§ 3

[19] Mein Vater kunte zwar weder schreiben noch lesen; doch, so einfältig er war, so war er gleichwohl in der Religion ein guter, oder doch vielmehr ein vollkommener Indifferentiste. Die Mutter hingegen war eine eiferige Lutheranerin, und dem Leben nach eine rechte Pietistin, obwohl dieser Name damals noch nicht bekannt war. Ich durfte in ihrer Gegenwart weder als ein Knabe, noch als ein Jüngling Scherz und Narrenteidung [Narretei] treiben, sie strafte [tadelte] mich deswegen allemal mit Nachdruck: und wenn ich mit meinem Geschwister in die Schenke gehen wollte, tanzen zu sehen, oder einer Dorf-Comœdie beizuwohnen, so konnten wir selten, oder nur mit großer Mühe sie dazu erbitten. Ich besinne mich, daß es mehr denn einmal geschehen, daß sie bei Tische auf die Juden und Papisten [Katholiken] zu reden kam, und zu uns Kindern sagte, daß diese Leute alle einst würden verdammt werden, und in die Hölle kommen; mein Vater aber sprach: »Ihr seid doch ein rechter Narr, daß ihr solches glaubet; es heißt, verdammet nicht, so werdet ihr auch nicht verdammt [Luk. 6,37]. Wüßten sie es besser, so glaubten sie anders: Gott wird ihnen ihre Unwissenheit und Einfalt nicht zurechnen, wenn sie nur bei ihrem Glauben fromm gelebet haben.« Ich wundere mich nicht, daß mein Vater dergleichen Sentiment [Ansicht] in der Religion geheget. Er hatte von Jugend auf unter den Leuten gedienet, in der Pest, und 30jährigem Kriege viel ausgestanden, und erfahren: im Alter gieng er, wie wohlhabende Kohl-Gärtner bei uns zu tun gewohnt sind, nach Mittag in die Stadt, bald in dieses, bald in jenes Wirtshaus, wo allerhand Leute, und auch wohl Frei-Geister zusammen kommen, und von der Religion raisonniren; was[19] Wunder demnach, daß er mit solchen Principiis eingenommen worden, die nach meinem Urteil unter dem gemeinem Volke viel häufiger, als unter den Gelehrten selbst anzutreffen sind. Der irret sehr, der die große Indifferentisterei, da man Jüden, Türken, und Heiden die Möglichkeit selig zu werden einräumet, nur bei Gelehrten und Fanaticis suchen will; ich bin unter gemeinen Leuten auferzogen worden, mit Bürgern und Bauern mehr, als mit vornehmen Leuten umgegangen: ich habe mit ihnen gegessen, getrunken, gespielet, und habe auf nichts so genau, als auf ihre Religion, und was sie statuiren [behaupten], und vor Principia hegen, Achtung gegeben; und ich bin versichert, daß unter 100 Bürgern in einer Stadt nicht einer sei, der nicht eben solche Sentiments hege, wie mein Vater. Es scheint ein Stück der unmäßigen, oder vielmehr sündlichen Weichherzigkeit, die nach dem Falle [Sündenfall] bei den Menschen sich findet, zu sein, daß, wenn sie die erschreckliche und unbegreifliche Menge der Menschen auf der Welt betrachten, sie aus Erbarmen ihnen erst die Seligkeit wünschen, und hernach das, was sie wünschen, vor leicht und vor möglich achten; so daß man es Predigern nicht verargen kann, wenn sie diese Leichtgläubigkeit der Zuhörer, und diese excessive Hoffnung, welche sie wider Gottes Wort von der Seligkeit aller Menschen, sie mögen von einer Religion sein, von welcher sie wollen, hegen, öfters widerlegen, weil dieselbe so sehr bei Hohen und Niedrigen überhand genommen.

Ob nun wohl mein Vater solchen Irrtum von der Seligkeit der ungläubigen Völker hegte, so denke ich doch nicht, daß ihm dieses an seiner Seligkeit werde geschadet haben. Er hielt uns Kinder zur Kirchen und Schulen an, war selbst auch kein Verächter Gottes und seines Wortes. Gegen die Armen erwies er sich sehr guttätig, daß wir auch manchmal uns darinnen ihm zu widersetzen, wenn er gar zu freigebig sein wollte, kein Bedenken trugen. Etliche Jahre vor seinem Tode wurde er auf der rechten Seite durch den Schlag gelähmet, daß er wenig mehr arbeiten konnte, folgentlich seine Zeit mit vielem Weinen zubrachte. Uns Kindern war dieses sehr zuwider; denn wir verstunden damals noch nicht, daß nicht alle Tränen aus Zaghaftigkeit, oder weltlicher Traurigkeit herkommen, sondern manchmal auch, eine Würkung eines in brünstigen Gebetes, Sehnens und Verlangens nach Gott, ja wohl eine Frucht des Glaubens, der Liebe und Freude in Gott sein können. Und wenn man auch solches selbst schon erfahren, so denkt man nicht allemal daran, indem man, so zu reden, einen natürlichen Eckel und Aversation davor hat, wenn[20] man einen andern weinen, und Tränen vergießen siehet. Ich kann mich zwar auf keine sonderliche Sünde besinnen, so ich meinen Vater hätte begehen sehen, ob ich wohl schon 20 Jahre alt war, da er starb; gleichwohl mögen ihm dieselben doch in seinem letzten Ende, wie auch andern Christen zu geschehen pfleget, Kummer und Angst verursachet haben. Denn im letzten Kampfe hörte man ihn den Anfang vom 6. Psalm, Herr straf mich nicht in deinem Zorn, beten; schließe also, weil er Vergebung der Sünden bei Gott mit David gesuchet, er werde solche auch gefunden haben.

Quelle:
Bernd, Adam: Eigene Lebens-Beschreibung. München 1973, S. 19-21.
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