2.

[15] Den ersten Schulgang hatte ich sechsjährig an der Hand meines ältesten Bruders gewagt.

Unsere Volksschule umfaßte 8 Klassen. Die einzelnen Klassen waren überfüllt; manche zählten 80, ja 100 Schüler. Da konnten die Lehrer ihre Zöglinge unmöglich ganz in der Hand haben. Meiner Lehrer denke ich noch heute in dankbarer Verehrung, mit Ausnahme eines Trunkenboldes, der uns Kinder der Armen »Vagabunden« schimpfte und sinnlos verprügelte.

Unterrichtsmittel und Lehrverfahren konnten den Umständen nach als gut betrachtet werden. Aber die Erziehung war ein Hohn auf den Geist des Jahrhunderts. Mit Stock, Rohr, Peitsche, mit Hand, Faust und Fuß ward auf allen Teilen des Schülerleibes herumgearbeitet. Sogar eine richtige Prügelmaschine stand im Gebrauch.

Wo bleibt da die Rücksicht auf des Kindes Zart- und Ehrgefühl? Wird nicht durch das öffentliche Herunterreißen und Züchtigen das Ehrgefühl aus dem Kinde herausgetrieben? Mutter, ich bin dir heute noch dankbar, daß du mich züchtigtest allein im Zimmer, wo es niemand sah; denselben Tag aber noch mich lobtest, als Tante Pauline zum Besuche kam und nach meinem Betragen fragte. Anfangs schwanktest du, ich sah es wohl; dann aber traf dich mein[15] ängstlich flehender Blick und du antwortetest: »O, der Franz schickt sich sehr gut.«

Diese Schultyrannei zeugte eine heillose Furcht. Manche Kinder mußten zur Schule geschleppt werden, mit Stricken gebunden, andere rissen aus, streiften tage-, ja wochenlang in der Freiheit umher, schliefen Sommer über bei Mutter Grün, während des Winters in Schuppen, mausten Obst und Feldfrüchte oder bettelten.

Eines meiner peinlichsten Schulabenteuer ist folgendes: Als ich in der fünften Klasse saß, waren wir eines Abends mit Hausarbeit überladen, und ich bat meine ältere Schwester Sophie, mir bei der Schreibaufgabe zu helfen. Das Heft wurde vom Lehrer nachgesehen. Er merkte die fremde Schrift, stutzte, rief mich aus der Bank und fragte, wer das geschrieben habe.

»Ich habe es geschrieben.«

Er wiederholte die Frage. Ich blieb bei meiner Behauptung. Nun durfte ich meinen Platz wieder einnehmen; ein Schüler aber mußte meine Schwester aus dem anstoßenden Flügel herbeiholen. Sophie kam, gefolgt von ihrem Lehrer. Sie gab sofort ihre Mithilfe zu. Sie erhielt dafür eine Ohrfeige und ward vor der Knabenklasse ausgeschimpft. Das erlaubte sich ihr Lehrer, derselbe, dessen Trunksucht öffentliches Ärgernis gab.

Ich selber wurde, wie rechtens, von meinem Lehrer mit dem Rohr gestraft. Damit schien die Sache erledigt. Aber am Schluß des Halbjahrs ward ich nicht versetzt, trotzdem minder begabte und minder fleißige Schüler steigen durften.

Ein Lehrer sollte keinem Kinde was nachtragen. Vollends nicht für solchen Vorfall. Hätte er mich, statt vor der ganzen Klasse, unter vier Augen zur Rede gestellt, gewiß würde ich ihm die Wahrheit bekannt haben. So trieb er mich zum Leugnen, denn ein Knabe will ja nicht als Feigling vor der Klasse stehen; er glaubt vielmehr als Held zu tun, wenn er bei seiner Lüge verharrt.[16]

Wohl ist der Schulzwang eine bedeutende Kulturtat. Aber die Schule bringt durch solche erzieherischen Pferdekuren die Kinder oft in große Verwirrung mit sich selbst, wobei sie an Aufrichtigkeit, Selbstvertrauen, Selbstachtung sehr vieles einbüßen. Mit Recht ehren wir die bedeutenden Erfinder. Eine neue Maschine, ein verfeinerter Maschinenteil, ein vereinfachtes Verfahren schafft Wunder, ist häufig Millionen wert, verbessert die Lebensbedingungen ins Unglaubliche. Aber für die Veredlung, für die Verbesserung des Menschenherzens kommt dabei nichts heraus. Neue Bedürfnisse wachsen, neue Wünsche werden laut, neue Gier ruft nach Befriedigung, und schließlich faucht die Katze, grunzt das Schwein im Menschen frecher und heißer als sonst.

Auf Mord- und Zerstörungsmaschinen werden jahraus jahrein Milliarden verschwendet. So will es die Größe des Vaterlandes! So fordert es der Dämon Militarismus! Der preußische Leutnant, ein kleiner Gott; der preußische Unteroffizier, ein großer Vizehalbgott, die Schulkinder, Versuchskarnickel; die Schullehrer, Knechte ... Nun, wir werden auch darin einmal gründlichen Wandel schaffen.

Meine Lieblingsfächer in der Volksschule waren Erdkunde, Natur- und Weltgeschichte; meine Lieblingsübung der freie deutsche Aufsatz.

Die Landkarte verehrte ich wie ein Heiliges; noch heute übt ein Erdglobus eine magische Gewalt auf mein Auge und auf meinen Geist. Fast berauscht ward ich vor Glück, als der Lehrer uns zum erstenmal die Sonnenbewegung der Erde und zugleich die Erdumkreisung des Mondes vorführte. Seither wünschte ich sehnlichst, eine Darstellung des ganzen Planetensystems zu sehen. Vor zwei Jahren ist mir dieser Wunsch in Erfüllung gegangen. Die zwei Planetarien des Pariser Louvre fesselten mich oft stundenlang.

Der Religionsunterricht war nicht ganz nach meinem Geschmack. Meine Mutter war fromm. Sie las gerne laut aus der Bibel vor. Wir Kinder nahmen, wie das nicht[17] anders möglich ist, die Anschauungen der Eltern ohne weiteres hin. In der Schule aber ward uns des Guten etwas viel zugemutet. Vor allem das wörtliche Auswendiglernen ganzer Bibelkapitel und einer Unmasse Gesangbuchslieder langweilte! Himmel, was hagelte da nicht alles an Schlägen in unsere Reihen hinein! Ich schlüpfte im ganzen noch ziemlich glatt durch. Dafür plagte ich mir aber oft noch während des Schulganges den Kopf, betrat die Klasse mit fiebriger Stirn und saß wie erlöst, wenn ich das im Augenblick für den Augenblick Gelernte zur rechten Zeit herunterleiern konnte.

Im Frühjahr 1881 verließ ich die Volksschule. Mein Zeugnis vermerkte u.a.: Führung: gut. Schulbesuch: regelmäßig. Die Noten der einzelnen Fächer schwankten von mittelmäßig bis sehr gut.

Außerhalb der Schule hatte ich in jenen Jahren, trotz der manchmal recht gedrückten Stimmung im Elternhause, ein richtiges Kinderglück genossen. Ich brauchte nach der Schulzeit nicht zu arbeiten, wie viele meiner Altersgenossen; ich konnte in Freiheit durch Flur und Wald streifen. Da suchte ich Blumen und Kräuter, haschte Käfer und Schmetterlinge; besonders gerne fing ich, auf der Wiese und im Kornfeld, große Heuschrecken, setzte sie in einen Käfig, fütterte sie mit Kirschen und geschabten Möhren und freute mich, wenn sie zum Gesang die Flügel strichen.

Früh lernte ich schwimmen. Den breiten Pregel außerhalb des Stadttores durchkreuzte ich sonder Mühe. Im Herbst kamen Ball und Reif und Drache zu ihrem Recht. An den längeren Abenden spielten wir zu Hause Dame oder Karten; es wurden auch wohl Pfänderspiele abgehalten; dann machten aber die Großen lieber mit als wir Kleinen, aus Gründen, die mir damals noch nicht bewußt waren.

Die Fülle der Wonne brachte der Winter mit Schnee und Eis. Zur Eisbahn zog mich's mit Leidenschaft. Meine Mutter sah mich nie ohne heimliches Bangen mit den Stahlschuhen[18] verschwinden. Sobald ich die glatte Fläche unter mir knistern hörte, war ich in einer andern Welt. Immer weiter trieb es mich flußabwärts auf schneefreier, vom Nord- oder Oststurm reingefegter Bahn. O die selige Lust, wenn der Wind in den Rücken blies und wir hinschwebten wie der Erde enthoben, durch immer wechselnde Winterlandschaften, dem Meere zu, vom Meere zurück im Mondschein, unter den Sternen mit den Sternen! Denn es ward gewöhnlich Nacht, bevor ich mich losreißen konnte. Und unter meinen Füßen die Sterne im Eise liefen mit.

Quelle:
Bergg, Franz: Ein Proletarierleben. Zweite Auflage, Frankfurt a. M. 1913, S. 15-19.
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