§ 73

[190] Wie geht es aber denn nun zu, daß gleichwohl nicht wenige, wo nicht die meisten, von dergleichen Leuten endlich von dieser Plage befreiet, und an Leib und Seele wieder gesund gemacht werden, so daß das nicht geschiehet, was sie befürchtet, sondern daß sie sterben, wie alle Menschen sterben, und auch wohl durch einen seligen Tod hernach auf ihrem Sterbe-Bette aus der Welt abgefordert werden? Aus dem guten Rate, den man solchen Leuten zu geben pfleget, und den auch wir denselben jetzund geben wollen, wird die Antwort können auf diese Frage erteilet werden. Denn wenn sie diesem guten Rate folgen, so wird das nicht geschehen, was sie befürchtet. Denn so viel deren mit dieser Plage und Versuchung behaftet gewesen, und daraus auch durch die mächtige Hand Gottes noch erlöset worden, haben diesem guten Rate gefolget, wenn sie ihn gelesen, oder gehöret, oder ihn auch wohl selbst zu erfinden fähig gewesen. Sie haben ihre Pflicht und Schuldigkeit in solchem betrübten Zustande beobachtet, welche ihnen andere, oder die sie sich auch selbsten nach Gottes Worte vorgeschrieben haben. Weil Leib und Seele in solchem Zustande krank ist, und sich bei denselben sowohl ein Morbus idealis, als corporalis [Krankheit der Seele wie des Körpers] findet; so müssen geistliche und leibliche Arznei-Mittel mit einander verknüpfet, und zugleich gebraucht werden. Weil bei solchen Fällen und Versuchungen, sie mögen nun aus Gewissens-Angst,[190] und aus der Seele, oder aus einem kranken und Milzsüchtigen Leibe ihren Ursprung haben, dennoch die Sünden- und Seelen-Not gemeiniglich das größte ist, was sie quälet, und die Furcht vor dem ewigen Tode vielmal größer wird, als die Furcht vor einem solchen erschrecklichen leiblichen Tode: so sollen sich solche Menschen zuerst, und vor allen Dingen versichern lassen, oder gänzlich davor halten, daß dieser ihr Zustand nicht ein unfehlbares Merkmal sei, daß sie unter die Verdammten gehören, und daß das, was sie fühlen und empfinden, Vorboten und Anzeigungen der ewigen Verdammnis sind; sondern daß dergleichen Leiden ohne Unterscheid manchmal zwar den Unbekehrten, öfters aber auch den frömmsten Kindern Gottes zu begegnen pflegen. Sie sollen wissen, daß, im Fall sie auch böse Menschen gewesen, und noch in unbekehrtem Zustande wären, oder sich vor noch unbekehrt halten, Gott durch diese bittere Rute, und durch diese Plage, so die größte unter allen auf Erden, es gut mit ihnen meine, und ihre Buße und Bekehrung suche; Ja daß ihre Verderbnisse so groß, und daß ihre Bekehrung nicht wohl würde können erhalten und befördert werden, wenn Gott gelindere Mittel, als diese, sie zu bessern und selig zu machen, vor die Hand nehmen sollte. Sie sollen wissen, und glauben, daß, ob gleich eine solche Plage und Versuchung nicht ohne weisen Rat und Vorsehung Gottes über sie gekommen, der Satan doch sein großes Haupt-Werk auch mit im Spiele habe, und daß er also ihrer Person, und Verdammnis noch nicht völlig müsse vergewissert sein, weil er mit solchen grausamen Anfechtungen an sie setzet. Denn die Erfahrung hat es gelehret, daß es besser sei, daß solche miserable Personen glauben, daß ihre Plage vom Teufel komme, als daß sie meinen, daß sie lediglich dem Leibe zuzuschreiben sei; posito, und gesetzt auch, daß sie daran irreten, und der kranke Leib, und ihr Seelen-Zustand allein an diesem Übel Ursach wären. Denn, wenn sie es bloß vor natürliche Krankheiten und Zufälle [Anfälle] halten, so sind sie immer geneigt zu denken, ihr schrecklicher Tod, den sie fürchten, werde eine natürliche Suite und Folge ihrer Krankheit sein, und, weil es eine von den schwersten Krankheiten, auch übel zu curiren sein; wiewohl sie auch alsdenn ihr Vertrauen auf Gott stellen, und denken sollten, daß Gott auch Krankheiten heilen könne, die kein leiblicher Arzt auf Erden heilen kann. Sie sollen versichert sein, und sich keinesweges ihre Furcht und zaghaftes Fleisch und Blut bereden lassen, als ob notwendig ein solcher erschrecklicher Tod, den sie fürchten, folgen, und[191] das geschehen müßte, was sie fürchten; sondern daß viel hundert, ja tausend Menschen auf Erden, die vor ihnen gelebet, mit solcher Furcht sind geplaget worden, und die doch hernachmals eines natürlichen, und auch wohl seligen Todes gestorben; wie denn auch ich solcher Exempel nicht wenig anführen wollte, die von solcher Krankheit noch geheilet, und so gestorben sind, wie sie selbst gewünschet haben; wie ich auch oben beiläufig schon eines und das andere Exempel angeführet. Sie sollen wissen, daß, weil sie nach ihrem eigenen Geständnis, so lange sie den Verstand noch haben, mit Wissen und Willen dergleichen nimmermehr tun werden, im Fall sie solches ohne Verstand tun sollten, die Tat ihnen unmöglich als eine verdammliche Sünde könne angerechnet werden, noch an ihrer Seligkeit schaden, dafern sie sonst nur bekehrt sind, und mit (obwohl schwachem) Glauben an Gottes Gnade kleben und hangen.

Und gleichwie Gott ein Herrscher über Tod und Leben ist, und wir unser Ende ihm nicht vorschreiben, sondern seiner Weisheit und Güte überlassen müssen: so sollen solche Leute ihren erbärmlichen Zustand als eine Gelegenheit ansehen, die höchste Staffel der Selbst-Verleugnung auszuüben, und, da sie auf die ewige Seligkeit nicht renunciren [verzichten], und dieselbe in Wind schlagen können, wie die törichten Mystici träumen, doch auf ihren leiblichen Tod renunciren, und Gotte anheim stellen sollen, auf was vor Weise er sie will heimholen, und sich an ihrer Seligkeit und Gottes Gnade mehr begnügen lassen, als die Schande vor der Welt, und unverständiger Menschen ihre Urteile, vor deren Augen die größten Plagen der Kinder Gottes verborgen sind, besorgen und fürchten. Die Erfahrung hats gelehret, daß, wenn manche arme Seelen durch inbrünstiges und unermüdetes Gebet, sollte auch keine Inbrünstigkeit, und keine süße Empfindung, wie sonst in gesunden Tagen, mit dem Gebete verknüpfet gewesen sein, und durch tägliche Übung des Glaubens, ja fleißige Lesung des Wortes Gottes, welches zwei große Haupt-Arznei-Mittel sind, es so weit gebracht, daß sie sich Gottes Willen unterworfen haben, im Fall sie auch ohne Verstand das tun sollten, was sie fürchten, sie hernach von dieser Furcht, und also von der ganzen Not und Anfechtung befreiet worden.

Und dieses ist denn um so viel eher geschehen, wenn sie dabei leibliche Arznei-Mittel gebrauchet, und durch Gottes gütige Vorsorge an einen verständigen Arzt gekommen, der mit solchen Patienten weiß umzugehen. Haben solche Leute nur jemanden um sich, dem sie ihr Anliegen entdecket, und der sie[192] nicht allein läßt; so ist freilich das Aderlassen ein Haupt-Arznei-Mittel, welches vielfältigmal in diesem Stücke viel gute Würkungen getan; doch wie ich oben schon erinnert, daß solche Menschen nicht alsdenn wegen der durch das Aderlassen vermehrten Schwachheit des Hauptes und des Leibes nicht alleine gelassen werden, bis die ordentlichen Kräfte, so durch die Section erschöpfet worden, wieder hergestellet werden. Glückselig sind solche Leute, die einen beherzten Medicum haben, der ihnen zu Leibe gehet, mit Worten zusetzt, oder nach Gelegenheit wohl gar sie, gleichwie zum Aderlassen, also zum Gebrauch anderer Arznei-Mittel mit Gewalt zwinget. Denn der arme Melancholicus hat kein Herze, und ist der verzagste Mensch auf Erden. Die Furcht vor einem solchen erschrecklichen Tode, weil er wider alle Natur ist, hat eine allgemeine Furcht in ihm vor allen Dingen erwecket, und noch mehr die Furcht vor der ewigen Höllen-Pein, die er als eine Folge eines solchen Todes ansiehet, so daß er vor jedem Dinge erschrickt, was er in seinem Hause setzen oder legen soll, und zittert und bebet, wenn ers anders legen, oder setzen sollte. Wie er vielmal aus Furcht eines solchen Todes Stricke und Nägel, und alles von sich weg tut: so hat er nicht das Herze, Arznei-Tropfen, oder andere Medicamente bei sich zu behalten, aus Furcht, er möchte in Dummheit in der Nacht die ganze Arznei aussaufen, und sich also ums Leben bringen: So kann man leicht erachten, wie schwer es halten wird, ehe man ihn zum Aderlassen wird bewegen können.

Wo diese Plage ihren Grund in verbranntem Geblüte, in hitziger Galle, in verstopften Milze, und Pfort-Ader, und verschleimten Geäder, schwachen Nerven, Spasmis und Contractionen [Krämpfen mit Zusammenziehungen] derselben ihren Grund hat, welche kränkliche Leibes-Beschaffenheiten insgemein durch unordentliches Essen und Trinken die Menschen sich zuziehen, so daß sie es entweder an der Menge, oder an der Beschaffenheit der Speise und des Getränkes versehen [falsch machen]; so können solche Patienten ein großes zu ihrer Genesung beitragen, wenn sie auf die nocentia und juvantia [schädlichen und die gesundheitsfördernden Dinge], welches der Medicorum Consilia [Ratschläge] sind, Achtung geben, und beobachten, bei was vor Speise und Getränke ihre Furcht und schreckliche Einfälle schwächer, oder stärker werden, und folgentlich das unterlassen, bei dessen Gebrauch sie allemal so schwach im Haupte, und mit solchen schrecklichen Gedanken gemartert und geplaget werden. Die meisten versehen es darinnen. Ein gewisser Posementirer[193] vor dem Peters-Tor, dessen ich oben gedacht [S. 169], den ich vor 20 Jahren am Neuen-Jahrs-Tag auf den Knien in der Stube liegend antraf, der vor die Fenster aus Furcht Schlösser geleget hatte, trank des Morgens allemal in Meinung, daß es ihm nützlich sei, seinen gemeinen Branntewein, so ein hitziges Geblüte er auch von Natur hatte. Nachdem er auf mein Nachforschen wegen der Diæt mir solches gestanden, und ich ihm bei dem Verlust der Gnade Gottes gedroht, wo er solches Branntewein-trinken, so unter andern eine Ursache seiner Plage mit wäre, nicht unterlassen würde; so folgte er meinem Rate, ließ zur Ader, erwählte dünneres Getränke, so daß er hernachmals in kurzem von seiner Krankheit befreiet wurde, und mir vor meinen guten Rat, den ich ihm, auch was leibliche Arznei-Mittel anbetrifft, gegeben, nicht genug danken kunte. Die obgedachte [S. 178] Mäurerin in der Sand-Gasse, die ihre Kinder anfallen wollte, und welche aus Furcht vor dem Selbst-Mord, vor dem Satan, und vor der Höllen, Gestalten und Larven [Gespenster] sahe, da sie kaum ein wenig durch Purgiren [Abführmittel-Nehmen] und Aderlassen, und weil dieses alleine selten hilft, durch die Zurede des Predigers aus Gottes Wort großen Teils, ja schier ganz und gar von diesen Zufällen war befreiet worden, besuchte ich einst nach der Zeit des Morgens zwischen 9 und 10 Uhren; und siehe, da hatte sie einen großen Ranft Bauer-Brod, so noch warm war, und ein Stücke Käse in Händen, aß davon mit gutem Appetit, und war doch abermal schwangeres Leibes. Sage mir, ob es denn wohl Wunder, wenn hernach bei dergleichen Leuten sich solche Verstopfungen im Leibe finden, welche Drückungen ums Herze, und andere Übel veranlassen?

Wann diese betrübte Zufälle nicht aus einem verbrannten Geblüte entstehen, sondern wohl gar die Lebens-Geister von Kälte, und kaltem Schleim in Gefäßen des Leibes geschwächt sind, so werden solche Patienten, wenn sie einen Trunk Wein oder etwas stärker Bier, als sie sonst trinken, zu sich nehmen, gar bald merken, daß sie zu solcher Zeit nicht zu so schnellen und schrecklichen Einfällen, welche wie Pfeile fliegen, geneigt sind.

Gleichwie solche Leute nicht leicht alleine sollen bleiben, oder alleine gelassen werden; so müssen sie auch zusehen, daß sie eine gute Gesellschaft erwählen, und in der Wahl alle Klugheit beobachten. In üppiger weltlicher Gesellschaft wird ihre Angst und Plage nur noch größer; drum müssen sie sich zwar nach einer fröhlichen, aber doch christlichen und ehrlichen Gesellschaft umsehen. Sie werden doch etliche gute Freunde haben, an die sie[194] sonst gewohnt sind, und die auch einiger maßen ihren Zustand wissen, wenn sie schon eben nicht ihr ganzes Herze und Anliegen ihnen entdecket, damit durch unvorsichtige Discourse [Reden] ihre Plage nicht eher vermehret, als vermindert werde. Sie sind freilich darinnen öfters unglücklich genug. Weil sie im Gesichte furchtsam und ängstlich aussehen, so geschiehet es gar leicht, daß einige in der Compagnie durch ihre finstere Gestalt veranlasset werden von schrecklichen Fällen, und wohl gar von solchen, die sich selbst ein Leid getan, zu reden anfangen; insonderheit wenn vor kurzer Zeit etwan dergleichen Zufall [Krankheitsfall] auch sich ereignet. Die Menschen sind in diesem Stücke von unbeschreiblicher Dummheit und Blindheit, daß sie vielmal aus Unwissenheit und Unvorsichtigkeit dem Nächsten solche Leibes- und Gemüts-Krankheiten, ja wohl gar den Tod selbsten zuziehen. Weil sie selbst stark von Leibe und Gemüte sind, und nicht wissen, wie einem Schwachen zu Mute, so sehen sie nicht, wen sie vor sich haben, sondern meinen, alle Leute wären wie sie. Sie können die Mäuler nicht halten, und meinen, der Bauch müßte ihnen zerreißen, wenn sie nicht von allen Seuchen, so im Schwange gehen, und von allen erschrecklichen Fällen, so sich zugetragen, discuriren sollten; und bedenken nicht, daß sie dadurch einen Schwachen mit eben solchen Seuchen und Plagen anstecken, oder in Gefahr setzen, daß er dadurch angestecket werde. Wenn die rote Ruhr grassiret, alle Compagnien sind davon voll; und bedenken nicht, daß mancher davon erschrickt, und vom Hören und Furcht diese Seuche an Hals bekommt. Hat einer und der andere auf der Gasse etwan das böse Wesen [epileptischer Anfall] bekommen, gleich muß mit lebendigen Umständen davon geredet werden, und sitzt einer wohl in Gesellschaft der die Disposition dazu schon lange Zeit im Leibe getragen, und davon nicht reden hören kann, noch daran denken darf, ja kaum weiß, wie er, wenn er davon reden hören, ohne Ausbruch dieser Krankheit die Treppe hinunter und nach Hause kommen soll. Von der Pest will ich nichts sagen. Unser seliger Rivinus hat schon, wie oben gemeldet, gezeiget, daß die Furcht zur Zeit der Pest, weil die Leute davon die Mäuler nicht halten können, die meisten Menschen mit diesem Übel anstecke. Die Hamburger satzten vor einigen Jahren noch in die Zeitung, wieviel alle Wochen an der Pest mehr stürben, damit ja das Übel samt der Furcht noch mehr überhand nähme. So gehts auch den andern Leuten, die mit der Furcht des Selbst-Mordes geplaget werden. Hören sie in Gesellschaften davon reden, und noch[195] dazu mit vielen Umständen; so möchten sie beinahe vor Furcht und Zittern ohnmächtig werden. Ich gedenke jetzund an die selige Frau Richterin, die eine große Wohltäterin der Armen war, aber ganz ungemein mit der Milzsucht, und mit der Furcht des Selbst-Mordes viel lange Jahre, insonderheit nach ihres Mannes Tode, den sie vielleicht gar zu sehr mochte zu Herzen genommen haben, gemartert wurde. Man kunte sie nicht dazu bringen, daß sie in Gesellschaft gienge, denn die Erfahrung hatte sie gelehret, wie durch unvorsichtige Discurse in denselben ihr Übel öfters nur ärger worden. Ich, dem sie ihr Anliegen vor andern vertrauete, beredete sie einst doch, daß sie An. 1715 als meine Mit-Gevatterin nach Klein-Zschocher zum Prediger, dem Herr M. Schultzen, auf das Kindtaufen fuhr. Wir saßen bei Tische, und redeten lauter gute und erbauliche Dinge; aber siehe, da kommt zu allem Unglück der alte M. Mießler, der ehemalige bekannte Disputations-Händler, den Prediger zu besuchen, ohne zu wissen, daß er Kindtaufen giebt. Er hatte kaum bei Tische ein wenig verschnoben, so mußte er gleich von dem Selbst-Mord anfangen, den der Apotheker auf der Hayn-Straße, auf der Reise an sich begangen. Ich sahe ihn steif an, ich stieß ihn mit den Füßen, er war aber nicht zu bedeuten [halten]; ja er tat noch allerhand deutliche Umstände dazu, daß mir selbst wäre darüber bald bange worden. Die arme Frau Richterin saß da, wie eine Leiche, zitterte, und bebete, daß ihr der Angst-Schweiß immer über dem Gesichte herunter lief. Doch Gott half ihr die Not überstehen. Sie sagte aber zu mir, und Herr M. Gehren, nach der Mahlzeit: Nun diesmal noch in eine Compagnie gekommen, und nimmer mehr, und soll mich kein Mensch mehr dazu bereden, er sei, wer er wolle. Sie starb aber hernach eines ordentlichen, und seligen Todes, indem sie vom Schlage gerühret wurde; wie denn bei vielen dergleichen Leuten der Schlag, die Epilepsie, oder ein hitzig Fieber, als zu welchen Krankheiten alle Melancholici die Disposition mit sich herum tragen, ihren ordentlichen [normalen] Tod befördert.

Viele raten auch solchen Leuten zu den gewöhnlichen Gemüts-Ergötzlichkeiten, v.g. zu einem Spiel, zu welchem man in Gesellschaften insgemein zu schreiten pfleget. Und ich kann es nicht ganz mißbilligen, daferne sie anders nur überzeuget sind, daß es keine Sünde sei. An. 1704 da ich mich in dem Zustande befand, den ich oben weitläuftig beschrieben, trug ich kein Bedenken des Abends nach Tische, wo ich speisete, mit meinen guten Bekannten Karte zu spielen, und die Gedanken auf was anders[196] zu richten; und siehe, da ich einst nach Hause gieng, so hatte ich auf dem Wege die schönsten Gedanken, und gar ein besonders Einsehen, daß unser Heiland selbst vom Satan versucht worden, daß er sich von der Zinnen des Tempels stürzen sollte. Ich bekam dadurch ganz ungemeine Stärke, die auf viel Tage mein Übel verminderte. Der Satan müßte ein Narr sein, daß er diejenigen mit falschem Troste aufrichten sollte, welche seinen Absichten, und dem Verderben schon so nahe sind. Ist aber der überschwengliche Trost von Gott gewesen, so können unmöglich alle Glücks-Spiele zu allen Zeiten, und bei allen Menschen Sünde sein. (Das magst du, geneigter Leser, dir merken, daferne du etwan geneigt sein solltest, meine Plagen, welche ich in diesem Buche beschrieben, einer excessiven Morale, oder einem nimio pietatis studio [übertriebenen Pflichtgefühl] zuzuschreiben; worinnen ich eher in meinem Leben zu wenig, als zu viel getan, und eher in defectu [durch Unterlassung], als excessu [durch Übertreibung], sowohl den Lehr-Sätzen, als der Tat nach, pecciret [gesündigt].)

Solche Patienten, von denen ich hier rede, müssen auch bei ihrem Ausgehen das Wetter wohl beobachten, und wie alle Medici raten, bei dicker, trüber, kalter und nebelichter Luft lieber zu Hause bleiben, als spazieren gehen; es müßten denn schreckliche Sturm-Winde, die den Melancholicis unerträglich sind, und sie zitternd und bebend machen, ein anders ihnen raten. Daß gewisse Krankheiten in großem Maße in einer Stadt und Gegend zuweilen grassiren, macht vielfältigmal die Witterung und die Himmels-Luft. An. 1713 kriegten hier in Leipzig wohl hundert und mehr Leute auf zwei, drei Tage einen Anfall vom Fieber; und vor 6 Jahren, An. 1732 gegen Martini [11. Nov.], war fast kein Haus, wo die Leute auf einen Nebel, so gefallen, nicht schrecklich husten mußten, und sich des Fiebers kaum erwehren kunten. Vor 4 Jahren bekamen überaus viel alte Leute Zufälle [Beschwerden] von der blinden güldenen Ader [Haemorrhoides coecae]; und diejenigen, bei welchen sie schon zum Fluxu [Blutung] gekommen war, gerieten in unordentlichen Zustand, so daß dieselbe entweder außen blieb, oder der Fluxus zu stark war. Wo du mir hier noch nicht glaubest, daß Krankheiten und Seuchen der Witterung zuzuschreiben, so sage mir doch, warum bei langen Zeiten her nicht so viel Kinder an Bocken gestorben und krank gewesen, als im vorigen Jahre? Und siehe, so ist auch eine besondere Witterung, welche macht, daß die Menschen in großer Menge die Milzsucht bekommen, welche sie sonst nicht[197] gehabt, oder doch in größerm Maß damit behaftet werden. Wo die Medici von An. 1735 bis 1736 auf ihre Patienten Achtung gegeben haben, so werden sie mir Beifall geben, daß es dasselbe Jahr eine sehr gemeine [verbreitete] Krankheit, und gemeiner, als sonst gewesen. Wer nun weiß, was die Melancholia hypochondriaca vor übele Folgen nach sich ziehet, der wird leicht begreifen können, woher es gekommen, daß in eben demselben Jahre von allen Orten her Nachrichten von Leuten einliefen, die sich selbst entleibet, und warum dazumal im Desdner Blätgen selten eine Woche vergangen, da nicht ein solch trauriges Exempel angeführet worden. Keine bessere Witterung vor die Melancholicos und vor dergleichen Patienten, von denen ich hier handle, ist, als wenn es nicht zu warm, noch zu kalt, sondern stille, und etwas geschwül ist; denn, wo sie zu solcher Zeit eine mäßige Bewegung und Spazier-Gang vornehmen, und so lange damit anhalten, bis ein zulänglicher Schweiß er folget, so wird durch das Wegschwitzen der bösen und überflüssigen Feuchtigkeiten im Leibe gleichwie das dicke Blut verdünnet, also das finstere, und schwache Haupt heiter und stark gemacht, daß es ihnen auf eine Zeit ist, als wären sie neu geboren, Hoffnung, Herze, und frohen Mut bekommen, und sich wundern müssen, wo die schrecklichen Gedanken hin verschwunden, die sie nur kurz zuvor noch geplaget.

Doch laßt die geistlichen und leiblichen Arznei-Mittel noch so gut sein, Gott hat seine Zeit und Stunde gesetzt, wie lange der Christen Trübsalen und Anfechtungen währen sollen; und so lange Gott nicht der beste Arzt ist, so helfen alle Medicamente nichts. Was zu einer Zeit das Übel schwächet, vermehret dasselbe zu einer andern Zeit; so daß man bei allen Reflexionen, die man auf sich selbst macht, doch nicht klug werden kann, sondern nur Leben, Gesundheit, Krankheit und Tod in Gottes Hände stellen, und sich ihm in Demut und Gelassenheit unterwerfen muß. Es ist vielmal ein geringes Ding, woran die schrecklichsten Übel und Krankheiten hangen, und auch ein gering Arznei-Mittel, das sie vertreiben kann. Der Caffée ist ein geringes Getränke, und doch hat er mich An. 1717 weil ich ihn vorher gar nicht nach Mittage getrunken, zur Vesper-Zeit aber solchen zu trinken nach Gewohnheit anderer Leute angefangen, von einer großen Plage befreiet, wie ich solches besser unten beschreiben werde. Allein eben dieses Getränke, weil damit von mir stets angehalten [fortgefahren] wurde, hat zu einer andern Zeit eben diese Plage wiederum erneuert, so daß dieselbe anders[198] nicht, als durch Unterlassung dieses Getränkes geschwächet, und getilget werden kunte; wiewohl man in solchen Fällen den natürlichen Mitteln nicht alles alleine, sondern auch den geistlichen Arznei-Mitteln das ihrige zuschreiben muß.

Bei solcher schrecklichen Krankheit aber, so zum Selbst-Morde treibet, auf welche ich wieder komme, ist der Patient wohl der glückseligste, der, wenn er auch noch so viel Furcht hat, daß er sich selbst töten werde, doch auch Glauben, und die wahre Furcht Gottes im Herzen hat. Keinen Menschen betaure ich mehr, wenn ich ihn sehe sündigen, oder wenn ich ihn sehe in dieser oder jener großen Sünde leben, als wenn ich zugleich weiß, daß er eines Temperamenti melancholici ist. Denn wenn einmal die Sünde erkannt wird, so sind die Melancholici vor allen andern Menschen zu schrecklichen Zufällen [Zuständen] geneigt. Haben nun fromme Leute, die sich doch keiner großen Sünden bewußt sind, mit dem Satan, mit der Hölle, und mit der Gewissens-Angst gar schrecklich zu kämpfen, sobald sie als Melancholici mit der Furcht, daß sie sich selbst töten werden, angestecket werden; so kann man leicht erachten, was es vor harte Kämpfe und Ängste bei denen setzen muß, die ihr ganzes Leben in großen Sünden und Lastern zugebracht, ja wie es um die stehen muß, die bei solcher melancholischen Krankheit überzeuget werden, daß sie bisher Atheisten gewesen, und in der Religion nichts geglaubet. Sie fangen wohl alsdann an zu glauben, und kommt ihnen der Glaube, so zu reden, in die Hand, wenn sie die höllischen Mord-Klauen des Teufels fühlen, die sie zuvor vor Kinder-Spiel gehalten, und nicht bedacht, daß des Teufels Anfechtungen alsdenn am stärksten, wenn der Mensch am schwächsten; aber sie haben alle Not, und hält sehr schwer bei ihnen, daß sie nicht bei ihrem allgemeinen Glauben, oder Beifall, den sie nun erst bekommen, in Verzweifelung geraten, und, wenn die Furcht vor dem Selbst-töten ihnen den Verstand benimmt, die Tat vollziehen, so daß ihnen nicht alsdenn die Tat, als die ohne Verstand geschicht, sondern ihre Sünde und böses Leben, und ihr Unglauben an Christum, und die Verzweifelung als eine verdammliche Sünde angerechnet, und eine Ursache ihrer ewigen Verdammnis wird.

Dieses kann uns auch Licht geben, die Frage zu beantworten, was von solcher Leute, die sich selbst des Lebens berauben, Seligkeit zu halten. Die Antwort kann ganz kurz sein: Wer in Unbußfertigkeit und Unglauben seines Verstandes beraubet wird, und sich selbst das Leben nimmt, der wird nicht um der Tat willen,[199] sondern um seiner Unbußfertigkeit willen verdammt. Wo aber einer ein wahrer gottseliger Christ, und im bekehrten Zustande ist, oder sich auch unter solchen hohen Anfechtungen aufrichtig zu Gott bekehret, dem kann man die Seligkeit nicht absprechen, sollte er auch bei dieser Leibes-Krankheit durch die angesteckte Phantasie, und Furcht sich zu töten, seines Verstandes beraubet, und zu solcher Tat verleitet werden.

Quelle:
Bernd, Adam: Eigene Lebens-Beschreibung. München 1973, S. 190-200.
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