicht wieder angestellt.

An den gepriesenen Pariserinnen fiel mir unter anderem auf, daß so viele Schnurrbärtchen tragen und kokett herausfordernd mit diesem Zug der Männlichkeit großtun.

Wollte ich mich für einige Zeit von allen Anfechtungen des sündigen Fleisches schützen, so spazierte ich durch die großen Markthallen.

Da hockte so manches Schlächter- und Karpfenweib mit derartig schnauz- und knebelbärtigem Pudelgesicht, daß mir die Sage von dem schönen Geschlechte in einem Schauer des Abscheus unterging.

Und doch tollen durch die Geschichte Neu-Frankreichs Dirnen und Damen der Hallen, Hüfte an Hüfte, als Amazonen der Freiheit.


Zwei Lieder.

[212] 1.


Das ist ein munter Gekose

Beim Abendlampenschein:

Hinschwebt der lose Franzose

Am Arm sein Mägdelein.


Er faßt sie keck um die Taille,

Er raubt ihr Kichern und Kuß,

Derweile, derweile, derweile

Ich einsam wandern muß.


Wohl feurige Augen mich locken,

Ich schreite stramm dahin;

Ich fühle, süß erschrocken,

Daß ich ein Preuße bin.


2.


Im Wäldchen von Vincennes

Weiß ich manch grünen Platz;

Dort bin ich oft gesessen

Mit meinem welschen Schatz.


Im Wäldchen von Vincennes

In grüner Mittagsstund

Lernt' ich den welschen Wortschatz

Von hellem Mädchenmund.


Im Wäldchen von Vincennes

Probt' ich, ins Grün geheckt,

Wie süß auf welschen Lippen

Ein deutsches Küßchen schmeckt.


Im Wäldchen von Vincennes

Verging der deutsche Petz

Sich mit der welschen Katze

Im Grünen am Gesetz.


Im Wäldchen von Vincennes

Erkannt' ich, grün gerührt,

Daß mich die welsche Unschuld

Französisch nasgeführt.


O Wäldchen von Vincennes

Mit manchem grünen Platz,

Wie ward in dir bereichert

Mein welscher Wörterschatz.


Nach der Ausstellung wandte ich mich mit gesteigertem Eifer meiner Weiterbildung zu.

Die volle Herrschaft über die französische Schriftsprache konnte ich mir nicht aneignen. Auch spreche ich sie nicht mit einer solchen Fertigkeit, daß ich sie in Frankreich lehren könnte. Aber ich lernte doch so viel, daß ich die verschiedenen Stilgattungen verstehen, die literarischen Erzeugnisse verschiedener Perioden aneinander messen und einschätzen konnte. Ich durfte mit Recht die Hoffnung hegen, daß ich mich bei eifrigem und ernstem Streben genügend vervollkommnen würde, um in Deutschland als französischer Privatlehrer ein anständiges Leben zu führen. Im Lande der Blinden ist bekanntlich der Einäugige König.[213]

Die fortgesetzte Übung im Französischen kam auch meinem Deutsch zu gut. Ich lernte mich klarer und bestimmter ausdrücken, wenigstens mit der Feder. Ich übersetzte an den Abenden, wo ich regelmäßig eine Volksbibliothek oder die Bibliothèque Sainte-Geneviève besuchte, aus dem Französischen ins Deutsche und bildete so mein Deutsch an gallischer Feinheit und Leichtigkeit. Ich denke doch noch ein deutscher Schriftsteller zu werden.

In jenem Winter traf ich mich sehr oft mit einem jungen Deutschrussen, der mich sogar in seine Familie einführte. Er brachte mich mit den äußersten Flügelmännern der Sozialdemokratie zusammen, die sich eher Anarchisten oder Nihilisten nennen dürften.

Meinen Haß gegen den Militarismus fand ich bei diesen Männern in gesteigerter Form. Sie predigten die Vaterlandslosigkeit schlechthin. Die dreimal heilige Regimentsfahne, die Trikolore, bei deren Anblick alle Franzosenherzen höher schlagen, sollte auf den Mist gepflanzt werden, und um sie herum die Landesfahnen sämtlicher Großmächte. Das wäre die richtige Fahnenweihe. Erst wenn die eine rote Fahne siegreich über den verwischten Grenzen flattere, könne von »Menschenliebe« die Rede gehen; in der Vaterlandsliebe finde die Menschenliebe bis heute ihre Henkerin.

Diese so maßlos zu Worte gebrachten Forderungen machten mich anfangs wirbelig; wie ich aber kühlen Kopfes darüber nachdachte, fand ich sie so ungeheuerlich nicht.

Was ist das Ziel der Sozialdemokratie anders? Was bezweckt die Internationale weiter als die Verbrüderung der Völker über die Vaterlandsschranken hinweg? Und wenn der Vaterlandsgedanke dieser letzten glanzvollsten Entwicklung des Menschheitideals wirklich seine Kanonen und Bajonette entgegenpflanzt, sollte, müßte da nicht ...? Aber nein, noch wage ich es nicht, diesen Traum bewußt zu Ende zu träumen ...[214]

Meine Fähigkeiten, mein Wissen fanden bei den Genossen immer freundlichere Anerkennung. Im internationalen Leseklub hielt ich Vorträge in deutscher Sprache. Für die Parteitagung der französischen Sozialisten in Lyon arbeitete ich eine kritische Denkschrift aus, in der ich die Begriffe »Revolution« und »Evolution« beleuchtete. Ich reichte diese Schrift dem Kongreßbureau ein und fand schmeichelhafte Beachtung.

Langsam nahte ich dem Ziel meines Ehrgeizes. Die erste freie Stelle an der Redaktion der »Petite République« sollte mir zufallen. Hier fragte niemand nach meiner Vergangenheit. Ich brauchte weder Taufschein noch Militärzeugnis vorzuzeigen. Ich schien ein Mensch, der das Herz auf dem rechten Fleck hat. Ich konnte meinen Mann stehen. Das internationale Paris verlangt nicht mehr.

Da kam der Sommer 1901 und brachte den Besuch des Zaren Nikolaus II.

Die Sozialisten veranstalteten Riesenkundgebungen gegen die Ehrungen, womit die große Republik den Selbstherrscher des rückständigsten Landes, den blutbesprengten Felsen aller Reaktionen empfing. Die Pariser Polizei übte eine strenge Aufsicht. Jeder verdächtige Ruf ward verfolgt.

Nach einer dieser Versammlung geschah das Plötzliche. Jaurès hatte alle Flammen seiner Beredsamkeit lohen, sämtliche Stürme seiner Entrüstung brausen lassen.

»Was sollten die sechzig Millionen unglücklicher Russen denken,« so ungefähr führte er aus, »wenn sie die Kunde erhielten, wir französischen Sozialisten hätten ihre Leiden und ihre Hoffnungen im Taumel sogenannter patriotischer Begeisterung vergessen? Wir sind es den geschichtlichen Überlieferungen unseres Landes, den großen Gedanken der Revolution, der Befreierrolle des sozialistischen Evangeliums schuldig, den Unterdrücker an seine Opfer, den Selbstherrscher aller Moskowiten an die Gleichheit in der Freiheit zu erinnern. Wir stehen nicht auf seiten der Götter und Götzen, unsere Liebe gehört den Besiegten, den Märtyrern[215] des Daseins und der Überzeugung. Über die Panzertürme des kaiserlichen Kriegsschiffes hinweg, an den Stahlflanken des kaiserlichen Salonzuges vorbei, senden wir, im Namen des französischen Proletariats, unseren Treuschwur dem russischen Volke.

Die französische Bourgeoisie donnert, läutet und jubelt dem Zaren. Die französische Sozialdemokratie bemitleidet, tröstet und grüßt den Muschik.«

Die Zuhörer glühten, brandeten, tobten. »A bas le Czar!« Aus hundert, tausend Kehlen brachs hervor. Über den Köpfen, über den geschwungenen Hüten und Mützen, flatterten rote Fähnchen gleich blutigen Zungen.

Durch die Türe im wilden Schwall wälzte es sich hinaus. »A bas le Czar!« im Wirbelsturm weiter durch den Lärm und das Poltern der Straßen.

Aber da brach es auch schon in unsere Masse, ein schwarzer Keil, ein tollwütiges Rudel, die Sergeants de ville, im brutalen Ansturm, mit Fäusten und Stiefeln.

»A bas le Czar!« Ich brüllte es mit aller Lungenkraft. Es war mir ein Hochgenuß, so zu brüllen. Ich legte meine lauteste Überzeugung in dieses Brüllen, meine ganze kochende Seele.

»A bas l'Assass ...!« Weiter kam ich nicht. Ein Eisengriff schnürt mir die Kehle zusammen. Ich starre in ein graß verzerrtes bärtiges Männergesicht mit stier vorquellenden Augen. Ich fühle mich zurückgestoßen, hinausgeschleudert, gepackt. – Ich bin verhaftet.

Der Selbstherrscher aller Reußen rächte sich unerbittlich. Ich hatte aufrührerische Rufe ausgestoßen, mich schwer gegen einen Frankreich verbündeten Fürsten vergangen. Ich ward als lästiger Ausländer ausgewiesen.

Man schob mich, auf meinen Wunsch, über die luxemburgische Grenze.

Quelle:
Bergg, Franz: Ein Proletarierleben. Zweite Auflage, Frankfurt a. M. 1913, S. 202-216.
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