14. Ein Blick auf den Hasen.

[127] Eigentlich wäre es doch viel gemütlicher gewesen, wenn wir heute nicht mehr ausgegangen wären. Ich hatte die letzte Nacht fast nicht geschlafen, hatte mich seit vielen Tagen abgesorgt, mich viel geängstigt, ich hatte mich freilich auch gefreut, aber jedenfalls hatte ich große seelische Erregungen durchgemacht, die es vielleicht rechtfertigten, daß ich mich nun nach dem Hafen der Ruhe sehnte. Ich sagte das auch der Mutter, als wir durch die schmutzigen Straßen wanderten.

»So etwas begreife ich gar nicht!« sagte die Mutter mit starker Mißbilligung, »ausruhen möchtest du dich? Du bist doch mit der Bahn gefahren, das hat dich doch unmöglich angestrengt! Wenn ich viele Meilen gegangen[127] bin, und habe schwere Lasten getragen, so habe ich mir in einer fremden Stadt doch nur kurze Rast gegönnt, um mir dann alles Schöne und Gute anzusehen, was die Stadt bietet. Sei doch keine solche Schlafmütze!«

»Hat Hamburg viel Schönes und Gutes?« fragte ich. Ich mußte daran denken, wie ich bei meiner Abreise doch so vielfach gewarnt worden war.

»Ja,« sagte die Mutter mit einer Beimischung von Strenge im Ton: »es kommt freilich viel darauf an, inwieweit sich der Mensch selbst in Zucht hat. Wenn du deine Augen, Ohren und Füße nicht hütest, so kannst du auch leicht in einer solchen Stadt ins Verderben geraten! – Jetzt gehen wir an den Hafen. Wenn ich auf dem Wege dahin an den Schenken stehen bleiben wollte, um mir die Lieder anzuhören, die den angetrunkenen Matrosen vorgesungen werden, oder wenn ich mir in den Schaufenstern die häßlichen Bilder oder die verzerrten Masken ansehen wollte, da würde ich der Seele ja nicht das vorführen, was sie erhebt oder fördert. Denke, der Mensch ist Gott verantwortlich dafür, was er sieht und hört! Wende den äußeren und inneren Blick immer dahin, wo das Ergebnis tüchtigen Schaffens und Strebens liegt! Du hast nur noch kein Verständnis dafür, aber du würdest staunen über das, was hier geleistet wird! Hier wird jeder Kraft, jeder Begabung freie Bahn bereitet! Du kannst dir nicht vorstellen, wie das Herz aufjubelt, wenn einem das Feld angewiesen wird, auf dem man sich schaffensfreudig betätigen kann. Die Seele weitet sich gleichsam, es ist als ob ihr Schwingen verliehen würden! Ja, wohl dem, dem eine große Aufgabe zuerteilt wird! Heißes Ringen und Kämpfen stählt Leib und Seele; es hebt über persönliches Leid hinaus und bringt uns Gott näher. Gott schafft ja auch ununterbrochen! – Aber siehst du, hier sind wir!«[128]

Wir waren zuletzt während der Reden der Mutter durch stille Anlagen gegangen, jetzt standen wir plötzlich auf einer Anhöhe. Welch ein Anblick! – Wir schauten hinunter auf den breiten Elbstrom. In einen Mastenwald blickten wir, der von tätigen Menschen seltsam belebt war. Mit Staunen sah ich, wie Neger katzenartig an schwankenden Strickleitern emporkletterten. Große und kleine Schiffe drängten sich bunt durcheinander. Laute Zurufe begleiteten das Ein- und Ausladen von Waren. Riesige eiserne Arme holten die schweren Säcke und beförderten sie ächzend ans Land. Die Mutter deutete auf ein besonders großes Schiff und sagte, das sei ein Auswandererschiff, gelegentlich wolle sie einmal mit mir darauf gehen und mir die Einrichtung zeigen. Pfiffe ertönten, schwarze Rauchwolken stiegen in die Luft, große braune und kleine weiße Segel blähten sich. Nicht fassen konnte das äußere und innere Auge die wunderbare Welt, die sich da unten entfaltete. Sinnend, leicht aufseufzend schaute die Mutter weg über die Schiffe, weit hinaus, – da hinaus, wo die Elbe breiter und breiter wird.

»Sieh,« sagte sie, »da geht's aus der Enge in die Weite, in die fernen unbekannten Erdteile!«

Quelle:
Bischoff, Charitas: Augenblicksbilder aus einem Jugendleben. Leipzig 1905, S. 127-129.
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