§ 63

[153] Solche Imagination oder Erinnerung der rerum materialium absentium, der abwesenden materialischen Dinge, welche Recordation [Erinnerung] ein großes Teil des menschlichen Gedächtnisses ist, (denn das ganze Gedächtnis erstrecket sich weiter, und auch auf immaterialische, und alle Dinge, so die Seele jemals intelligiret [erkannt], geurteilet, geschlossen [logisch erschlossen] gewollt und getan) geschiehet entweder wider unsern Willen, so[153] daß uns manchmal bei Gelegenheit eines Dinges, an das wir gedenken, öfters ohne unser Bemühen und Wollen andere Dinge einkommen, mit denen uns eben nichts gedienet ist, und deren Andenken wir gar nicht gesuchet haben; oder sie geschiehet auch manchmal voluntario, und Kraft unsers Willens, so daß wir uns vielmal rechte Mühe geben durch Nachdenken uns auf das zu besinnen, wessen wir uns gerne erinnern möchten; da uns denn manchmal einfällt, was wir gern wollten, und wünschten, daß es uns wieder einfallen möchte; zuweilen aber auch das gar nicht wieder einfallen will, was wir doch gerne wollten. Wir tun zu solcher Zeit nichts anders, als daß wir bald an dies, bald an jenes Ding gedenken, was mit demselben, dessen wir uns gerne erinnern möchten, ehemals verknüpft war. So gebe ich mir jetzund, da ich heute spazieren gehen, und eine guten Freund besuchen will, und es in Stuben wegen herannahenden Herbstes schon ziemlich frisch ist, viel Mühe, mich zu erinnern, ob in dem Zimmer, wo ich diesen Freund ehemals besucht, auch ein Ofen zu finden, den man heizen könnte. Ich sinne und sinne, und denke an das, was mir damals in der Stube vorgekommen; wie es um die Türe, bei der Hand-Quelle etc. ausgesehen: ich überlege die Länge und Breite der Stube, und was ich sonsten getan, und mit ihm geredet, und kann mich lange nicht besinnen, ob ein Ofen in der Stube sei, oder nicht. Endlich fällt mir ein, daß, da ich ehemals bei ihm trinken wollen, mir das Bier zu kalt gewesen, und da ich gebeten, es auf eine warme Stelle auf dem Herde zu setzen, man mir das noch warme Röhr des Ofens vorgeschlagen. Folgentlich weiß ich es jetzo so gewiß, daß ein Ofen in der Stuben ist, daß ich auch mit einem eine Wette deshalben anstellen wollte. Die Welt-Weisen haben bei dieser Beschaffenheit der Sachen längst geschlossen, daß man zu solcher Zeit mit seinem Willen, dessen Würkung und Herrschaft über den Leib ein unbegreifliches Geheimnis Gottes ist, die Lebens-Geister determinire, und im Gehirne die Länge und die Quere hin-und herjage, und bald in diese Plicam und Merkmal des Gehirns, bald in ein anders hinschicke, bis sie endlich Kraft der Association auf das Merkmal stoßen, welches uns durch seine Bewegung die zu wissen begehrte Sache wiederum vorstellig und erinnernd macht. Daferne uns sehr viel daran gelegen, daß wir uns wieder auf eine Sache besinnen, und uns derselben erinnern, oder auch gerne etwas erfinden möchten, so werden durch unsern Willen die Lebens-Geister im Gehirne dermaßen von einem Orte und Merkmale in das andere gejaget, daß sie auch auf die letzte [zuletzt][154] ganz matt und müde werden; dergleichen zu geschehen pfleget, wenn der Mensch etwas Heftiges, und Nötiges zu besorgen, oder ein groß Übel zu befürchten hat, und gern an das gedenken möchte, was ihn von seiner Sorge und Furcht befreien könnte.

Derjenige, dem diese Dinge, die ich jetzund angeführet, deshalben nicht wahr, noch wahrscheinlich zu sein deuchten, weil wir so viel tausend, tausend Dinge in der Welt können fassen, und so vieler tausend Dinge uns können erinnern, die wir vor 40 und 50 Jahren gehöret, gesehen, geurteilet, geschlossen, gewollt und getan haben, so daß es unmöglich scheinet, daß so eine kleine Massa, als das Gehirne ist, so viel tausend Merkmale und Eindrücke in sich fassen und haben könne; der muß noch nicht viel Meditation und Reflexion über die Atomos, und minima naturalia [Atome und kleinste Naturbestandteile] gemacht, noch an diejenigen stark riechenden, oder auch stinkenden Dinge, wovon die Naturkündiger zu reden wissen, gedacht haben, welche wohl hundert Jahr ihren Gestank behalten, und also immer kleine Partikelgen und Effluvia [flüssige Ausscheidungen] ausdünsten, welche in unsere Nase fahren, und die Fibrillen [Fäserchen] des riechenden Organi bewegen, (denn anders kann man doch nicht den Geruch, und die Kraft des Menschen zu riechen erklären) und doch an ihrem Gewichte wenig, ja gar nichts, in so vielen Jahren verloren haben. Ich werde mich auch hier an die Einwürfe derjenigen nicht kehren, die da einwenden und sagen, daß, wenn man die Kraft unserer menschlichen Seele zu recordiren, und sich der ehemaligen empfundenen Dinge wieder zu erinnern, also erklären wolle, wie ich jetzo getan, so könne man unmöglich zeigen, wie die Seelen, wenn sie vom Leibe geschieden, ein Gedächtnis und eine Erinnerung dessen haben könnten, was sie im Leibe ehemals empfunden, gedacht, geschlossen, und getan haben. Denn man erkläre endlich die Weise und Kraft sich zu erinnern, welche die Seele in diesem Leben hat, wie man wolle, so wird man doch immer eben diesen Einwurf darwider machen können, und zu zeigen wenig fähig sein, wie die Seele nach dem Tode recordiren, und sich der ehemaligen Dinge erinnern könne. Es kann sein, daß auch in unserm Geiste selbst durch die Bewegungen im Gehirn Eindrücke gemacht werden, die an einander verknüpft sind, und die sie mit aus der Welt nimmt, oder daß sie deren einen, und wenigstens den letzten mit auf den Weg nimmt, Kraft dessen sie sich hernach der andern erinnern kann; ob sie gleich in diesem Leben solche[155] Kraft anders nicht, als durch Bewegung gewisser materialischen Teile im Gehirne ausgeübet hat.

Quelle:
Bernd, Adam: Eigene Lebens-Beschreibung. München 1973, S. 153-156.
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