2.

[112] Des Rekruten Tag entwickelt sich in den Hauptfäden wie folgt:

Morgens in der Frühe stürmt wie ein Wilder der Unteroffizier vom Dienst den Korridor entlang, reißt die Türen auf und brüllt ein gräßliches »Aufstehen!« in die Stuben hinein. Denn der Soldat muß dem Schlafe mit Schrecken entrissen werden.

Rasch geht's in die Kleider, nach ein paar Minuten heißt es: »Raustreten! Raus!«

Einige Schwerfällige sind noch nicht so weit.

»Raus! Raus! Raus!«

Fluchen, Schimpfworte, Knüffe, Tritte treiben die Säumigen auf den Gang. Die Korporale haben Zeit genug, noch schnell mit Ohrfeigen um sich zu werfen. »Ich werde euch die Betten machen!« »So tritt das Schwein heraus!«

Dann heißt es: »Korporalschaften melden!«[112]

»Stillgestanden!«

Die Korporale begeben sich vor den Feldwebel zum Frühbericht.

»Korporalschaften runterrücken!«

Überdem mustert der Feldwebel die Stuben. Zwei, drei Strohsäcke liegen auf dem Boden. Die Namen der Bettkasten werden vermerkt. Einige Betten sind schlecht gemacht: Eingerissen und vermerkt. Ein oder zwei Spinde sind nicht verschlossen: alle Sachen im Durcheinander heraus auf den Boden und vermerkt.

Nun steigt der Feldwebel in den Hof, wo es wie in einem Ameisenhaufen wimmelt. Der Rekrutendrill ist in voller Tätigkeit. Es erscheint auch der Rekrutenleutnant.

Die Kommandorufe gellen wie verrückt und kreuzen sich im schrillen Gewirr. Jeder Korporal hat einen Gefreiten und einige alte Leute zur Aushilfe. Diese »Hetzhunde« laufen hinter den geschlossenen Reihen hin und »korrigieren« die Rekruten, mit Fäusten und Füßen, ohne ein Wort zu sagen.

Die Kompanien eifern untereinander. Leutnant und Feldwebel werfen manchen forschenden Blick zu den übrigen Rekrutenabteilungen hin, um deren Fortschritte zu merken. In derselben Kompanie überwachen sich die Korporale mit eifersüchtiger Beängstigung. In ein paar Wochen ist Rekrutenvorstellung vor dem Obersten. Da will keine Kompanie, weder Leutnant noch Korporal, vor einem Kollegen zurückstehen.

Diese Morgenübungen dauern zwei Stunden. Eine Pause von zehn Minuten gibt den Rekruten Zeit, sich für die folgenden Prüfungen zu sammeln.

Der Feldwebel läßt die vermerkten Übeltäter vortreten. Aber merkwürdig! Er zeigt sich gnädiger gegen diese als gegen den Korporal. Der Rekrut lacht natürlich im dankbaren Herzen und denkt: »Du hast da aber einen guten Feldwebel.« In Wirklichkeit wird an ihm ein Kunstgriff geübt, der in der Armee vom obersten General bis zum[113] Gefreiten in Mode ist. Jeder Vorgesetzte rüffelt den ihm unmittelbar Unterstellten; gleich einer Lawine schwillt dann das auf dem Gipfel gesprochene Wort der Rüge im jähen Absturz an, bis es über den Gefreiten hinweg mit wütiger Gewalt zwischen die Rekruten hineinbricht. Bei sämtlichen Obliegenheiten des innern und äußern Dienstes wird der Korporalschaftsführer derb mit gerüffelt. Jeder Mangel in der Kompanieführung bleibt an ihm kleben.

Der Korporal müßte ein Gott sein, um dem allgemeinen Anprall Widerstand zu leisten. Er ist oder war zu meiner Zeit leider allzuhäufig ein roher Mensch, dessen Instinkte sich auf den Kasernenhöfen mit Genuß austoben wollen. Kein Wunder, daß sich sein Zorn über die oft ungerechten Stoße mit Schimpfgetöse und Ohrfeigenschall entlädt.

Und die lautdonnernden Gewaltigen sind noch nicht die schlimmsten.

Viel gefährlicher ist jener gefrorene Unhold, der mit einer eigentümlich veränderten Kasernenstimme, die Augen von den Gesichtsmuskeln wie von einem erstarrenden Lächeln umspielt, einen gedämpften Befehl erteilt, dann mit einer scharfen Änderung des Gesichtsausdrucks zum Natürlichen, einige Fußtritte und Maulschellen austeilt und sich rasch wieder hinter die Maske eines unheimlichen Grinsens flüchtet, vor dem ein Pferd zitternd zurückbäumen würde.

Mit sägekrächzendem Tonfall, der dem Rekruten durch alle Knochen schneidet, befiehlt er, die unordentlichen Betten, Spinde und Stuben zu ordnen oder zu reinigen. Aber diese Arbeit darf der »Schuldige« nicht selbst besorgen, dazu werden andere kommandiert. Die Hetzhunde und einige ältere Leute leisten dem Rekruten auf einmal Burschendienste; sie wenden den Strohsack, führen den Besen, ordnen den Spind. Der Rekrut sieht ihrem Treiben zu mit erschlafften Gliedern, vor den Augen einen bodenlosen Abgrund. Er weiß, was seiner harrt.

Im gegebenen Augenblick verläßt der Korporal des Zimmer. Kaum hat sich hinter ihm die Türe geschlossen,[114] so tritt, wie auf ein Zeichen, augenblickliche Stille ein. Dann aber stürzt es über den armen Jungen her wie ein Rudel wilder Tiere. Der verdammte Kerl soll es büßen, daß sie sich seinetwegen abmühen mußten! Mit Faust und Stiefel, mit Besen und Bürste haut und stößt es auf den Armen ein. Er ist seinen Peinigern hilflos ausgeliefert. Aber der Korporal hat seine Genugtuung. Die Schande der Korporalschaft ist getilgt.

Welch ein Vorwurf bietet sich da dem dramatischen Dichter, einem Dichter, der den Mut hätte, die wirkliche Kaserne auf den Brettern seiner Bühne aufzubauen!

Fort, ihr elenden Soldatenpossen mit Gesang! Ihr verlogenen Kasernenschwänke und Militärhumoresken! Niedrige Soldschreiber, wertlose Stümper verraten und verkaufen mit ihren Sudeleien das zertretene Volk ein zweites Mal. Wann erscheint der geniale Dichter und edle Menschenfreund, der es wagt, Recht zu schaffen den Tausend und Tausend Märtyrern, deren Leib geschändet, deren Seele mit Flammenruten gepeitscht wird, die im fürchterlichsten Sinne dazu verdammt sind, zu leiden, ohne zu klagen?

So mancher zertretene Menschenwurm würde sich an der edlen Entrüstung jenes begnadeten Wortführers aufrichten. So mancher Selbstmord würde durch des Dichters Richterschwert eine – wenn auch zu späte – Sühne finden.

Dieser Dichterheiland der Kasernensklaven läßt vielleicht immer auf sich warten.

Ich aber wende mich nach dieser kurzen Abschweifung wieder dem Tagewerk der Unerlösten zu, wie es mir in meinen Jahren damals als Regel erschien.

Die junge »Remonte«, wie die Rekruten genannt sind, hat sich sobald wie möglich mit dem Gedanken vertraut zu machen, daß der Rekrut einstweilen noch minderwertiges Menschenmaterial ist, das »geknetet werden muß«. Sogar die alten Mannschaften, die zwei- und dreijährigen Soldaten, tragen zur Verschlimmerung seines Schicksals das ihrige bei. Sie haben dazu eine Art überliefertes Recht.[115]

Betritt der Rekrut während der ersten Zeit die Stube der alten Mannschaften, so muß er die Erlaubnis zum Eintritt erbitten. Häufig behagt es den »Blausäcken« und »Reservisten«, ihn in der Türe stehen zu lassen, oder man befiehlt ihm gar Kniebeuge und Gewehrstrecken, zu gegenseitiger Erheiterung.

Wird der Rekrut, nach der Rekrutenvorstellung vor dem Obersten, den alten Mannschaften auf den Stuben zugeteilt und der Kompanie zum Exerzieren einverleibt, so geht die Hölle erst recht los.

Für den geringfügigsten Fehler des einzelnen muß die ganze Kompanie durch anstrengende Wiederholungen mitbüßen. Da setzt es denn für den im Dienst unsichern Rekruten Stöße und Tritte, aus den hintern Gliedern, so daß er seine Peiniger gar nicht sieht. Er darf sich im vollen Exerzieren nicht umsehen und taumelt unter den Mißhandlungen wie ein Trunkener weiter. Der Hauptmann verfügt sogar über ein eigenes Mittel, die sich »Verlaufenden zurecht zu stoßen«. Er gibt das Kommando: »Der mittelste Mann (mit Namen genannt) kehrt! Richt euch! Marsch! Marsch!« Bei diesem Befehl, fünf- bis zehnmal rasch wiederholt, ohne abzuwarten, daß die Flügel in Richtung sind, dreht sich die Kompanie wie ein in wilder Wut losgelassener Kreisel um den immer Kehrt machenden mittelsten Soldaten als ihren natürlichen Mittelpunkt, und es werden diesem in der beabsichtigten Verwirrung ungezählte Hiebe, Stöße, Tritte zugemessen. Ein gräßliches Bild!

Diesem verruchten »Teufelstanz« schließen sich würdig an die Quälereien wie: »Laufschritt, marsch, marsch! Auf! Nieder! Auf! Nieder! Hinlegen! Auf! Rechts und links aufmarschieren, marsch, marsch! Abbrechen! Aufmarschieren usw.«. Wer nennt alle Qualen, die dem Soldaten als »Pflicht« auferlegt werden, als z.B. »Die Fersen gehoben, die Knie gebeugt!«, unter fortgesetztem Gewehrstrecken! Damit der Korporal vom Kommandieren: »Das Gewehr vorwärts streckt! Beugt! Streckt! Beugt!« usw. nicht ermüdet,[116] erfand man das Kommando: »Fortgesetzt!« So bleibt dem Kommandierenden nur noch die Mühe, die stets schwächer zuckenden Krämpfe einer Art Todeskampf zu überwachen.

»Ha, der Kerl will nicht mehr,« heißt es, wenn die Kraft versagen will. »Was der Kerl da für Gesichter schneidet! Was das Vieh dort nach Luft schnappt!«

Ist der Soldat tatsächlich mit seiner Kraft zu Ende, können die Hände nicht weiter strecken, zittern ihm Knie und Beine, hängt das Gewehr nur noch in gefühlsberaubten, gelähmten Händen, so gibt wohl auch das Seitengewehr einen Sporn ab. »Wird er strecken! Wird er strecken!« heißt es dann. Endlich schnarrt es: »Der Kerl ist faul,« und er wird dem Hauptmann gemeldet.

Jetzt gibt's Nachexerzieren, 1–2 Stunden länger als die übrigen Mannschaften. Läßt der Unglücksmensch über dem »Nachbimsen« das Gewehr fallen, so setzt es beim erstenmal drei Tage Arrest; klappt er zusammen, so muß er mit Sandsäcken und Ziegelsteinen im Tornister nachtreten.

Unter all den Mißhandlungen geht dem Soldaten jedes selbstbewußte Mannesgefühl zuschanden, wenigstens für die Dauer seiner Dienstzeit. Es gehörte damals eben zum anständigen Kasernenton, »geohrfeigt« und »gefußtrittet« zu werden.

Ein Geohrfeigter braucht vor den andern nicht zu erröten. So kommt also nur der körperliche Schmerz in Betracht.

Ist die Dienstzeit vorbei, so tritt das gewöhnliche, gutbürgerliche Ehrgefühl wieder in sein Recht, und es schämt sich der Reservemann der unwürdigen Behandlung unter den Fäusten und Füßen des Korporals. Ja, die patriotische Pflicht zwingt ihn sogar, von all der Menschenschinderei vor der Gesellschaft zu schweigen.

Nach dem Mittagessen, das ihm mehr als einmal durch »Schemelstrecken« gewürzt wird, tritt der Rekrut an zum Appell.[117]

Dieser Appell ist gefürchteter als die schwerste Dienstübung. Nicht nur die zum Appell befohlenen Sachen müssen in tadellosestem Zustand sein. Der Mann selbst wird bis auf die Sohlennägel peinlichst untersucht. Die Korporale machen sich ein Vergnügen daraus, alle Knöpfe von Röcken, Jacken und Hosen herunterzuschneiden, wenn nach ihrer Meinung ein Knopf nicht fest sitzt.

»Ganzes Bataillon kehrt! Rechten Fuß hoch! Linken Fuß hoch!« Wie Pferden und Ochsen die Hufe, so werden den Soldaten die Sohlen nachgesehen.

Nachmittags gibt's Turnen, Klettern, Bajonettfechten, zwei Stunden lang und drüber. Wehe dem, der jetzt erst das Turnen lernen muß und beim Klettern plump und schwerfällig ist!

Gewehrstrecken in der Kniebeuge, oft mit zwei Gewehren zugleich, die Knie an der Leiter durchpressen, mit alten Bajonettiergewehren von hinten her den Mindergewandten über die Bretterzäune und sonstige drei bis vier Meter hohe Hindernisse hinweghelfen, ist Pflicht und Lust. Die Hetzhunde bewähren sich hierbei vortrefflich und unterhalten, als stärksten Sporn, für die erlahmenden Kräfte, ein unendliches Geheul, das an ein Tollhaus oder an eine Wolfsgrube gemahnt.

Nach dem Abendessen bricht auf den Wachtstuben ein unerhörter Hexensabbat los. Die Korporale haben nicht Hände und Füße genug, um ihre Befehle nachdrücklich einzuprägen. Manchmal hilft die Kohlenschaufel aus, besonders auf dem Schädel der Polen, bis diese den Befehlsempfang auf Deutsch nachsprechen können.

Plötzlich heißt es in wildem Chaos: »Über die Tische! An die Spinde! An die Betten! Unter die Betten! Auf die Spinde! usw.«

Die bedauernswerten Soldaten zittern, dampfen, schäumen wie überhetzte Hengste. Auch die Korporale schwitzen, aber sie kosten ihre Wollust ganz aus. Oft muß der Rekrut auf Befehl einen andern ohrfeigen. Dann heißt es wieder:[118] »Griffe kloppen!« oder »Schemel strecken!« Im Winter geschieht das mit Vorliebe in dichtester Nähe des glühendheißen Ofens, daß die bedauernswerten Sündenböcke vor Erschöpfung umfallen.

Die Schlafenszeit endigt den wilden Tanz. Der Schlaf soll einige Stunden Ruhe bringen. Für mehr als einen Rastlosen trifft es nicht zu. Viele Rekruten werden bis in die Träume hinein von den Befehlen der entfesselten Korporalsmeute verfolgt, fangen im Bette zu exerzieren an, versuchen Kletterübungen, stoßen dabei ein tierisches Brüllen aus und purzeln schließlich auf den Fußboden.

In der Morgenfrühe hob die Hetzjagd von neuem an. Wie ein Wilder stürmte der Unteroffizier vom Dienst den Korridor entlang, riß die Türen auf und brüllte sein gräßliches »Aufstehen!« in die Stuben hinein, denn der Soldat mußte ja dem Schlaf mit Schrecken entrissen werden. War er wie ein Automat auf den Fußboden gesprungen, so durfte er mit Goethe zum Morgengebet seufzen:


Nur mit Entsetzen wach' ich morgens auf,

ich möchte bittre Tränen weinen,

den Tag zu sehn, der mir in seinem Lauf

nicht einen Wunsch erfüllen wird, nicht einen.

Quelle:
Bergg, Franz: Ein Proletarierleben. Zweite Auflage, Frankfurt a. M. 1913, S. 112-119.
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