Anno 1695
§ 30

[79] Wer war nun froher als ich, der nicht nur dem ewigen Tode entgangen, sondern auch Hoffnung eines ewigen Lebens bekommen hatte? Ich hatte genug, daß meine Seele in so glücklichen Zustand war gesetzet worden, und war im übrigen wohl zufrieden, was meine leibliche Versorgung anbelangte. Mein Fleischer, dessen Kinder ich informirte, hatte mich lieb und wert, und auf dem Gymnasio, wo ich wohnte, ob es gleich nur eine Kammer war, hatte ich gute Gelegenheit ohne Hindernisse zu studiren. Weil ich hart war auferzogen worden, kunte ich die Kälte besser, als alle andere ertragen, und auch im Herbst und Winter in der Kammer manche Stunde dauren [ausharren]; wiewohl auch die allgemeine Stube, die ich mit den Choralibus [Chorknaben] des Winters gemein hatte, zum Studiren nicht ganz unbequem war. Doch Gott wollte mich auch im Leiblichen besser versorgen; und, wie ich außer dem Fleischer bisher schon eine Information [Hauslehrerstelle] bei dem Herrn D. Kaltschmidt des Tages eine Stunde gehabt hatte, so bekam ich um Michael [29. Sept.] ein völliges Hospitium [freie Kost] bei dem reichen Kaufmann, Close, der einen Sohn von 16 Jahren hatte, und schon in Secundo ordine saß. Hier war mir recht wohl zu Mute, und genoß alle die Vorteile, die ein geheiltes, und freudiges Gewissen zu genießen fähig ist. Ich hatte gut Essen und Trinken, und viel Lieb und Hochachtung bei der Herrschaft und dem Gesinde. Der Kaufmanns-Diener, Kluge, und der Lehr-Junge, Kamper, waren gerne um mich; und, weil sie mehr Geld, als ich, hatten, so halfen sie mir manchmal aus der Not, nahmen mich mit in Compagnie, und hielten mich frei. Zuweilen spieleten wir auch des Abends in der Karte, ein oder ein paar Stunden, und sie achteten es eben nicht, wenn sie gleich einige Groschen verloren, weil ich ihnen an Verschlagenheit beim Spielen überlegen war. Entweder das Spielen muß nicht zu allen Zeiten, an allen Orten, und bei einem jeden Christen eine verdammliche Sünde sein, sondern als eine Schwachheit mit der Gnade Gottes bestehen können; oder die seltsame Verwandelung meiner höchsten Seelen-Not in geistliche und himmlische[79] Freud und Wonne muß lauter Blendwerk und Betrügerei gewesen sein; welches letztere zu glauben ich unmöglich kann bewogen werden. Der Kaufmann war zwar ein genereuser und gütiger Mann, aber oftmals sehr bitter, und zornig. Dies wollte mir Anfangs schwer eingehen; seine Frau aber, die ein sehr kluges und vernünftiges Weib war, besänftigte mich, stellte mir ihr eigen Exempel vor, und sagte, wie sie ja selbst noch viel ein mehrers leiden und ausstehen müßte, da sie doch sein Weib wäre, und doch alle Liebe von ihm genösse, und sich alles Gutes zu [von] ihm zu versehen [erwarten] hätte. Des Abends, ehe man das Licht anzündete, spazierte ich auf dem Vorsaal herum, und überlegte mein gegenwärtiges Leben, jauchzete öfters vor Freuden über meinen seligen und ruhigen Zustand, in welchem ich durch die Befreiung von der Sünde und durch wahre Bekehrung, wie ich glaubte, war gesetzt worden. Deus, Deus nobis hæc otia (gaudia) fecit, rief ich manchmal vor gutem Mute aus. Es starb zwar kurz nach Michael mein Vater, und im Decembr. meine jüngste und liebste Schwester von 23 Jahren, deren Tod mir sehr zu Herzen gieng; es wurden aber durch die Tränen über derselben Tod, denen ich zuweilen zu Hause im Hospitio [bei den Kostgebern] Raum gab, so viel andere gute Bewegungen, Gebete, Seufzer und Flehen zu Gott erwecket, so daß ich mit Rechte sagen kann, daß diese zwei Todes-Fälle in meinem Christentum zu Befestigung der neuen guten Gemüts-Art ein großes beigetragen. War schon mein Vater gestorben, so lebte doch ein anderer Vater, mein Bruder, noch, der 15 Jahr älter als ich war. Ja dieser fieng um diese Zeit erst recht an zu leben; denn er wurde Herr, und ein Kretschmar [Gastwirt], da er bisher nur Schenke gewesen. Er mietete die sogenannte schöne Stube, die er auch nach der Zeit vor 7000 Rtlr. an sich kaufte, und heiratete bald nach des Vaters Tode. Nun war er desto geschickter vor meine Wohlfahrt zu sorgen, wie er mir denn auch half, wo er nur wußte und kunte. Er machte sich eine Ehre daraus, wenn ich die katholischen Studenten, so zu ihm zu Biere kamen, öfters durch Disputiren in lateinischer Sprache in Gegenwart anderer Gäste eintrieb [in die Enge trieb], oder mit diesem und jenem Gaste, insonderheit in Jahr-Märkten, bald Französisch, bald Italienisch zu parliren wußte, welche Sprachen ich in den letzten drei Jahren des Gymnasii zu excoliren [lernen] anfieng, weil mir die Zeit lange währen wollte auf das Stipendium des Rats zu warten, zu welchem mir Hoffnung war gemacht worden.[80]

Damit wir Primaner desto besser mit den katholischen Studenten disputiren könnten, so besuchten wir auch oft der Papisten [Katholiken] ihre Predigten; wie denn damals Pater Schäfer, auf der Burg unter den Jesuiten, ein Kapuziner, der auf dem Sande predigte, und P. Kugler, wegen seiner lateinischen Meditationen und Repræsentationen in der Fasten-Zeit sehr berühmt waren. Ich glaube aber, wir hätten besser getan, wir hätten solches bleiben lassen. Denn wir bekamen öfters solche Dubia und Skrupel in der Religion, die wir hernach aufzulösen selbst nicht fähig waren; will nicht sagen, daß bei manchem der Haß, und die Aversation aufhörte, welchen man uns in der Jugend wider die Papisten beigebracht hatte. Ein gewisser Choralis [Chorknabe] bei unserm Gymnasio, mit Namen Wintzer, wurde bei uns katholisch, und, wenn ein anderer Choralis, mit Namen Parnier, aus der Päbstischen Kirche nach Hause kam, so verteidigte er den Pater, und das, was er geprediget, so stark, daß wir immer meinten, er würde auch zu den Papisten übergehen. Ich sollte das nicht tun; das Exempel von meiner Mutter Bruder, welcher übergetreten, lag meinem Geschwister noch im Gedächtnis. Darum machte mein Bruder Anstalt, daß ich von der katholischen Obrigkeit los gemacht, und los gekauft wurde; welches auch viel leichter geschahe, als wir es uns eingebildet, und es mich nicht mehr als 10 Rtlr. kostete. Ich machte einen deutschen Vers auf meine doppelte Losmachung, auf die leibliche und geistliche; wie ich denn bei allen besondern Fällen meines Lebens so zu tun gewohnt war. Meine deutsche Verse, welche ich zuweilen öffentlich im Gymnasio als ein wöchentlich Exercitium [Übung] las, brachten mir bei den Professoribus viel Liebe und Gunst zu wege; da aber jetzt die deutsche Poesie viel höher gestiegen, und unsere Poeten die französische Galanterie in Gedichten nachzuahmen angefangen, so habe schon längst meine damalige Gedichte großen Teils dem Vulcano [Feuer] aufgeopfert. Ich wollte, daß solches nicht geschehen wäre; denn es würde dem Leser vielleicht nicht unangenehm sein, wenn ich jetzt hier und da ein und anders von diesen Gedichten meinem Lebens-Laufe einverleibete.

Quelle:
Bernd, Adam: Eigene Lebens-Beschreibung. München 1973, S. 79-81.
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