Anno 1711
§ 109

[265] Nun folget das 35. Jahr meines Alters, welches auch ein sehr merkwürdiges Jahr gewesen, sowohl weil ich zu Ende desselben, nämlich Anno 1711 am heiligen Christ-Abend, nochmals zum Catecheten und Prediger erwählet wurde, als auch wegen anderer Dinge, so mir dasselbe Jahr begegnet. Gegen Ostern brauchte ich ein Decoctum antihecticum, wozu mir ein Balbier-Geselle das Recept communicirte [mitteilte]. Was andere Medici mit ihren chymischen Tropfen, und Feuer- und Wasser-Kuren nicht hatten zuwege bringen können, das tat ein geringer Dienst-Bote mit seinem Medicamente. Ich wurde dadurch so ausgekühlt, und so munter, und hurtig an Beinen gemacht, auch in so weit restituiret,[265] daß, ob ich wohl nicht völlig meine ehemalige Kräfte wieder bekommen, doch in Stand gesetzet wurde, wieder zu lesen, und Collegia zu halten; wie ich denn diesen Sommer in kurzen bis 90 Rtlr. mit den Collegiis verdiente, und also die Lücke in meinem Geld-Kasten wieder in etwas ausfüllen konnte, welche ich durch Mediciniren das vorige Jahr gemacht hatte. Im Frühlinge schrieb ich einen Tractat de Illuminatione, und zeigte darinnen, daß kein Gottloser völlig, und plenarie erleuchtet sei, sondern daß bei einem jeden Welt-Menschen noch Unwissenheit, Blindheit, Irrtümer, Vorurteile, und falsche Schlüsse im Verstande übrig wären, welche Ursache seines bösen Lebens sind, sollte es auch nur ein einziger Irrtum, oder Vorurteil sein. Daß aber dasjenige, was die Gottlosen wüßten, dem Geiste Gottes könne zugeschrieben werden, dafern es solche Dinge sind, zu deren Erkenntnis der Mensch durch Hülfe der Vernunft nicht gelangen kann, habe ich allemal eingeräumet. Ich hatte zu Ende dieses Tractats schon dazumal mich zu weisen bemühet, daß man in der Moral, und in der philosophischen und theologischen Sitten-Lehre besser täte, wenn man aus der Libertate und menschlichen Freiheit eine besondere Kraft der Seele, und Facultatem animæ machte, und solche dem Willen, der sich allemal nach dem erkannten Gute neiget, und dem menschlichen Verstande, der etwas vor gut erkennet, contradistinguirte und unterschiede; welches dem Herrn D. Langen in Halle so wohl gefiel, daß er es auch Herr Prof. Francken zeigte, und den Buchhändler animirte, und antrieb, solches zu verlegen, der sich aber dazu nicht entschließen wollte. Daß ich diese Materie aber in einem andern Buche nach der Zeit weitläuftiger ausgeführet, ohne jemanden diesfalls meine Meinung aufzudringen, wird vielleicht ohne mein Erinnern bekannt genug sein.

Ehe ich noch in diesem 1711. Jahre die Collegia wieder anfieng, welches erst Montags nach dem 1. nach Trinitatis geschahe, war ich gesonnen, Leipzig gar zu verlassen, und mich in mein Vaterland wieder zu wenden. Denn völlig gesund war ich noch nicht, wegen Mangel völliger Gesundheit grauete mir auch vor dem Predigt-Amte, und der Bau an der Peters-Kirche war bisher eine Zeit lang liegen blieben, weil man auf dem Rat-Hause darüber nicht einig werden konnte, indem einige nur eine Kirche vor die Catechumenos, und vor gemeine Leute begehrten, welchen der Prediger auf das einfältigste Gottes Wort und den Katechismum vortragen sollte, andere aber Kapellen an die Kirche auf beiden Seiten angebauet wissen wollten, damit auch[266] vornehme Leute solches Gottes-Haus besuchen könnten. Montags nach Trinitatis gieng ich mit einigen Studiosis in den Schieß-Graben, allwo die Bürger zu der Zeit, wie bekannt, einen Vogel abzuschießen pflegen, um die Sorgen zu vertreiben, und mich ein wenig zu recolligiren [erholen], weil ich noch nicht mit mir völlig eins werden konnte, ob ich in Leipzig bleiben, oder nach Breslau ziehen sollte. Und siehe, da ich an das Peters-Tor kam, so sahe ich, daß sie den Bau an der Kirchen wieder fortzusetzen anfiengen, und alles in voller Arbeit war. Dadurch wurde ich noch mehr irre und zweifelhaftig gemacht, indem ich schon mehr geneigt war, Leipzig zu verlassen, als daselbst zu bleiben. Ich gieng aus Curiosität hinein, den Bau anzusehen; und, gleichwie ich zu Hause Gott bisher gebeten, daß er mir doch zu erkennen gebe, was ich tun und erwählen sollte, so geschahe hier etwas, so daß es schiene, als ob Gott mein Gebet erhöret. Ich weiß nicht, wie ich es versahe, daß ich beim Wiederherausgehen aus der Kirche mit dem Rocke an einer Säule an einem Nagel hangen blieb, so daß man alle Mühe hatte, mich wieder los zu machen. Ich sprach zu denen, die um mich waren, und zu dem Arbeiter, der mich half losmachen: das bedeutet ganz gewiß, ich werde in der Peters-Kirche hängen bleiben und Prediger darinnen werden. Ich scherzte noch mehr, und setzte hinzu: die Kirche ist aber zu lang, und sehe nicht, wie mich die Leute hier vorne (denn ich stund gegen das Tor zu) werden hören können, wenn sie die Kanzel über den Altar setzen, und bauen wollen. Der Maurer-Geselle, und die Leute, so dabei stunden, sahen mich an, und lachten höhnisch, weil sie mich wohl nicht vor den Mann hielten, der zu solcher Ehre gelangen würde. Bei mir aber war Scherz, und Ernst beisammen: denn ich nahm es, sollte es auch aus Aberglauben geschehen sein, vor ein Omen und Anzeigung an, daß ich nunmehro bleiben, und der Sachen Ausgang erwarten sollte; worinnen mich auch Herr Baumeister Wagner stärkte, als ich ihn kurz darauf um Rat fragte.

Quelle:
Bernd, Adam: Eigene Lebens-Beschreibung. München 1973, S. 265-267.
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