§ 1

[15] Um dir Anfangs, geliebter Leser, einen generalen Begriff, und summarischen Abriß von meinem miserablen und Jammer-vollen Leben zu machen, so findest du hier ein Exempel eines Menschen, bei dem Gottes gewöhnliches und großes Haupt-Werk vom zwölften Jahre an bis ins Alter, und schier bis diese Stunde gewesen, ihn zu töten, und wieder lebendig zu machen: ihn in die Hölle, und wieder heraus zu führen [1. Sam. 2,6]. Oder die Sache noch mit mehrern Worten auszudrücken, so liesest du das Leben eines Mannes, der wegen der schrecklichen Verderbnisse, so in seiner Seelen zu finden gewesen, und gegen welche er sich nicht eifrig genung gesetzet, noch männlich genug wider solche gestritten, sich durch eigene Schuld und Saumseligkeit, und Mangel der geistlichen Wachsamkeit bald sich selbst, so zu reden, getötet, bald aber durch Gottes große und unaussprechliche Gnade wieder lebendig gemacht: sich bald in die Hölle schwerer Anfechtungen selbst hineingeführet, bald durch Gottes Erbarmen wieder heraus geführet worden: der bald dem Tode in Rachen, und dem Satan in seine Klauen sich gestürzet, bald aber durch die mächtige Hand Gottes davon wieder erlöset, und heraus gerissen worden: dem die Sünde sein ganzes Leben, wie Lutherus redet, zu Schanden gemacht: der jederzeit die Sünde, und derselben nicht nach Wunsche los werden zu können, vor das größte Kreuz der Christen auf Erden gehalten: der sich über der Sünde, und bei dem göttlichen Trost, womit er wieder aufgerichtet worden, die Augen schier aus dem Kopfe geweinet: der in dem Ofen des Elendes unter seltsamen Leibes- und Gemüts-Plagen, ja unter den schrecklichsten Versuchungen, die nur jemals einem Menschen begegnet, oder in Büchern aufgeschrieben zu finden, bei nahe Geist und Blut ausgeschwitzet. Meine guten Freunde und Bekannten, welche jederzeit mit mir umgegangen, werden sich darüber verwundern, und kaum solches glauben können; indem ich gewohnet gewesen, oder die Gnade von Gott gehabt, meine großen Seelen-Leiden zu verbergen, oder nicht das Herze gehabt, andern zu entdecken, auch manchmal mein Zustand, und die Umstände, in denen ich mich befunden, es nicht gelitten, andern meine heimliche Anliegen zu offenbaren, sondern mich genötiget, mich zu zwingen, und anders von außen anzustellen[16] [benehmen], als nur immer möglich gewesen, und, so man ja zuweilen etwas Ungewöhnliches an mir gemerket, solches mit vorgegebener Krankheit des Leibes, Hitze des Hauptes, und Verstopfungen des Milzes zu entschuldigen.

Es sind aber in Wahrheit allerhand Krankheiten, und übele Dispositiones meines Leibes, und der Gefäße [Organe] desselben, fast jederzeit mit den größten Gemüts-Plagen und Anfechtungen, so ich ausgestanden, verknüpft gewesen, wie solches bei denen, so eines Temperamenti Melancholici sind, daferne sie Religion und ein zartes Gewissen haben, gar was Gewöhnliches ist. Kein unglücklichers Temperament, wenn ich auch davon hier etwas melden soll, ist unter den vielen Humeuren [Charakteren] und Gattungen [Typen] der Menschen anzutreffen, als das Temperamentum Sanguineo-Melancholicum, als welches recht des Teufels Nest ist, in welchem er Anfangs Sünde und Missetaten, und hernach auch tausendfache Not, Jammer und Elend, welche sich der Mensch dadurch zuziehet, ausbrüttet. Das Sanguinische Temperament reißt, wie bekannt, zur Freude, zur Liebe der Welt, und fleischlicher Wollust, und zu allerhand Sünden, so daraus entstehen; und, wenn hernach Gottes Wort solche Sünden straft [tadelt] und das Gewissen aufwacht, so sind Furcht, Angst, und Schrecken, Mißtrauen und Verzweifelung rechte Teufel, mit denen ein solcher Mensch wegen seines Temperamenti Melancholici kämpfen und streiten muß. Sind ja da auch Würkungen eines guten Geistes mit darunter, so wendet der Satan doch alsdenn allen Fleiß an, wie er dieselben verhindern möge, damit sie nicht den guten Endzweck erhalten, welchen der Geist Gottes zu er halten suchet. Von der Cholera [cholerischen Gemütsart] habe das wenigste gehabt; und würde ganz was anders in der Welt worden sein, wenn nach dem Laufe der Natur, und nach der Welt-Weisheit zu reden, mein Hochmut, mit dem ich zu streiten gehabt, so groß, als die Freude, und die Furcht gewesen; es müßte denn meine Ambition durch die Religion und Religions-Skrupel von den Endzwecken sein abgehalten worden, welche sie sonst würde haben erreichen können. Sollte ich also nach Thomasii Vorschlag die Mixtur und Vermischung der Temperamente bei mir abmessen; so müßte ich sagen, daß ich ohngefähr im 30. Grade cholerisch und hochmütig, im 50. Grade sanguinisch und wollüstig [lebensfroh], und im 60. Grade melancholisch oder furchtsam und traurig gewesen. Wiewohl ich bei aller dieser Erkenntnis meiner Leibes-Beschaffenheit noch immer den Skrupel und Zweifel behalten, warum[17] ich, da ich so viel Merkmale und Ausbrüche von Melancholie die ganze Zeit meines Lebens bei mir wahrgenommen, gleichwohl wenig, oder gar nicht zum Geiz, der sonst von den Sitten-Lehrern vor einen unzertrennlichen Gefährten der Melancholie ausgegeben wird, geneigt, sondern vielmehr jederzeit, vielleicht meistens aus sanguinischer und natürlicher Weichherzigkeit den Armen Gutes zu tun, bereitwillig, und in meinen Mitteln und Gütern, so mir Gott gegeben, bei aller Sparsamkeit, die mir angehangen, doch auch öfters sehr verschwenderisch gewesen. Dem sei nun, wie ihm wolle, so würdest du irren, woferne du mich pro pure melancholico halten wolltest. Denn so schwarz auch immer meine Galle, und so verstopft auch in den meisten Zeiten mein Mesenterium und Milz, und so kalt und trocken mein Geblüte mag gewesen sein; so wissen doch diejenigen, so mich kennen, mehr als zu wohl, daß an den bekannten Virtutibus Homileticis, so nach Aristotelis Morale die Conversation und Umgang mit andern Menschen lieblich und angenehm machen, bei mir niemals ein Mangel gewesen, und daß ich in Freud und Scherz, und lustigen Einfällen, jederzeit eher zu viel, als zu wenig getan; ich will nicht gedenken, daß man mir einst so gar Schuld geben wollen, als ob ich meine Zuhörer zum Lachen zu bewegen gesucht hätte, welches gewiß keine Sache eines puren Melancholici ist.

Das ist die elende Beschaffenheit meines Leibes. So siehet der eine von meinen geistlichen Feinden, nämlich der Leib aus, den Gott und die Natur mir gegeben, oder vielmehr nach dem Falle [Sündenfalle] durch die ordentliche Zeugung auf mich kommen lassen, nicht sowohl ein Gefängnis der Seelen zu sein, wie Plato unsern menschlichen Leib angesehen, sondern eine Gelegenheit der Tugend, und desjenigen geistlichen Krieges, den ein jeder, so lange er lebet, wider denselben, er sei auch beschaffen, wie er wolle, und wider die Sünden, zu welchen er verleitet und reizet, führen muß. Und so selig, der hierinnen eine gute Ritterschaft übet, und im Streit wider sein Fleisch und Blut, insonderheit wenn es, wie Lutherus in der Auslegung der 6ten Bitte redet, zum Mißtrauen und Verzweifelung, und zu anderer großen Schande und Laster treibet, endlich gewinnet, und den Sieg davon träget. So viel von meinem Leben überhaupt.

Quelle:
Bernd, Adam: Eigene Lebens-Beschreibung. München 1973, S. 15-18.
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