§ 164

[397] Da hast du nun also, geliebter Leser, einen Abriß von meiner ganzen Person, und von meinem ganzen Leben. So ist mirs in[397] der Welt gegangen, so ein elender Mensch bin ich jederzeit gewesen: schwach am Leibe, blöde [schüchtern] und furchtsam im Gemüte, und zuweilen auch krank an der Religion. Und ich halte, daß dergleichen Leute mehr in der Welt gewesen sein, und auch noch sein mögen, auch so gar unter Lehrern und Predigern, so daß bei denselben die Schwachheit des Leibes mit der Schwachheit des Gemüts, des Geistes, und des Glaubens zuweiln verknüpft ist; Und die man endlich wohl noch in dem gemeinem [Gemein-]Wesen, und vielleicht auch so gar in der Kirchen zu vieler Nutzen würde brauchen können, daferne man sie nur recht kennte, und sie nicht vor gefährlicher hielte, als sie sind, sondern klüglich und vernünftig mit ihnen umgienge. Denn so lange die Welt stehet, hat durch Gottes weise Regierung der furchtsame, traurige, und melancholische Teil des menschlichen Geschlechts den größten Nutzen schaffen, und den cholerischen, und sanguinischen Teil desselben, oder den Zorn und Wut der Hochmütigen, und die Ausschweifungen der Wollüstigen im Zaum halten, und einschränken müssen. Denn, wenn auch bei dergleichen Leuten ihr alter Mensch, (der sich gern in Irrtum verderbet [Eph. 4,22]), so schüchtern er sonst ist, ein- und das andere mal in Religions- und Glaubens-Sachen sollte trotzig werden, und, wie eine Schnecke, seine vier, fünf Hörner herausrecken; ich bin versichert, wenn man nur mit einem Finger auf ihn dipte [tippte], so sollte er gar bald, wie bei mir geschehen, seine Hörner wieder einziehen. Auch ein Onesimus kann auf eine kurze Zeit von seinem Herrn Philemone wegkommen, auf daß ihn sein Herr ewig wieder hätte [Philem. 15]. Aber das Maß der Sanftmut gegen die Irrenden ist oft in der Welt gar zu klein, und man will manchmal zu frühzeitig ein verrenktes Glied von dem Leibe Christi und der Kirche abhauen, in welches doch noch kein kalter Brand gekommen, und das man gar leicht wieder einrenken könnte. Und obschon da zuweilen einer, und der andere von denen behutsamen Ärzten zu einer gelinden Kur raten will, so ist er viel zu niedrig, oder zu jung, daß er Beifall, oder Gehör finden sollte. Herr, sprach dort Sancho Panssa zu seinem irrenden Ritter, sehet sie doch nur recht an, es sind ja keine ungeheure Riesen, noch Abenteure; glaubt doch das Ding nicht, es sind ja nur Wind-Mühlen, (und arme, elende Schäfer auf dem Felde.) Allein Quixote wollte weder hören, noch sehen. Das Maul läuft mir schon voll Wasser, sprach er, ich muß mit ihnen kämpfen. Dieses ist ein heiliger Streit, und wir führen die Kriege des Herrn, wenn wir dies verfluchte Geschlechte von der Erde vertilgen,[398] p. 73 edit. germ. Die Worte schicken sich vor einen irrenden Ritter nicht. Es scheinet also, daß der Autor hiermit den unmäßigen Eifer der Promachorum [Vorkämpfer] seiner Kirche, und der Inquisitiorum hæreticæ pravitatis [Inquisitoren häretischer Abweichung] anstechen [kritisieren] wollen. Bei dem allen wird niemand leugnen, daß nicht auch zuweilen des Apostels ἀποκόπτεσϑαι [Abgeschnitten-, Ausgerottetwerden] Gal. 5. V. 12 zu wünschen, ja bei denen, so Zerschneidung und Zertrennung anrichten, solches, jedennoch auf eine dem Geiste Christi gemäße Weise, auch so gar zu practiciren nötig sein sollte. Wie ferne aber das Fortjagen und Landes-Verweisung zu raten, ist hier die Zeit nicht zu bestimmen. Nur denke ich um ein leichtes an das Urteil, was neulich ein gewisser Doctor von der Philosophie fällte: Wenn man die neuen Philosophos aus der Stadt jagt, so jagt man da mit die alte Philosophie aus dem Lande.

Doch auch hiervon genung. Ich muß zum Beschluß eilen, so viel ich auch noch zu dieser Geschichte meines Lebens hinzu tun könnte. Denn je länger ich damit umgehe, je mehr fällt mir ein von dem, was ich da und dort vergessen, und das doch wohl auch noch eine Stelle verdiente. An manche Dinge darf ich auch gar nicht gedenken, weil ich nichts davon sagen darf. Der Ort und andere Umstände machen, daß ich die Feder wieder weglege, wenn ich sie auch schon in die Hände genommen. So lange gewisse Ordens-Leute bei der Göttin der Länder, und der Völker sich aufhalten, schreiben und reden sie ganz anders, als wenn sie sich in der Stadt befinden, so wie eine kleine Welt aussiehet. Ich sage das nicht, als ob ich glaubte, daß mir in der Welt zu viel geschehen wäre; und, wenn ich auch von jemanden Wunden ohne Ursache empfangen hätte, so versichere ich dich, ich würde das blutige Schnupftuch nicht aufheben, bis ich vor den Richter käme, sondern dahin werfen, wohin ich wünsche, daß Gott meine Sünden werfen möchte. So übergehe ich auch anjetzo billig viel andere Plagen und Zufälle, Anfälle vom Schlag, und Lähmung der Glieder, ja auch andere kleinere geistliche Nöte, und Gemüts-Kummer, die ich in meinem Leben öfters gehabt, und empfunden, wobei Gottes Providenz nicht minder zu spüren, aus welchen allen mich Gott erlöset. Er hat uns erlöset, und er erlöset uns noch täglich, und wir haben die Hoffnung, er werde uns auch noch ferner erlösen; und was wünschte ich jetzt mehr, als daß ich mit denjenigen Worten, in eben derselben lebendigen und fröhlichen Hoffnung, mit welcher ich schon vor mehr als 40 Jahren manchmal meine inbrünstigsten[399] Gebete, und gnädige Besuchungen Gottes geschlossen, und sie deshalben vorlängst zu meinem Wahl- und Leichen-Spruch erwählet, und mit welchen der Apostel seine andere [zweite] Epistel an den Timotheum beschlossen, auch mein gegenwärtiges Buch, oder doch einmal mein Leben beschließen, und ausrufen möchte: Und der Herr wird mich erlösen von allem Übel, und mir aushelfen zu seinem himmlischen Reiche, welchem sei Ehre von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen [2. Tim. 4,18].[400]

Quelle:
Bernd, Adam: Eigene Lebens-Beschreibung. München 1973, S. 397-401.
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