§ 70

[173] Es ist aber Zeit, von diesem Ausschweife wieder um, und zu meinem Vorhaben zu kehren. Damit man desto besser sehen und begreifen möchte, wie das erkannte Übel durch den Willen in den menschlichen Leib würke, und wie der Leib mache, daß man gar leicht wieder an dasselbe gedenken könne; so habe ich auch ein Exempel von dem Guten geben, und zeigen wollen, wie auch das Erkenntnis desselben in den Leib, und die Beschaffenheit des Leibes wiederum das Andenken desselben Guten würken könne. Zu meinem gegenwärtigen Vorhaben darf ich nur bei den Übeln, sonderlich nur bei den großen Übeln stehen bleiben. Du wirst ohne mein Erinnern wissen, was große Übel sind, welche schier nach dem gemeinen Urteil aller Menschen als groß angesehen werden. Hölle, Teufel, ewige Verdammnis, Gottes Zorn, Armut, Schande vor der Welt, Feuers-Brünste, große Donner-Wetter, Todes-Fälle, v.g. da einer gespießet, gerädert wird: Unglücks-Fälle, da einer von Dächern sich zu Tode fället, ein anderer ersauft, oder erstochen wird, und auch einige ansteckende Krankheiten, die rote Ruhr, die Fleck-Fieber, die Pest selber, sind lauter Übel, die von den Menschen vor groß gehalten werden, und von denen sie mit Erstaunen, mit Seufzen, und Ängstlich-tun zu andern öfters reden.

Unter diesen Übeln, so schrecklich anzusehen, und vor welchen die Menschen auch zu erschrecken pflegen, ist, wenn schon nicht das allergrößte, doch in Wahrheit eines der größten der Selbst-Mord, da ein Mensch sich selbst tötet; weil es wider alle menschliche Natur zu sein scheinet, daß ein Mensch seinen[173] eigenen Tod auf eine erschreckliche Weise durch tödliche Waffen verursachen soll. Indem niemand sein eigen Fleisch hasset, so erschrickt fast jedermann, wenn dergleichen Zufall [Fall] sich ereignet. Die Menschen erzählen es einander mit fürchterlichen, und ängstlichen Worten und Gebärden; und wie ehemals Bileam wünschte, daß er sterben möchte des Todes der Gerechten [4. Mos. 23,10]: so ist alsdenn fast niemand, der nicht denken sollte: Ach Gott behüte einen jedweden Menschen vor einem solchem Ende. Da ich nun zu meinem Zweck näher komme, so muß ich, wie ich oben versprochen, weisen, wie anfangs das Bild von einem solchem Tode in eines Menschen Gemüt entstehe: wie er auf die Einbildung gerate, daß ein solcher Tod auch der seinige sein werde: wie es zugehe, daß zuweilen das geschiehet, was er doch gefürchtet und sich nur eingebildet, daß es geschehen werde, und durch was vor Mittel ihm geholfen werde, daß das nicht geschiehet, was er gefürchtet.

Wie einmal das Bild vom Selbst-Mord in das Gehirne eines Menschen komme, und wie solcher Gedanke bei ihm entstehe, ist leicht aus dem, was ich bisher gesaget, zu ersehen. Wenn dergleichen Fall geschiehet, so redet eine ganze Stadt davon; ja einige kommen wohl gar dazu, wenn ein Mensch eine solche Tat vollbracht hat. Was wunder demnach, wenn durch das Ohr, und durch das Auge der, so davon höret, und siehet, von diesem Tode eine Vorstellung bekommt. Es ist auch leicht zu erachten, wie solcher Gedanke zu einer andern Zeit von neuem in des Menschen Gemüte entstehe. Es ist ein groß Übel; jedermann erschrickt darüber, wenn er nur davon höret reden: Furcht und Schrecken drücken, wie alle andere starke Affecten, die Bilder der Dinge tief ins Gehirn ein, und dies noch dazu mit vielen andern Umständen der Zeit und des Ortes etc. so daß, wenn einem ein solcher Umstand wieder vorkommt, ihm auch wiederum die Tat des Selbst-Mords einfällt, so ein anderer begangen. Der Leib eines Menschen kann auch zuweilen in einem solchem Zustande sich befinden, und gesetzet sein, in welchen er gesetzet wurde, da er das erste mal die Idée von einem solchem Tode bekam, und solchen als ein groß Übel verabscheuete. Die Lebens-Geister des Menschen werden öfters aus allerhand Ursachen in starke Bewegung gebracht, so, daß, wenn entweder der Mensch sich nicht bald auf das besinnen kann, auf welches er gerne wollte, oder die Lebens-Geister sonst zu matt und zu schwach sind, dieselben teils vom Willen herumgejaget und getrieben, teils von sich selbst aus Müdigkeit in diejenigen[174] Plicas und Merkmale [Falten und Eindrucksstellen] im Gehirne einlaufen, wo der Weg dazu am weitesten durch schreckliche Idéen und Bilder gemacht worden: gleichwie etwan ein Wagen-Rad, wenn man Grobes mit Kleinem vergleichen will, leicht in dasjenige Gleis eintritt, was durch andere Räder schon groß gemacht worden.

Es sind aber vielfältige Dinge, welche die Lebens-Geister matt und müde machen, oder in schnelle und heftige Bewegungen setzen. Eine große ängstliche Sorge, da der Mensch bei gewissen Zufällen nicht weiß, was er resolviren, oder zu was er sich entschließen soll: eine Furcht vor unbekannten Übeln, so uns begegnen könnten, und die durch äußerliche Drohungen erreget wird, ja, wie wir oben gehöret, viel Krankheiten, so aus Verstopfungen der Gefäße des Leibes, aus Spasmis, und Contractionen herrühren, und natürlicher weise Furcht, Bangigkeit, und Ängstlichkeit bei den Menschen verursachen, sind alle fähig, die Lebens-Geister matt und müde zu machen, und unter andern schrecklichen Einfällen auch den Einfall von dem Selbst-Mord zu verursachen, ohne daß ein Mensch mit Willen solche Gedanken erwecket, vielweniger eine Überlegungen angestellet hat, ob er eine solche Tat begehen wolle. Ein Mensch, der wegen seines Leibes gezwungener weise in Ängstlichkeit, Bangigkeit, und Furcht gesetzt wird, und welchem wehe, und seltsam ums Herze wird, wie bei Annäherung eines hitzigen Fiebers nicht selten zu geschehen pfleget, redet öfters mit sich selbst, und spricht: Gott! wie wird mir denn? was ahndt mir denn? Da ihm nun bei solchem Zustande gewiß nicht kleine Übel einfallen können, sondern bald an dieses, bald an jenes großes Übel gedenket; was wunder, wenn ihm auch alsdenn das große Übel des Selbst-Mords einfällt? Ein gewisser Medicus sagt, die weise Natur lehre alsdenn einen solchen Menschen durch dieses Bild, daß, weil des Blutes im Leibe zu viel, und solches zu dick und zu hitzig, und nicht recht circuliren könne, er ein großes Teil solches Blutes durch Aderlassen weglassen solle; welches auch, wie ich bereits oben gemeldet, wenn es geschiehet, seinen guten Effect hat, wo nicht etwan ein heimliches Gemüts-und Seelen-Anliegen eine große Haupt-Ursache aller Sorge, Angst, und Furcht ist. Ein solch heimliches Seelen-Anliegen ist die Sünde, und die Gewissens-Angst, so bei den Menschen oft wegen der Sünden Menge und Größe entstehet. Die Furcht vor Gottes Zorn, und vor einer ewigen Höllen-Pein kann das Herze ungemein ängstigen, und[175] dem Menschen so heiß um den Kopf machen, daß dieser Gedanke vom Selbst-Mord nur allzu leicht daraus entstehet, ohne daß denselben ein Mensch mit Willen erwecket, vielweniger solchen Tod allemal als ein kleineres Übel erwählet, des größern Übels, nämlich der Angst los zu werden. Schlaflose Nächte, sie mögen nun aus Ursachen herkommen, aus was vor welchen sie wollen, machen ins besondere bei schwachen Naturen das Haupt, und die Lebens-Geister schwach und müde; und sind Leute, die mit schwachem Haupte beladen, gar sonderlich geneigt, mit lauter erschrecklichen Übeln und Einfällen, und unter andern auch mit dem Bilde des Selbst-Mords geplaget zu werden. Die Ursache habe ich kurz zuvor nur angeführet, weil die Lebens-Geister im Gehirne, wenn sie mäßige Gedanken erwecken sollen, wo die Wege dazu nicht weit sind, auf denselben Wegen aber gleichsam stecken bleiben, und wegen Mattigkeit, wie ein Wagen, der ein neu Gleis machen soll, nicht fortkommen können, ihren Weg durch die weitern Gänge im Gehirne nehmen, die zu den Örtern und Merkmalen führen, so von großen Übeln eingedrucket worden. Was also überhaupt höchst matte Lebens-Geister, und müde Köpfe verursachet, die Lebens-Geister allzu hitzig und allzu flüchtig macht, ist geschickt, solch schrecklich Bild hervorzubringen. Ein gewisser Studiosus aus Holstein, der Caffée in allzu großem Überflusse trank, wurde einst ganz schwermütig und melancholisch; und ein anderer, der in meinem Hause vor 20 Jahren wohnte, rührte keinen Caffée an, wenn man ihm solchen offerirte, und gestund uns einst im Vertrauen, daß, wenn er Caffée tränke, so wäre ihm immer darauf, als wenn er sich ein Leid tun sollte. Es lebet noch eine gewisse Pfarr-Frau, die einst auch bei einem Caffée-Schmause sich verlauten ließ, daß sie beim Caffée-Trank vor Angst nicht wüßte, wo sie bleiben sollte, wo sie ihn nicht mit Milche tränke. Die Sache ist so gewiß, daß ich noch mehr dergleichen andere Exempel anführen wollte, wenn es nötig wäre; und mögen die Medici zusehen, wie sie die Ursache davon, und wie es zugehe, daß der Caffée solche Würkung habe, entdecken wollen. Es kann sein, daß bei dergleichen Leuten zu viel Säure im Geblüt ist, und daß solche durch das warme Wasser aufgerühret, rege gemachet, und wie ungelöschter Kalk, wenn Wasser hinein gegossen wird, in Brausen, und Brand gesetzet werde. Der alte Herr D. Drechseler gab dieses vor die Ursache an. Denn da ich ihm einst diese Plage vieler, wenn sie Caffée tränken, erzählete, meinte er, sie tränken zu wenig, und müßten den Kalk und die Säure im[176] Leibe mit recht vielem Caffée löschen. Bei mir aber hat es niemalen eintreffen wollen. Denn wo ich vollends Caffées zu viel trinke, so werden mir nicht nur alle Finger matt, daß sie sich contrahiren wollen, sondern die Lebens-Geister werden auch höchst flüchtig, und fangen an im Kopfe zu galoppiren, und als ob sie mit sechsen [sechsspännig] führen, so daß es im Haupte alsdenn wie Kraut und Rüben unter einander gehet, und mir bald dies, bald jenes in der höchsten Schnelligkeit einfället, und mich einer Verwirrung der Lebens-Geister besorgen muß. Da ich noch im Predigt-Amte stund, durfte ich den Tag zuvor, ehe ich predigte, keinen Caffée trinken, wenn ich auf der Kanzel langsam reden wollte. Denn weil meine Lebens-Geister alsdenn, dafern ich dessen trank, samt den Gedanken zu flüchtig und zu schnelle waren, so mußte ich auch im Reden eilen, was ich kunte, als wenn mich jemand jagte, wollte ich anders nicht beim langsamen Reden aus dem Concepte kommen.

Quelle:
Bernd, Adam: Eigene Lebens-Beschreibung. München 1973, S. 173-177.
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