§ 75

[205] Ob nun wohl bei den meisten die Tat des Selbst-Mords ohne Verstand vollbracht wird, so bin ich doch keinesweges gesonnen zu leugnen, daß nicht auch dann und wann einige Menschen, so keine Melancholici sind, mit Verstand und Vorsatze zu dieser Tat schreiten sollten. So viel auch pure Atheisten im Tode einen Gott zu glauben möchten anfangen, so halt ich doch, daß einer in seiner Atheisterei so verblendet werden könne, daß er solchen Irrtum stets behalte, und er folglich, weil er nach dieser Welt nichts glaubt, noch fürchtet, bei gewissen Umständen, der Übel der Welt los zu werden, sich selbst mit Verstande töten könne. Viel Gottlosen sind auch Atheisten, ohne daß sie es wissen. Sie glauben weder Hölle noch Himmel, noch jüngstes Gerichte, ob sie gleich keinen Actum reflexum [Bewußtsein] ihres Unglaubens haben; und also können sie aus Desperation bei zeitlichem Unglück leicht zur Autochirie [Selbstmord] sich entschließen. Wenn unter uns noch Stoici wären, welche die Autochirie vor die höchste Staffel der Tapferkeit vor Zeiten hielten, so wollte ich sagen, daß auch diese kein groß Bedenken tragen würden, den Tod freiwillig zu erwählen, den Seneca und Socrates gezwungen erwählen mußten. Ich möchte wissen, was Rœbeck, der gelehrte Schwede, vor eine Religion müsse gehabt haben, der vor etlichen Jahren sich ersäufte, und unter seinen Manuscriptis eine Schrift de morte hominis eruditi voluntaria, von dem freiwilligen Tode eines Gelehrten hinterließ, und also sattsam zeigete, daß auch sein Tod voluntaria, und freiwillig müsse gewesen sein: und was ein vornehmer Engelländer vor eine Religion müsse[205] gehabt haben, der vor etlichen Jahren sich selbst erschoß, damit sein großer Reichtum nicht seinem bösen Weibe, sondern dem königlichen Fisco anheim fallen möchte. Es mögen auch wohl manche Selbst-Mörder ein irrendes Gewissen haben, so daß sie in dem Wahn stehen, Gott werde sie doch nicht verdammen, weil sie v.g. ohnedem sterben, und in der Feinde Hände kommen müßten; oder weil sie das große Übel nicht länger ertragen könnten. Saul fiel mit Vorsatz in sein eigen Schwert, weil er nicht in die Hände der Philister fallen wollte [1. Sam. 31,4]; und ein Admiral kann vielleicht sein Schiff anstecken, weil er glaubet, daß er von dem Feinde als ein Gefangener ohnedies werde getötet werden. Jener Mann, oder Studiosus in Wittenberg, ehe er selbst Hand an sich legte, schrieb auf den Tisch: Ich hoffe, Gott wird mir doch deshalben noch gnädig sein, und mich nicht von seinem Angesichte verwerfen. Predigern kann man es also nicht verargen, wenn sie zuweilen vor einer solchen schrecklichen Sünde warnen, und dieselbe hart bestrafen [tadeln]; dafern sie nur nicht der armen Melancholicorum, die mit Furcht, daß sie es tun werden, gequälet werden, und die solche Predigten mit Zittern und Beben, und mit Vermehrung ihrer Krankheit anhören, nicht vergessen, sondern ihnen, als die wahrhaftig in usum consolatorium gehören, einen Mut und Trost zureden, und sie der Hülfe, und Erlösung Gottes versichern.

Quelle:
Bernd, Adam: Eigene Lebens-Beschreibung. München 1973, S. 205-206.
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