In der Gerarer Werkzeug- und Maschinenfabrik Wesselmann Bohrer & Co.

[243] Meinen Eintritt in diese neue Fabrik habe ich bereits geschildert. Im Verhältnis zur Holzindustrie kam mir das Arbeiten in der Metallbranche etwas gemütlicher vor. Allein das sollte nur in den ersten Tagen so scheinen. Als ich danach zu gleicher Zeit die Zahnfräsmaschine bediente, dann Butzen abfeilte und zentrierte, hatte ich zu tun wie der Leipziger Rat. Bei meinem Eintritt begrüßte mich ein Dreher. Er hätte gehört, daß ich gemaßregelt gewesen, und freue sich, in mir einen organisierten Arbeiter und Genossen zu finden. Er warnte mich sofort vor einem anderen Dreher, der nicht organisiert sei und im Verdacht stehe, die Kollegen zu verklatschen. Als ich dann beim Frühstück etwas aus meiner »Volkszeitung« zum Besten geben wollte, legte er gleich die Finger auf den Mund und deutete nach dem Verdächtigen hinüber. Natürlich verstummte ich sofort. Mein Mittagsessen verzehrte ich im Restaurant »Teutonenburg«, weil dessen Besitzer, Anton Gerold, mir von jenem als Parteigenosse bezeichnet worden und deshalb wohl wert war, täglich von uns unterstützt zu werden. Als ich mein Glas Bier bekommen, erschien der Verdächtigte, verlangte für 15 Pfennige Weißwurst und setzte sich neben mich. Als ich fertig mit essen war, schrieb ich eine Karte an meinen Bruder nach Ürdingen, um ihm mitzuteilen, daß ich wieder Beschäftigung hatte und der großen Sorge Arbeitslosigkeit enthoben sei. Dabei schielte er nach der Adresse und erkundigte sich dann nach meinem Bruder. Gleichzeitig teilte er mir mit, daß er ebenfalls 5 Jahre in unmittelbarer Nähe beschäftigt gewesen sei und zwar in der großen[243] Maschinenfabrik von Schieß in Düsseldorf. Zwar sei dort alles katholisch, aber er habe doch etwas gelernt. Als er nach Düsseldorf gekommen, habe er fast gar nichts gekonnt, mit 26 Pfennigen Stundenlohn sei er eingestellt worden und nach geraumer Zeit habe er im Akkord 75 bis 90 Mark in 14 Tagen verdient. Bei seinem Weggange daselbst soll der Meister zu ihm gesagt haben, er hätte nicht geglaubt, daß er vier Wochen im Betriebe aushalten würde. Auch vom Leben während der Karnevalszeit erzählte er vieles, und noch manches andere. Kurz und gut, ich kam schnell zu der Überzeugung, daß er nicht hinterlistig sein und Kollegen denunzieren könne, wenn er auch manchmal verächtlich uns »Tagelöhner« nannte, worüber jener erstere Dreher immer besonders erbost wurde. Als ich dann an diesem ersten Nachmittag mit einem Treibriemen Mühe hatte, half mir sofort ein langer Arbeitsmann, an dessen Dialekt ich den Bayer erkannte. Er nannte sich Johann Roth und ist mir in der Folgezeit ein treuer und ehrlicher Kollege geworden. Wenn er sah, daß ein neuer Arbeiter um irgend etwas verlegen war oder sich in irgend eine Sache nicht schicken konnte, so half er stets sofort. Auch bei mir war das öfter der Fall. Er verstand die Maschine besser als der Vorarbeiter. Seine Hauptbeschäftigung war Stahl abzustechen; wenn er aber viel Vorrat hatte, dann fräste er Zapfen an.

Herr Beeger stellte mich, wie schon gesagt, anfangs an eine einfache Drehbank, an der ich Spitzen andrehen mußte. Nach einiger Zeit trug er mir für diese Arbeit Akkord an, mit dem Bemerken, daß ich bei ihm noch ein Rittergut verdienen könne. Ich erlaubte mir die Bemerkung, daß darunter wohl eins mit drei Gänsen gemeint sei. Bei Beginn jenes Nachmittags, wo wir früh über meine Akkordarbeit gesprochen hatten, erschien er an meiner Drehbank. Ich mußte den Stahl schleifen und anfangen zu drehen. Er zog seine Taschenuhr und blickte gespannt auf meine Bewegungen. Ich war so einfältig, mich in jeder Weise anzustrengen. So schnell es überhaupt möglich war, leistete ich meine Arbeit, jeder Handgriff galt. Herr Beeger sagte dann: »Macht inklusive Ein- und Ausspannen soviel Minuten, mithin die Stunde so und soviel[244] Stück, für 20 Millimeter-Bohrer würde er da 1 1/2 Pfennig geben, also verdiente ich pro Woche über 20 Mark. Quarkspitzen. Das mochte wohl bei Stahl bis 25 Millimeter Durchmesser gehen, aber bei 30 Millimeter mußte ich die Maschine schon einen Gang langsamer laufen lassen und bei 35 Millimeter den langsamsten Gang nehmen. Bei 30–34 Millimeter Durchmesser gab es für die Spitze 3 Pfennige.« Der Meister hatte also den langsameren Gang nicht mit beobachtet. Erst später, als ich ihm einmal energisch auf die Bude rückte, ließ er sich herbei, das Doppelte für diese Stahldimensionen zu geben. Bis dahin mußte ich, um auf meinen in Aussicht gestellten Lohn zu kommen, immer die Stunden für Spähne rausschaffen, Bohrer trocknen usw. aufzuschreiben suchen.

Zu jener Zeit war eine Skizze von mir im »Postillon« abgedruckt worden. Sie war »der Jungfernkranz« betitelt und behandelte Soldatenmißhandlungen auf einem Kriegsschiffe. Ich hatte die Skizze nach der Erzählung eines ehemaligen Obermatrosen niedergeschrieben, die dieser mir in einer Unterhaltung am Biertisch anvertraut hatte. Die Kollegen erfuhren davon und ließen aus der »Teutonenburg« den »Postillon« nach der Fabrik holen; dort zirkulierte er bis zum Meister, der mich dann nach meinem Bildungswege ausfragte. Ich sagte ihm, daß ich wohl bis Quinta Latein gelernt habe, im übrigen aber Autodidakt sei. Er lud mich darauf ein, ihn nach Arbeitsschluß einmal zu besuchen. Ich kam diesem Wunsche nach und war von der Aufnahme, die ich bei ihm fand, wirklich angenehm überrascht. Er stellte mich auch seiner jungen Frau, einer wirklichen Schönheit, vor. Dabei fügte er in humoristischem Tone hinzu, daß ich Heinrich Heine zu Füßen gesessen habe; doch machte ich mir weiter nichts aus der ironischen Schmeichelei. Auch mit den übrigen seiner Untergebenen verkehrte Herr Beeger freundlich; auf die faule Haut legen gab es trotzdem nicht. Jeder mußte bei ihm dran, wenn es galt. Das wußte auch der Direktor, Korb mit Namen, der seine Arbeiter noch etwas verdienen ließ. Meist lag indes die ganze Betriebsleitung in Beegers Händen; denn Korb reiste in Geschäften nach fast sämtlichen europäischen Staaten und warb Kunden und Vertreter. Andererseits[245] freilich verfügte Herr Korb auch kurzer Hand die Entlassung eines mir schnell liebgewonnenen Freundes, Bläsig, weil dieser unablässig für den Metallarbeiterverband tätig war. Das kam so. Ein Schlosser Marx, dessen Frau starb und dessen Kinder krank lagen, und der dafür von uns durch gemeinsame Sammlung Unterstützung erhalten hatte, brüstete sich immer, lange Jahre mit zum Verband gesteuert zu haben und jetzt noch seine Beiträge nach der Leipziger Zahlstelle einzusenden; dabei trank er stets sehr viel, namentlich Schnaps und machte öfters blau. Bläsig wollte der Sache einmal auf den Grund gehen und schrieb deshalb an die Zahlstelle Leipzig. Er erhielt zur Antwort, daß der Mann zwei Jahre vorher ohne Abmeldung nach Eisenach abgereist und mit 18 Beiträgen im Rückstande geblieben sei. Schwarz auf weiß zeigte Bläsig das Schriftstück den paar Freunden des »falschen Waldemar«; diese aber denunzierten Bläsig deshalb beim Direktor, und der beauftragte Herrn Beeger mit dessen Entlassung. So leid es diesem tat, konnte er dennoch nicht wider den Stachel löcken; er mußte dem Befehle nachkommen. Bläsig erhielt freilich wieder Arbeit in der Maschinenfabrik bei Kühn; dort brach aber bald ein Streik aus, nach dem es Bläsig glückte, bei der weltberühmten Firma Carl Zeiß in Jena Arbeit zu erhalten. Dort ist er noch heute, und wird es nie zu bereuen haben. Wohl dem, der dort unterkommt!

Außer den schon Genannten arbeitete noch ein Dreher Heilmann in unserem Drehsaal, der meist Fräser für die Spiralmutter drehte. Er drehte nebenbei aber auch gern allerhand Sachen für seinen Privatgebrauch und eines Freitags, als Herr Beeger mit der Lohnberechnung zu tun hatte, drehte er sich sogar einen Satz Trommelschrauben. Er war nämlich beim Militär Tambour gewesen. Dieser und ein Fräser Schwarz liehen sich oft, wenn ihre Maschinen liefen, meine Volkszeitung und lasen. Heilmann hatte sich einmal hinter dem Hauptriemenverschlag auf eine Kiste gesetzt. Nur eine kleine Zeitungsecke sah man doch daraus hervorlugen. Da kam der Werkmeister herein, sah sie und ging auf ihn zu. Ohne weiter Worte zu machen, nahm er ihm das Blatt weg und steckte es zu[246] sich, natürlich um es erst selbst zu lesen. Dann kam er zu mir und sagte: »Altenburger Volkszeitung? Natürlich da sind Sie wieder derjenige, welcher. Sie verseuchen mir noch die ganze Bude mit Ihrem sozialdemokratischen Gift.« Dann lächelte er und ging seiner Wege. Wenn er etwas an meiner Arbeit zu tadeln hatte, sagte er es einem andern: »Zeigen Sie mal dem Bromme, wie's gemacht wird; ich will es ihm nicht selbst sagen, der wird sonst sofort nervös.«

Dann hatten wir auch einen aus der Bukowina als Dreher an den Reineckerschen Wasserbänken unter uns. Er war ein lang aufgeschossener Jüngling, sehr schmal und hager, mit tiefliegenden schwarzen Augen und kohlschwarzem Haar. Er rauchte den ganzen Tag Zigaretten, die er sich meist selbst drehte. Er lernte es mir auch. Sonntags leistete er sich ein Päckchen »Herzegowina« für 50 Pfennige. Montags hatte er dann und wann noch einige davon, und wenn er damit zum Drehsaale hereintrat, so roch man den aromatischen Duft auch in der entferntesten Ecke. Sein Vater lebte nicht mehr; der war in einem großen Holzwerk Sägenleiter gewesen und zwar in der berühmten Schlesingerschen Spezialfabrik für Klavierböden, Resonanzboden genannt, die als Teile in die ganze Welt verschickt wurden.

Die Fräser und Schleifer arbeiteten abgeschlossen im Parterre, so daß unser, der Drehersaal, auch in hygienischer Beziehung wirklich erträglich war. Die Aussicht von ihm fiel auf die hintere innere Seite eines Häuserviertels, und namentlich im Winter Morgens, wenn in den Schlafgemächern und Küchen noch Licht gebrannt wurde, konnte man von ihm aus interessante und gelegentlich auch pikante Beobachtungen machen. Im Parterre arbeitete als Härter ein gewisser Seliger, der ein sehr bewegtes Leben hinter sich hatte. Er war im Alter von 17 Jahren mit einem Kollegen ausgewandert und 8 Jahre im Dienste der französischen Fremdenlegion gewesen. Dort ist er im Jahre 1893 als Sergeant entlassen worden. Seinen Leichtsinn gab er aber auch darnach nicht auf. Er trank viel Bier, nicht nur während, sondern auch nach der Arbeit. Bei den nicht seltenen Überstunden durfte der Bierkrug nie fehlen und[247] beim Härten ebenfalls nicht. Allerdings in der kolossalen Hitze, die an dem glühenden Ofen herrschte, war das wenigstens zu entschuldigen. Im Sommer herrschte darin eine Durchschnittstemperatur von 46–54 Grad. Allein der Arbeitsbursche, der für 18 Pfennige Stundenlohn dabei sein mußte, mußte es auch ohne Bier aushalten. In seinem Suff machte er eines Tages Schicht, nachdem er vorher fast eine Woche lang blau gemacht hatte. Nüchtern war er auch bei diesem Vorgang nicht. Abends erwartete er uns vor dem Eingang und zeigte uns ein faustgroßes Stück Cyankali mit dem Bemerken, wenn er's satt habe, so genüge hiervon eine Wenigkeit, sich alles Leides zu entheben. Zum Härten wurde nämlich Cyankali und Salz benutzt. Er konnte also leicht in Besitz solch starker Gifte gelangen. Später hat er nochmals bei uns angefangen, aber für einen verhältnismäßig niedrigeren Lohn. Trotzdem hat er noch zwei- oder dreimal seine Familie verlassen und ist in der Welt herumgelaufen. Seine Frau ließ ihn dann aber immer ein volles Vierteljahr zappeln und als Kostgänger gehen, bevor er wieder zu ihr ziehen durfte. Man denkt, er hätte sich vor seinen vier kleinen Kindern schämen müssen. Schließlich hatte er eine Stelle als Diener am französischen Konsulat in Hamburg. Er erlitt dort durch einen Treppensturz einen Beinbruch und bezog eine kleine Unfallrente. Nun war seine Familie von neuem gut, ihn als Halbinvaliden aufzunehmen. Er war kerngesund und doch floh er die Fabrikarbeit. Unsereiner ist lungenkrank und wäre froh, wenn man sie weiter ausüben könnte. Aber von dieser Sorte gibt es noch mehr.

Wir hatten auch einen Schlosser, den man schon als Original bezeichnen konnte. Er war äußerst geschickt, machte Fräser-Lehren und führte die saubersten Arbeit in sehr kurzer Zeit aus. Bei Akkord kam er auf 35 bis 45 Mark pro Woche. Montags aber war Ruhe, da trank er und auch der Gedanke an seine Frau und seine 2 bildhübschen Töchterchen hielt ihn nicht davon ab. Früher war er Seiltänzer und Jongleur gewesen. Sein Vater hatte früher ein eigenes Akrobatengeschäft, in Gestalt einer Arena mit Turmseil verbunden, besessen. Ebenso geschickt wie im Arbeiten war er[248] im Vortragen von Kouplets, im Seillaufen, Jonglieren und der Parterregymnastik. Gegen Geld und Bier konnte man alles von ihm haben. Wollte man schnell seinen abgenutzten Drehstahl ausgestreckt und frisch vorgerichtet haben, mußte man sich selbstverständlich zu einer Bierspende entschließen. Sonnabends nach dem Lohnzahlen wartete stets seine Frau mit seinen beiden Mädchen, die er, nebenbei bemerkt, zu Hause im Drahtseillaufen unterrichtete, vor dem Fabrikeingang auf ihn, um sich wenigstens ihr Wirtschaftsgeld zu sichern. Denn sonst kam ihr leichtsinniger Ehemann nicht vor dem frühen Morgen nach Hause und verjubelte bis dahin den größten Teil seines Wochenlohnes. Wenn er nüchtern war, nahm er seine Frau mit den Kindern lächelnd beim Arme und ging mit ihnen zur nächsten Kneipe, um erst einige Glas Bier zu trinken. Dann erst ging er mit nach Hause. Wenn er aber schon während der Arbeit gezecht hatte und die Frau empfing ihn am Fabriktor, dann wehe ihr! Sie zitterte dann ordentlich, denn sie mußte jeden Augenblick auf Ohrfeigen gefaßt sein. Schmeichelnd drängte sie sich ihm stets entgegen, und war froh, wenn er ihr einen Wink gab, mit zum Budiker zu gehen. Nicht selten vertilgte er dann in einer halben Stunde 6 Glas Bier. Auch die Frau bekam mit den Kindern eins. Und herzzerreißend wirkte da öfter der Anblick auf mich, wenn der Vater die beiden blondgelockten Töchterchen, die einen Abscheu vor dem vielen Biertrinken zu haben schienen, zwang, immer mehr zu trinken. Die Mutter aber blickte die Mädchen dabei auch noch aufmunternd an. Nach einem blauen Montage im Suff erhielt auch er eines Dienstags seine Entlassung.

Das war aber schon, nachdem der Direktor Korb seines Amtes entsetzt war. Damals hatte sich nämlich das Gerücht verbreitet, daß Korb die neunstündige Arbeitszeit einführen und dabei, anstatt die Löhne zu kürzen, noch etwas habe zulegen wollen. Korb, wohl ein Württemberger von Geburt, hätte nämlich lange Jahre in Sheffield in England ein Stahlwerk geleitet, und es sah deshalb aus, als ob er wirklich einen weiteren Blick und ein warmfühlendes Herz für seine Arbeiter hätte. Davon wollten nun aber die[249] Aktionäre freilich nichts wissen. Sie führten zu jener Zeit einen Prozeß wegen der Fräsmaschinenpatente mit einer Debschwitzer Konkurrenzfirma, und um endlich die ganze Angelegenheit aus der Welt zu schaffen, kauften sie schließlich deren ganzen Betrieb und übernahmen die beiden Chefs als Direktoren. Das war dann willkommener Anlaß, um den alten Direktor schnell abzuschieben. Das erste, was nun die neuen Direktoren taten, war eine Kürzung der Akkordlöhne. Gleich bei den infolge der Übergabe stattfindenden Inventurarbeiten entstanden Differenzen. Bisher waren Überstunden, Durcharbeit der Härter und Nachlasser in den Mittagsstunden usw. mit 25 Prozent und Sonntagsarbeit mit 50 Prozent Zuschlag vergütet worden. Herr Beeger bestellte auch mich mit zu der an einem Sonntag im Hochsommer vorgenommenen Inventur. Und ich kam, denn 50 Prozent Zuschlag übten einen Reiz auch auf mich aus. So lief ich denn früh nach Gera und Abends zurück. Denn an den Sonntagen verkehrte unser Arbeiterzug nicht, und die Wochenkarten haben für andere Züge keine Gültigkeit. Ich mußte Bohrer zählen und gegen Abend beim Abwiegen des Stahlvorrates helfen. Die Stahlstangen waren schwarz und ölig, so daß die Kleider und Hände böse zugerichtet wurden. Am darauffolgenden Sonnabend erhielten wir nun nur unsern gewöhnlichen Stundenlohn für den geopferten Sonn- und Ruhetag. Es folgte selbstverständlich allgemeines Murren. Auch Herr Beeger bedauerte es, aber er könne nichts dagegen tun; die neue Direktion habe jeden Zuschlag abgelehnt. Und dabei blieb es.

Im Herbst 1899 zog die Fabrik um. Die Firma hatte im Vorort Zwötzen ein neues Fabrikgebäude gebaut und den Betrieb für 200 Arbeiter eingerichtet. Im alten Bau hatte ich für das Spitzenandrehen noch eine Zulage für die dreißig bis fünfzig Millimeter-Dimensionen erhalten, außerdem hatte ich Stubsstahl abgestochen. Dieser wurde zu zylindrischen Bohrern von einzehntel bis 12 Millimeter Durchmesser verwendet. Er brauchte nicht gedreht zu werden, denn es war gezogener und polierter Silberstahl. Ich erhielt für das Durchstechen und Spitzenandrehen 50 Pfennige bis 2 Mark pro hundert Stück. Wenn ich mich tüchtig ins Zeug legte, so[250] brachte ich es damit auf 20–21 Mark pro Woche. Ich war Herrn Beeger überaus dankbar dafür; das war doch noch ein Lohn im Vergleich mit den 13–15 Mark in der Holzbranche zu Ronneburg. Außerdem arbeitete ich hier nur 10 Stunden, während in Ronneburg 11 Stunden geschanzt werden mußte. Kurz vor Beginn der Auszugsarbeiten nun bat ich Herrn Beeger, mir auch noch eine Zulage im Stundenlohn zu gewähren; seit einem ganzen Jahr schon arbeitete ich fortwährend im Akkord; wenn es den aber bei der neuen Verwaltung nicht gäbe, so hätte ich nur 27 Pfennige Stundenlohn wie ein Jahr vorher und das müßte mich sehr zurückwerfen. Herr Beeger wies mich aber ab mit dem Bemerken, daß es in der neuen Bude noch mehr Akkord geben würde, als bisher. Wir wurden nun mit den Arbeitern der bisherigen Konkurrenzfirma untermischt. Auf die rechte Seite des großen Saales, der unter Schettdach und mit Betonfußboden hergestellt war, kamen die Drehbänke, auf die linke Seite die Fräs- und Schleifmaschinen zu stehen. Letztere Arbeit war wegen des fortwährenden Schmirgelstaubes sehr ungesund. Der damit betraute Arbeiter verfällt unfehlbar über kurz oder lang der Tuberkulose. Auch der stärkste Organismus wird durch diesen Staub vernichtet. Wer dabei noch einen ziemlich anständigen Lohn verdient, gut ißt und trinkt, kann es allenfalls 10 Jahre aushalten, Meist aber muß er schon während dieser Zeit 2 bis 3 Mal eine Lungenheilanstalt aufsuchen, bis es aus mit ihm ist. Im hintern linken Teile des Saales standen die zum Werkzeugmaschinenbau nötigen Maschinen, wie Hobel-, Schapping-, Bohr-, Horizontalbohr-, Stoß-, Nuten- und Universalfräsmaschinen. Um den ganzen Saal herum, an den Wänden, waren die Schraubstöcke der Schlosser gruppiert. Jetzt wurden außer den Spiralbohrern noch sämtliche andre für die Metallbranche nötigen Werkzeuge wie Schneidkluppen, diverse Fräser, Bohrknarren, Rohrzangen, Richtplatten, Lehren, Handbohrmaschinen, Schneidbohrer, Windeisen, Bohrfutter fabriziert. Neben dem Hauptsaal lagen das Magazin und die Lager- und Packräume, dann folgten die Härterei und Schmiede, dann die Modelltischlerei und endlich Kontor und Direktionsräume. Im linken Flügel war[251] das Kesselhaus mit der Zwillings-Dampf maschine, der Heißluftanlage und dahinter der Speisesaal mit Kantine.

Als ich in das neue Gebäude eintrat, meldete ich mich beim Drehermeister Weise. Ich kam vorläufig wieder an meine alte Maschine. Als ich aber wegen des Akkords anfragte, winkte er ab, davon sei der »Alte« kein Freund und »Akkord sei Mord«, erwiderte er mir. Wie wir später sehen werden, wurde Weise noch der eifrigste Verfechter für Akkord- und noch mehr für Mordarbeit, deshalb nahmen sich seine damaligen Worte wie purer Hohn aus. Nach vier Wochen verlangte ich Zulage; denn warum sollte ich jetzt für 27 Pfennige Stundenlohn arbeiten, wobei ich wieder nur auf 16 Mark Wochenlohn stand, während ich im ganzen letzten Jahre 20 Mark im Durchschnitt verdient hatte? Ich bekam aber für diese Arbeit nicht mehr. Zum Glück wurde der Dreher Heilmann an die Schleifmaschine gestellt und Weise beorderte mich an die Wasserbänke zum Spiralbohrerdrehen. Heilmann blieb noch zwei Tage bei mir und zeigte mir die nötigen Handgriffe; denn bei dem Bedienen einer selbsttätig ausrückenden Drehbank, wie es meine neue war, kann man, abgesehen vom Einstellen, Stahlschleifen und -messen, nur von Handgriffen sprechen; man wird selbst zur Maschine und hat nur noch eine rein mechanische Tätigkeit. Am nächsten Freitag bat ich denn auch, und zwar den Direktor selber, um Zulage. Ohne weiteres erhielt ich 2 Pfennige die Stunde mehr. Nach 6 Wochen riskierte ich es noch einmal, und er schlug mir auch diesmal eine Lohnerhöhung um 1 Pfennig nicht ab. Bei 30 Pfennigen Stundenlohn aber glaubte ich es nun aushalten zu können. Ich hatte übrigens 2 Bänke zu bedienen; wenn man große und starke Bohrer zu drehen hatte, konnte man sich auch dann noch schöne Zeit dabei lassen. Ich machte dann gewöhnlich Verse, die ich Abends in ein Diarium einschrieb. Allerdings war viel Kohl dabei, auch Stellen, wo man sagen kann: »Reime Dich oder ich fresse Dich.« Trotzalledem sind sie mir ans Herz gewachsen. Nur derjenige, der selbst im dumpfen, staubigen Fabriksaal gestanden und namentlich in den Frühlingstagen eine unbeschreibliche Sehnsucht nach der freien Gottesnatur, nach Wiesen und Wäldern gehabt[252] hat, kann sich in meine Stimmungen versetzen. Gerade in dieser Zeit, im Frühsommer, traf ich eines Sonntags Nachmittags auf dem Bahnhofe mit meinem alten Schulfreund Ernst Dietzmann unverhofft zusammen. Er erzählte mir, daß er die letzten großen Ferien in Norderney verbracht habe und in diesem Sommer die Alpen zu besuchen gedenke. Ich habe am nächsten Tage hinter meiner Maschine geweint, daß ich diese Naturschönheiten niemals genießen, niemals das Brausen des Meeres vernehmen werde. Mein Nebenkollege damals war ein Österreicher und hieß Karl Koblischke. Der frug mich nach dem Grunde meiner Verstimmtheit; denn wir hielten zusammen und vertrieben die Zeit nach Möglichkeit mit wissenschaftlichem Disput. Als er den Grund erfuhr, fing er gleich an, mir von seinem Leben und seinen Wanderungen im Gebirge zu erzählen, die mich aber natürlich nicht froher machten. Er war sehr gebildet und verfügte über ein umfangreiches Wissen, namentlich in der Elektrizität. Zu Hause hatte er nicht nur elektrische Klingel und einen mit dem Regulator verbundenen elektrischen Wecker, sondern auch ein Telephon, durch das er mit einem 2 Häuser entfernt wohnenden Freunde verbunden war. Er hätte wirklich ganz gut als Elektrotechniker oder doch als elektrischer Installateur Beschäftigung suchen können. Im übrigen war er gerade so arm wie ich. Er war auch Parteigenosse und gewerkschaftlich organisiert, schimpfte aber oft auf unsere Führer oder wenigstens auf die Verleger unserer Parteiblätter, denen es besser als ihm gehe. Er fühlte sich auch befähigt, solch ein Amt zu verwalten; und ihm ginge es so traurig. Aber wie viele andere tätige Genossen fühlen nicht dasselbe in sich. Mir geht es ja selbst nicht anders, und ich bin dazu infolge meines Lungenleidens zu einem Berufswechsel geradezu verpflichtet; allein alle meine bisherigen Bemühungen in dieser Richtung haben sich als umsonst erwiesen, obwohl ich stets in den vordersten Reihen gekämpft habe. Ich sitze eben in einer Kleinstadt; in den Großstädten aber, den politischen Zentralen, gibt es genug befähigte Genossen; außerdem geht es ohne persönliche Beziehungen auch in der sozialdemokratischen Partei nicht ganz ab. Als Koblischke gehört hatte, daß[253] ich auch schriftstellerische Arbeiten machte, machte er es mir nach. Doch ohne rechten Erfolg. Er erlahmte jedenfalls schnell wieder und wollte sich nunmehr nur noch mit Elektrizität beschäftigen. Er hat auch mich in diesem Fache in vielem aufgeklärt, wollte mir auch noch die Gabelsberger Stenographie beibringen, die er in dem Wiener Arbeiterverein gelernt hatte. Allein alle diese Studien wurden bald darauf jäh unterbrochen.

In der Fabrik war wie alljährlich am 1. Juli Inventur, wobei der Betrieb 2 Tage ruhte. Am darauffolgenden Lohntage verlangte nun Koblischke die gefeierte Zeit mit bezahlt. Er berief sich dabei auf § 616 des Bürgerlichen Gesetzbuches. Dieser Paragraph besagt, daß der Unternehmer stets für ausreichende Beschäftigung zu sorgen habe. Der Portier suchte ihn wie ich davon abzubringen. Vergeblich. Darauf erschien schnellstens der Direktor, musterte den dreisten Kerl vom Kopf bis zum Fuß und gab ihm sofort Feierabend. Obendrein erhielt er die 2 Tage trotzdem nicht bezahlt. Als er seine Sachen zusammenpackte, standen ihm die Tränen in den Augen. »Ich werde diesen Stundenlohn von 30 Pfennigen wohl nicht gleich wieder erhalten,« sagte er zu mir. »Mich dauerte nur meine Wohnung, die ich kaum in Zukunft bezahlen kann,« fügte er noch hinzu. Mit einem kräftigen Handschlag verabschiedete er sich von mir, dabei stand ihm aber immer noch das Wasser in den Augen. Später ist er »über den großen Teich« gegangen und hat in Chicago gearbeitet; aber wie es ihm in der neuen Welt ergangen ist, habe ich nicht erfahren können. Selbst seinem Freund Weisker, einem aus Ronneburg stammenden Weber, der trotz seiner 40 Jahre noch Junggeselle war, und von dem Koblischke stets mit Bewunderung wegen seines enormen Wissens sprach, hat er keine Nachricht mehr zukommen lassen.

Dieser Weisker verdient deshalb hier Erwähnung, weil er sich selbst durch eine naturgemäße Methode von der Schwindsucht geheilt hat. Er geht das ganze Jahr hindurch barfuß im Schuhwerke. Im Freien zieht er die Stiefel aus, macht Kneipkuren, watet in Bächen herum und aller 4–5 Wochen macht er einen großen Marsch. Selbstverständlich stehen ihm nur Sonntage dazu zur Verfügung.[254] Er läuft an diesen Tagen 12–15 Stunden. Er hat auch schon, wenn er einige Mark erspart hatte, den Thüringer Wald und das Erzgebirge in 8 Tagen durchwandert. Jeden Tag nach der Arbeit geht er 2 Stunden ganz langsam spazieren und macht täglich kalte Ganzabreibungen. Er liest viel wissenschaftliche Werke, aber nie Romane und hat sogar zwei Sprachen erlernt, die lateinische und englische.

Wenige Wochen nachdem Koblischke fort war, wurde ein neuer Obermeister eingestellt. Herr Beeger, der beim Direktor wegen seiner Arbeiterfreundlichkeit schlecht angeschrieben stand, hatte den Laufpaß erhalten. Der neue Obermeister brachte bald durchgreifende Änderungen in den Arbeitsverhältnissen an und zwar führte er Akkord ein. Nicht nur die Spiralbohrerdreher, sondern auch alle übrigen, Fräser, Schleifer, Schlosser, ja sogar die Härter sollten in Akkord arbeiten, auch ohne ihr Verschulden gerissene Bohrer bezahlen und Ähnliches. Der Drehermeister Weise erwies sich als sein getreuer Gehilfe. Die Folge war für alle gesteigerte Arbeitsleistung und verringerten Lohn. Ich muß, um die Gegensätze gegen die Beegerschen Löhne zu zeigen, diese genau hier anführen. Ich selbst erhielt früher gezahlt für Spiralbohrer mit konischem Schaft im Durchmesser von 5 mm 6 Pf., 6 mm 5 Pf., 7 mm 4 1/2 Pf., 8 mm 4 1/4 Pf., 9 mm 4 Pf., 10 mm 4 Pf., 11 mm 4 Pf., 12 mm 4 1/2 Pf., 13 mm 5 Pf., 14 mm 5 Pf., 15 mm 6 Pf., 16 mm 6 Pf., 17 mm 6 1/2 Pf., 18 mm 7 Pf., 19 mm 8 Pf., 20 mm 9 Pf., 21 mm 10 Pf., 22 mm 11 Pf., 23 mm 9 Pf., 24 mm 10 Pf., 25 mm 11 Pf., 26 mm 12 Pf., 27 mm 13 Pf., 28 mm 14 Pf., 29 mm 15 Pf., 30 mm 16 Pf., 31 mm 17 Pf., 32 mm 18 Pf., 33 mm 20 Pf., 34 mm 21 Pf., 35 mm 22 Pf., 36 mm 23 Pf., 37 mm 24 Pf., 38 mm 25 Pf., 39 mm 26 Pf., 40 mm 27 Pf., 41 mm 28 Pf., 42 mm 29 Pf., 43 mm 30 Pf., 44 mm 32 Pf., 45 mm 34 Pf., 46 mm 35 Pf., 47 mm 36 Pf., 48 mm 38 Pf., 49 mm 39 Pf., 50 mm 40 Pf., 51 mm 35 Pf., 52 mm 36 Pf., 53 mm 38 Pf., 54 mm 40 Pf., 55 mm 42 Pf., 56 mm 44 Pf., 57 mm 46 Pf., 58 mm 48 Pf., 59 mm 49 Pf., 60 mm 50 Pf. etc. Für zylindrische Bohrer wurden 2/3 des Betrages[255] der Konischen gezahlt. Den Lesern wird auffallen, daß bei 10 mm, 23 mm und 51 mm trotz der stärkeren Dimensionen die Löhne fallen. Es kommt das daher, weil die amerikanischen Morse-Konen I bis 12 mm, II bis 18 mm, III bis 23 mm, IV bis 32 mm, V bis 52 mm messen und infolgedessen bei diesen Stärken nicht soviel Material abzudrehen ist. Das war weise von Herrn Beeger gehandelt. Der neue Obermeister jedoch zahlte sofort nur noch bis 12 mm 6–8 Pf., 12–15 mm 5 Pf., 16–18 mm 6 Pf., 19–20 mm 7 Pf., 21 mm 8 Pf., 22–25 mm 10 Pf., 26–28 mm 11 Pf., 29–32 mm 12 Pf., 33––36 mm 15 Pf., 37–42 mm 18 Pf., 43–50 mm 24 Pf., 50–60 mm 30 Pfennige! Als im August 1901 die Krise in der Metallindustrie eintrat, wurde aber damals von diesen Löhnen und zwar gleich bis zu 50% reduziert, und bei meinem Abgange gab es nach mehrmaligen ganz willkürlichen Abzügen des Drehermeisters, von denen die Direktoren wahrscheinlich erst nach Einsicht in die Lohnbücher Kenntnis erhielten, noch bedeutend weniger und zwar bis 15 mm bis 5 Pf., 16–22 mm bis 4 Pf., 23–28 mm bis 5 Pf., 29–32 mm bis 6 Pf., 33–37 mm bis 7 Pf., 38–42 mm bis 10 Pf., 43–50 mm bis 14 Pf., 50–60 mm bis 16 Pf. Das waren also Lohnreduktionen bis schließlich zu 75 Prozent! Dazu kam ein anderes. Als wir in der neuen Fabrik den Akkord wieder beginnen mußten, mußten wir zu unseren zwei Bänken noch eine dritte nehmen und es dauerte gar nicht lange, so mußten wir selbst vier Maschinen bedienen. Ja, es gab Fräser, die sogar an sechs Maschinen arbeiteten. Doch wurde da, wenigstens unter dem Fräsermeister Nüchtern, der nebenbei Mitglied einer apostolischen Gemeinde war, wenigstens noch etwas verdient. Dessen Abzüge, die erst nach mehrmaligem energischen Druck von oben erfolgten, betrugen nur wenige Pfennige und standen mit den unsrigen in gar keinem Verhältnis. Unser »Herr« Meister jedoch reduzierte bei der geringsten Gelegenheit. Und ob er seit meinem Weggange nicht schon wieder gekürzt hat, weiß ich nicht; aber zuletzt müssen dann die Arbeiter wirklich noch Geld mitbringen, weil es nichts[256] mehr abzuziehen gibt! Ich erinnere mich noch an eine Weihnachtswoche, die nur fünf Arbeitstage ohne den 24. Dezember hatte, der für die nächste Woche zählte. Ich hatte wahnwitzig geschuftet und 18 Mark verdient. Darob war nun bei dem Meister großes Halloh. »Bromme, Sie übertreibens, Sie übertreibens, 18 Mark in 5 Tagen, das ist zu toll. Passen Se uff, nach den Feiertagen wird wieder abgezogen.« Und ich hatte es doch wirklich nur um meiner damals schon 6köpfigen Familie willen getan! Als er von mir wegging, kam ihm der Schleifermeister Fuchs in den Weg, der vorher Dreher und Werkstattkolporteur war und mit dem ich befreundet war, weil ich ihm jeden Freitag die Zeitschriften und Bücher hatte auslegen helfen. Diesem machte Weise schleunigst ebenfalls Mitteilung von meinem Verbrechen, daß ich so geschustert und in 5 Tagen 18 Mark verdient hatte, um am Weihnachtsabend meinen Kindern noch eine Freude machen zu können. Dieser aber entgegnete ihm: »Das ist ein rechter Dreck. Der Jahn bei mir hat in derselben Zeit 24 Mark verdient und das ist ein lediger Bursche.« Darauf hat Weise nichts geantwortet und ist wie ein begossener Pudel abgegangen.

Fuchs, der mir das erzählt hat, war ein sehr seiner und gebildeter Mann, der einen enormen Bücherschatz sein eigen nannte, darunter ein großes Lexikon, die zehnbändige Spamersche Weltgeschichte und mehrere Bände »Moderne Kunst«, eine Geschichte Amerikas und vieles andere mehr. Er kannte das Leben und, trotzdem er keine Kinder besaß, war er wirklich menschenfreundlich. Er gehörte auch der Organisation an, wie überhaupt in der Fabrik stets und ständig für den Verband agitiert wurde. Fing ein neuer Arbeiter an, so dauerte es nicht lange, bis man Fühlung nahm. War er schon organisiert, dann gut; wenn nicht, so wurde ihm nicht eher Ruhe gelassen, bis er seinen Beitritt erklärt hatte. Sogar junge Bürschchen, die erst vom Lande hereingekommen waren und nur für Soldaten und Mädchen schwärmten, wurden im Laufe der Zeit, oft schon nach wenigen Monaten, zu ganz tüchtigen und ernsten Gesinnungsgenossen. So habe ich besonders zwei aus der nächsten Umgebung von Gera soweit in die Partei- und Gewerkschaftsgeschichte[257] eingeweiht, daß sie mir wirklich Dank dafür wußten. Wenn sie zum Militär gekommen und befördert worden sind, so kann man sagen, sie haben unsere Ideen in sich und werden danach handeln. Namentlich der eine konnte mir nicht oft genug versichern, durch mich wirklich viel gelernt zu haben, mehr, als ihm ein Schullehrer habe beibringen können. Anfangs wollte er noch allen Ernstes freiwillig bei den 18er Ulanen in Leipzig eintreten. Er ließ den Plan dann ganz von selbst fallen und zog eine ganze Anzahl anderer Burschen in den Verband nach.

Am liebsten verkehrte ich auch mit dem Dreher Börner, der in Amerika einst sogar Lehrer gewesen war und sämtliche Klassiker kannte. Er war imstande, den Faust auswendig zu zitieren, was ich bisher noch von keinem Arbeiter gehört hatte. Den Anti-Syllabus, der doch ziemlich umfangreich ist, und die Schillersche Glocke habe ich ja auch auswendig deklamieren können, aber Faust, Iphigenie auf Tauris, sowie zahlreiche andere klassische Gedichte, wie sie Börner konnte, – das war mir neu. Auch hatte er eine große literarische Kenntnis namentlich in besseren Romanen. Außerdem unterhielt ich mich gern auch mit dem Schlosser Elling, der selbst ein wenig schriftstellerte und sich als Spezialgebiet: Witze erkoren hatte. Dieser war besonders ein guter Schillerkenner, und ich habe oftmals mit ihm über den Dichter der »Räuber« und »Wilhelm Tell«, dessen meiste Werke ich selbst besaß, diskutiert. Der Elling war auch zweiter Vorsitzender der Filiale Zwötzen des deutschen Metallarbeiterverbandes und mußte einmal bei ausgebrochenen Differenzen in Aktion treten. In einer wegen der fortwährenden Akkordlohnreduktionen einberufenen Werkstattversammlung wurde er als Vorsitzender des Komitees gewählt, während Börner Vorsitzender des Arbeiterausschusses war. Am folgenden Tage wurden die Gewählten bei der Direktion vorstellig. Diese erklärte jedoch, auf den Reduktionen beharren zu müssen, weil durch die eingetretene Krise die Geschäftslage schlechter denn je und keine Aussicht auf Besserung vorhanden sei. Ihre in Petersburg, Berlin, Wien, Paris, Brüssel, Mailand, Philadelphia und London befindlichen Läger seien überfüllt. Die Aufträge würden nur unter denkbar[258] niedrigsten Preisen aufgegeben. Sie seien hauptsächlich auf das Ausland angewiesen und legten auch der Kommission diesbezügliche Bücher vor. Auf diese Antwort hin hing am Tage darauf im Abortraum ein Zettel aus, worauf abermals Werkstattversammlung einberufen wurde. Überhaupt wurde bei allen Bekanntmachungen seitens der Kommission der Abort als Aushängeort benutzt. An demselben Vormittag aber wurden Elling und der Schlosser Stumpf entlassen, d. h. also regelrecht gemaßregelt, weil sie in der ersten Werkstattversammlung die Hauptwortführer gewesen waren, was einige traurige Subjekte, wie sie stets darunter sind, denen jede ideale Gesinnung fehlt, dem Portier oder dem Meister hinterbracht hatten. Am Nachmittage wurde gemunkelt, daß auch Börner und noch einige, darunter auch ich, auf die Straße fliegen sollten. Es dauerte auch gar nicht lange, als Weise zu mir kam und sagte: »Sehen Sie mal zu, was Sie bis heute Abend noch fertig bekommen. Sie hören heute Abend auf.« Ich war wie vom Donner gerührt und frug nach der Ursache. Aber der Herr lächelte nur höhnisch und zuckte die Achseln. Dann meinte er noch, daß ich danach den Direktor fragen müsse. Ich erwiderte meinerseits, daß ich auf diese eilige Kündigung nicht eingehe, sondern erst meine angefangenen Posten fertig drehen würde. Er wisse doch, daß auch im umgekehrten Falle, wo der Arbeiter kündigt, jede angefangene Akkordarbeit erst beendigt werden müsse, bevor man gehen könnte. Nach etwa einer Stunde kam er wieder und meinte: »Lassen Sie alles stehen und liegen wie es ist. Es wird alles bezahlt.« Ich hätte dadurch sofort 23 Mark ausgezahlt erhalten, außerdem sofort die Gemaßregeltenunterstützung bekommen müssen. Aber was dann anfangen? Mit sehr begreiflichen Gefühlen packte ich mein Zeug zusammen. Ich durfte nicht einmal meine Drehbänke putzen, der Meister drängte und trieb. »Machen Sie nur, daß Sie fortkommen!« Das war sein immer neues Wort. Wie ein gehetztes Wild wurde ich so hinaus getrieben. Da, am Eingangstor prallte ich noch mit dem Direktor zusammen. Selbstverständlich stellte ich ihn sofort zur Rede. Ich forderte den Grund meiner Entlassung zu erfahren. »Das wissen Sie doch besser als[259] ich,« entgegnete er mir. Als ich energisch verneinte, verlegte er sich auf Ausflüchte. Ich gab mich aber nicht zufrieden, sondern rückte ihm auf die Nieren: »Wenn Sie gerecht sein wollen, so sagen Sie es mir; ich bin mir keines Fehls bewußt.« Jetzt blieb er stehen und meinte spitz: »Na, Sie haben doch den Zettel mit der Versammlungseinberufung heute Morgen im Abtritt aufgehängt.« Ich war sprachlos ob dieser falschen Anschuldigung. Ich wies diese Denunziation auf das Nachdrücklichste zurück. »Ich habe aber extra gesagt, sie sollen genaue Erkundigungen einziehen, damit es keinen Falschen trifft, und Sie sind uns als der Täter und als langjähriger Hetzer und roter Wühler bezeichnet worden,« erwiderte er mir darauf. »Sie sind aber falsch berichtet und haben einen Unschuldigen getroffen. Ich kann gar keiner Werkstattversammlung beiwohnen, weil unser Arbeiterzug abends 7 1/4 Uhr abgeht. Auch gehöre ich nicht dem Metall-, sondern dem Holzarbeiterverband an, da ich früher in dieser Branche tätig war und auf Grund des Frankfurter Beschlusses bei Berufswechsel die Organisation nicht gewechselt zu werden braucht.« Er hatte mich ruhig angehört und erwiderte nun, daß ich dann weiter arbeiten könne, wenn ich unschuldig sei. So kehrte ich dann leichten Herzens zu meiner Maschine zurück. Heute noch glaube ich, richtig gehandelt zu haben. So wie ich es getan, war ich es einfach meiner Familie schuldig, um meine Maßregelung mit allen Kräften rückgängig zu machen. Viele Kollegen freuten sich auch, daß ich wiederkam. Nur der Meister und zwei andere ärgerten sich schwer. Ich aber war glücklich. Meiner Frau aber habe ich gar nichts davon erzählt, um sie nicht zu beunruhigen.

Einige Zeit, nachdem der Obermeister Werk angetreten war, fing eines Tages auch ein neuer Hilfsarbeiter als »Bohrmichel« an. So wird nämlich der Bohrmaschinenarbeiter im allgemeinen genannt. Man sah es ihm an, daß er von der Landstraße kam. Er hatte einen pessimistischen Gesichtsausdruck, war von mittlerer Statur und trug den Oberkörper etwas vornüber geneigt. Später erfuhr ich, daß er Ernst Schuchardt heiße, als Schuhmacher gelernt und aus Gotha gebürtig war. Im übrigen bewegte er sich flink[260] und arbeitete den ganzen Tag ohne sich umzusehen. Wenn er den Drehermeister um eine die Arbeit betreffende Auskunft bat, nahm er die Mütze vor demselben ab, worüber dieser nur geringschätzig lächelte. Das sind die richtigen Arbeiter, die so demütig dastehen, raunten sich einige einander zu. Es sollte sich aber zeigen, daß gerade diese nicht wert waren, dem Alten die Riemen von den Schuhen zu lösen. Übrigens war er gar nicht so alt, als er aussah, sondern zählte erst 35 Jahre. Am Freitag darauf, als er mich für Fuchs die Zeitschriften austeilen sah, hielt er mich für den Kolporteur und bestellte bei mir den »Wahren Jakob« für die eine Woche, für die andere den »Süddeutschen Postillon« und extra die Reklamausgabe von Goethes Faust. Ich staunte darüber. Da fragte ihn mein Nebenkollege Mutschmann auch noch, ob er wohl gar im Verband sei. Auch das bejahte er und erklärte, daß er schon seit 6 Jahren dem Metallarbeiterverband angehöre; außerdem sei er jahrelang auch Mitglied der nordbayrischen Parteiorganisation in Ansbach gewesen. Dann, an einem der folgenden Tage, die sehr warm waren, lag ich vor der Fabrik im Grase des Bahndammes der Linie Berlin-München, wie ich das täglich tat, nachdem ich mein frugales Mittagsmahl verzehrt hatte, und las in den Meyerausgaben von »Heines Harzreise« und »Florentinische Nächte«, als plötzlich der Alte gewackelt kam und sich neben mir im Grase niederließ. »Kollex« hatten ihn die Kollegen getauft und alle Welt, selbst die Lehrlinge, riefen ihn nicht anders als so. Als er sah, daß ich mich nicht stören ließ, räusperte er sich einige Male. Ich klappte für einen Moment mein Buch zu und er konnte deshalb den Titel lesen. »Was, Heines Harzreise hast Du hier? Wenn man schon 50 Jahre alt ist, bei der Lektüre derselben wird man wieder jung,« rief er aus. Dann blätterte er in dem Bande »Florentinische Nächte«, und war ganz entzückt von der trefflichen Sprache des genialen Dichters. Es zeigte sich aber auch, daß er ihn auch durch und durch kannte. Denn er zitierte sofort das Sklavenschiff, die drei Grenadiere, das Hohelied und einige Stellen aus dem Wintermärchen. Dann erzählte er mir, daß er 6 Jahre in Amerika gewesen und das westliche Gebiet der Union[261] bis St. Louis als Tramp durchwandert, ja selbst Freifahrten in Kohlenlowrys mitgemacht habe. Er sprach auch öfter während der Frühstücks- und Vesperpausen mit einem anderen, der auch »drüben« gewesen war, englisch. Es sah sich kurios an, wenn man das Gebärdenspiel des Kollex dabei beobachtete. Am 1. Pfingsttage besuchte er mich dann in Ronneburg, um mit mir und meinem Freunde Grau einen Ausflug nach dem Fuchstal bei Wünschendorf an der Elster zu unternehmen. Der Tag wird mir unvergeßlich bleiben. Er war furchtbar heiß. Als wir nach 3stündigem Marsche dort ankamen, stiegen wir nach der Teufelskanzel auf. Dort oben deklamierte Kollex aus dem Faust, namentlich die Rollen des Mephisto. Die tiefsinnigen Stellen, wie z. B. »Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und doch das Gute schafft« betonte er mit besonderer Emphase. Ich deklamierte »Kotzebues Verzweiflung« und Grau Richard lachte sich eins. Als wir uns dort oben ungefähr eine Stunde lang ausgeruht hatten, stiegen wir wieder zu Tale und labten uns in dem Gartenrestaurant zur Fuchsmühle an einer Flasche Weizenbier. Dann trennten wir uns. Kollex warf seinen Rucksack über und schlug die Richtung nach Gera ein, während wir beiden andern den Weg nach Ronneburg verfolgten. Auch Grau Richard, ein einfacher Holzschuhmacher, ist ein ziemlich guter Kenner der Literatur, all seine Ersparnisse hat er in Büchern angelegt, die er ziemlich sauber hält. Er ist trotz seiner 36 Jahre noch Junggeselle und hat nur 2 Passionen: Tabakrauchen und Bücher. Er besitzt neben einem großen Lexikon sämtliche Klassiker, sodann Weltall und Menschheit, zahlreiche Geschichtswerke, fast die gesamte Parteiliteratur, die internationale Bibliothek von Dietz-Stuttgart, Gedichtsammlungen, viel philosophische, atheistische und nationalökonomische Schriften und neben guten Romanen eine enorme Menge Reisewerke!

So ging der Sommer dahin. Kollex freute sich, beständige Arbeit zu besitzen, wollte aber mehr Lohn haben, 27 Pfennige genügten ihm nicht mehr. Er stellte beim Obermeister deshalb einen Antrag, wurde aber abschlägig beschieden, außer für den Fall, wenn er an den Rundschleifmaschinen arbeiten würde. Damit[262] wollte er sich jedoch nicht einverstanden erklären. Er meinte, daß er schon an Neurasthenie leide und sich nicht noch die Schwindsucht dazu holen wolle. Mit verbissenem Ingrimm schaffte er weiter und die Brocken flogen ihm nur so aus der Hand. Eines Tages kam der Vorarbeiter Jäckel zu ihm und befahl ihm, den Schleifstein abzudrehen. Da kam er aber schön an. »Was, ich soll den Schleifstein abdrehen? Ich brauche ihn nicht,« antwortete er. Der etwas eingebildete Mensch lief wegen dieser Weigerung zum Obermeister. Der kam nun her und wiederholte den Befehl. »Ich tue es nicht, ich brauche meine Lunge für mich nötiger; warum bestellen Sie nicht wie bisher Lehrlinge zu dieser Arbeit?« antwortete wiederum der Kollex. »Also, wenn Sie die Arbeit nicht ausführen wollen, so sind Sie entlassen,« entgegnete ihm kurz der Obermeister. »Na, dann is gut, dann gehen wir,« war Schuchardts Erwiderung. Er nahm herzlich Abschied von mir, begleitete mich noch am Abend bis zum Bahnhof und beteuerte mir, nie wieder in Zukunft das Geld in die Wirtschaften zu tragen. Die Gastwirte seien die eigentlichen Aussauger der Arbeiter. Er würde versuchen, Abstinenz zu üben und nie wieder sollte ihn der Alkohol in die finstere Nacht der Denkfaulheit zurückwerfen. Allerdings sei es schwierig; aber er würde es tun. Wir sprachen noch über Tolstoj und Zola. Schuchardt rühmte die »Auferstehung« des ersteren und den »Germinal« des letzteren. Ich versprach ihm, beides zu lesen. Dann mußten wir scheiden. Er seinerseits versprach, oft zu schreiben, und hat das Versprechen redlich gehalten. Die Leser werden gestatten, daß ich nur einige seiner zahlreichen Briefe nachstehend im Auszug anführe. Sie zeigen, daß auf der Landstraße mancher denkende und tief empfindende Vagabund herumläuft, der, wenn er in der Wahl seiner Eltern vorsichtiger gewesen wäre, wohl eine glänzende Stellung im Leben eingenommen hätte. Ein jeder wird, wenn er seinen Klassenstandpunkt vergißt, mir zugeben, daß in diesen Briefen Stellen vorkommen, die eine wirkliche und starke Kraft und Eigenart haben. Vorher will ich nur noch bemerken, daß wenige Wochen nach der Abreise Schuchardts auch der Obermeister flog und zwar, weil durch seine falschen Angaben eine ganze[263] Anzahl teurer Räder verfräst wurden, wodurch der Firma ein Schaden von über 500 Mark erwachsen war. Ein neuer Obermeister wurde nicht wieder eingestellt, sondern der Ingenieur versorgte diesen Posten mit, der übrigens mit 3000 Mark pro Jahr honoriert worden war. Dieser schloß sich eng an den Drehermeister an und so wurde dieser letztere in Wirklichkeit der dirigierende Meister. Wir mußten nun öfter als sonst Strafe zahlen. Ich selbst bekam einmal 20 Stück 18er Vierkantbohrer zu drehen und den Zettel dazu. Als ich sie fertig hatte, bekam ich noch 20 Stück 16er Vierkantbohrer. Plötzlich fiel mir auf, daß die kleineren 16er länger waren als die 18er. Es stellte sich heraus, daß ich das erste Mal den falschen Zettel erhalten hatte. Allein auf jedem Zettel war die Länge der Bohrer mit angegeben, und ich trug also selbst die Schuld, weil ich nicht nachgemessen hatte. Das Resultat war 75 Pfennige Strafe und keinen Lohn für die Bohrer, obgleich diese nur 10 Millimeter kürzer gestochen wurden und dann mit verbraucht wurden.

Nachdem der Kollex ein Vierteljahr abgereist war, schrieb er mir einen Brief aus Ansbach, in dem er mir mitteilte, daß er als Mörtelträger bei den Maurern arbeite. Wie ich schon erzählt, hatte er bereits früher einmal längere Zeit dort gearbeitet. Als aber der Herbst ins Land gekommen war, mußte er wieder abreisen. Ich erhielt nach fast vierteljähriger Pause Ende Januar 1902 wieder ein Lebenszeichen von ihm. Er knüpfte in diesem Schreiben, das aus Oberwarmensteinach datiert war, an einen Brief an, den er im vorhergehenden Herbst an mich gerichtet hatte und in dem er mir die Bayreuther Festspiele eingehend schilderte. Er schreibt darin: »Ich sitze hier in einem süßen ultramontanen Gasthause und möchte schon bald aus Wut über die schwarze Gesellschaft nicht schreiben. Wie ich Dir schon mitteilte, war ich bei dem Eintreffen der Künstler zu den Festspielen gerade in Bayreuth anwesend. Hoffentlich ist Dir meine Schilderung noch in Erinnerung. Das letzte Jahr hat nicht soviel Gäste nach dort gebracht als die früheren, wahrscheinlich hat der Leipziger Bankkrach der noblesse obligé zu sehr in die Suppe gespuckt. In einer Beziehung freut[264] es mich; denn für uns sind solche Künstlerfeste auch nicht vorhanden, trotzalledem sollte ein größerer Teil der deutschen Arbeiterschaft mehr Verständnis für unseren großen Musikmeister Wagner haben. Er war dasselbe Genie, wie unser alter Soldat der Revolution, Liebknecht, nur mit dem Unterschied, daß Richard Wagner der größte Revolutionär der Musik wurde, mindestens ein ebenso gewaltiger als der Italiener Verdi. Lieber Freund! Du weißt, daß ich ein großer Freund von Theater und Musik bin, bloß kein Freund von allzuschwerer Dekoration und einförmigen Melodien, wie sie z. B. der »Freischütz« aufweist; da ziehe ich denn doch Verdis Troubadour vor. Die gefühlvolle Musik in diesem Stück muß alle Herzen ergreifen, es ist kein tom titt tom wie im »Freischütz«, dafür ist aber auch dessen Komponist ein trauriger Musikant gewesen. Das, was Wagner in Komposition geleistet, hat noch keiner vor ihm in Deutschland zustande gebracht und weil er mit seiner modernen revolutionären Musik das Größte geleistet hat, ist er auch lange Zeit den Kunstmameluken zuwider gewesen; die können eben bloß die Nacktheit im verschlossenen Kämmerlein vertragen.... Ich muß abbrechen, seit 8 Tagen laufe ich in total zerrissenen Schuhen in dem nassen Schneewetter umher, was ich erhalte, bekomme ich nur von armen Leuten und von unseren Genossen. Am Weihnachtsabend schenkte mir eine Pastorsfrau zwei Pfennige. Ich frug, ob sie mir nichts zu essen geben wolle, heute sei doch Christabend; da kam ich aber schön an. Da könnte jeder kommen. Dabei lagen Haufen von Kuchen und Fleisch in der Küche. Sie hatte sich ein großes Stück in den Mund gestopft und zeterte noch über meine Frechheit. Aber ein armer Arbeiter daneben gab mir zu essen und 5 Pfennige extra. Ich sage eben, wenn der Mensch fromm ist bis zur Gefühllosigkeit, so heißt es: Ich – Ich – und nochmals Ich. Das ist der beste Gefühlsbarometer.«

Dann hörte ich einige Wochen lang wieder nichts mehr von dem armen Kerl, bis er mir ganz unverhofft eines Tages in die Bude schneite. Ich war ganz baff, als es abends gegen 10 Uhr bei mir klopfte und der Kollex eintrat. Er wollte sehen, ob er nicht wieder in meiner Nähe Arbeit bekommen könnte. Ich brachte ihn[265] zur Herberge, er war am Tage schon in Gera umschauen gewesen, hatte aber nichts gefunden. Am nächsten Tage wollte er in Ronneburg nachforschen und, wenn nichts zu machen war, weiter wandern. Schon drei Tage später schreibt er mir aus Leipzig:

»Werter Freund! In Ronneburg, Schmölln, Altenburg war es wieder nichts mit Arbeit. Ich kam deshalb heute hier an. Leipzig ist für mich interessant. Die großstädtischen Bauten imponieren mir sehr und noch mehr die schönen breiten Straßen. Das alles erinnert mich an Chicago. So groß ist nun freilich Leipzig nicht. Man kann es wohl zehnmal in den Flächeninhalt Chicagos hineinsetzen. Aber mich freut es doch, wieder einmal Großstadtluft zu atmen. Das widerliche Gespenst der Existenzlosigkeit spukt leider auch hier allzusehr. Scharenweise durchströmen Arbeitslose die Stadt. Dabei herrscht eine Hundekälte, die einem das Mark in den Knochen gefrieren läßt. Es wird mir manchmal vor mir selbst übel. Wenn ich nicht meinen unverwüstlichen Galgenhumor besäße, hätte ich mich längst aufgeknüpft. Und dann weißt Du ja auch, je schlechter es dem Lumpenproletarier geht, desto zäher hält er am Leben fest. Siehst Du, alter Schwede, derjenige Mensch, der sich für schlechter hält, als er ist, besitzt Selbsterkenntnis, der kann sich immer noch bessern. Bei mir wird es auch die höchste Zeit, denn wenn ich gespart und nicht alles verbraucht hätte, brauchte ich Lump nicht fechten zu gehen... Die Arbeiter in Leipzig sind gut; die nischt haben, können nischt geben, und die noch etwas haben, geben auch etwas. Ich denke eben an das alte schöne sächsische Sprichwort: Wer nischt erheirat, wer nischt ererbt, der bleibt e armes Luder bis er sterbt! Wenn ich in drei Tagen keine Arbeit habe, verdufte ich nach Magdeburg. Gestern war mir ein seltenes Vorkommnis in Großdewitz passiert. Eine Frau gab mir statt einen Pfennig ein Zehnmarkstück. Ich gab es ihr natürlich zurück und erhielt als Dank 7 Pfennige! Wenn Du es nicht glauben willst, kann ich es nicht ändern. Noch eins, lieber Freund, die Nacht, als ich in Ronneburg schlief, hatte ich einen kuriosen Traum. Du darfst aber nicht glauben, daß ich ein Schäfer Thomas oder sonst ein Geisterseher bin, der in der fünften oder[266] sechsten Dimension lebt. Also ich träumte, Schlag 12 Uhr Nachts wäre ich in den Palast eines bekannten Geraer Multimillionärs gekommen. Mit einem Schlage war dieser aber in den Vorhof der Hölle verwandelt; es war alles glutrot und drückend heiß; auf dem Throne Belzebubs saß ein feister Teufel mit krummer Nase, ich glaube, ich war in die semitische Hölle geraten. Fünf Teufel brachten diesem Höllenfürst Bericht über den von Arbeiterhänden zusammengeschundenen Mammon. Er aber schimpfte über zu wenig Dividende von seinen Schwitzbuden: Färbereien, Webereien, Werkzeug- und Maschinenfabriken. Mit einem Höllenfluch entließ er seine Knechte; wenn nächstes Jahr nicht mehr aus den Arbeitsbienen herausgepreßt würde, würde er ihnen den Laufpaß geben und sich miserablere Teufel dazu aussuchen. Die Szene änderte sich dann. Ich machte den stillen Beobachter in einer Werkzeugfabrik. Es herrschte eine Höllentemperatur. Man schwitzte vom Zuschauen. Überall war eine fieberhafte Tätigkeit. Arbeiter bedienten 3–4 Maschinen und trotzdem trieb der Obermeister mehr an. Der technische Direktor erschien und schimpfte den Meister: die Leute müssen mehr arbeiten, wenn die Geldgeber befriedigt werden sollen. Der Meister antwortete: Gut, wir ziehen das letzte ab, die Leute müssen 5 Bänke bedienen. Es wurde gemacht. Der Versuch mißlang aber, die Arbeiter konnten nicht mehr. Die Oberteufel wurden zur Hölle geholt. Ich erwachte. Mir war ganz höllisch zu Mute. Ich war in Schweiß gebadet. Mein Gaumen brannte noch von Höllenduft. Ich erhob mich vom Lager, wusch mein Gesicht, spülte meine Eßvorrichtung aus und lief nach Schmölln. Es fror mich stark.«

Schon am nächsten Tage erhielt ich wieder einen Brief aus Leipzig. In diesem zog er die Diagonale zwischen dem Trebertrocknungsprozeßurteil und dem Löbtau-Dresdner Zuchthausurteil. Dort 24 Monate Gefängnis und 26000 Mark Geldstrafe, hier 53 Jahre Zuchthaus und 8 Monate Gefängnis! In seinem Kommentar frug er:

»Was haben die Arbeiter verbrochen? Sie haben einem Baumarder die Jacke ausgeklopft, aber bloß so, daß dieser Schinder[267] sich schon am dritten Tage wieder auf seinem Balkon zeigte. Ergo war er nicht totgeschlagen worden und doch dieses ungeheure Urteil. Es waren aber Arbeiter, sie hatten von ihrem Bewegungsrecht Gebrauch gemacht, nachdem sie von dem Baumarder gereizt waren durch Redensarten, die selbst die frömmste Arbeitergeduld zum Überlaufen bringen. Deswegen wurden sie verknackt. Dann als Gegensatz das Kasseler Urteil. Leute, die hunderte von Existenzen ruiniert haben, die sich geradezu von Arbeiterschweiß gemästet und an nicht bezahlter Arbeitskraft Betrug verübt haben, wurden so mild verurteilt. Das ist tieftraurig. Es ist zum katholisch werden. Wer trägt aber die Schuld? Die Arbeiter selbst! Die 10 Prozent Organisierte können nicht gegen solche Klassenurteile Front machen. Sie können nur lediglich kritisieren. Die besitzende Klasse hat beide Urteile gefällt. Mich ekelt es in Deutschland ordentlich an. Ich gebe beim Zeus 10 Jahre meines Lebens darum, könnte ich morgen früh in New York oder Chicago erwachen. Ich werde nach Halle gehen.«

Er kam aber nicht nach Halle, sondern wurde plötzlich krank und lag 14 Tage lang in Leipzig. Zum Glück gehörte er der Tischler-Krankenkasse in Hamburg an. Plötzlich erschien er wiederum eines Abends in meiner Wohnung. Er hatte einige Groschen Geld von der Unterstützung erspart und wollte damit ein Geschäft begründen und zwar Drahtkleiderbügel fabrizieren, deren Verfertigung er in Leipzig zugeschaut hatte. Er kaufte sich Draht und eine Kneifzange. In seinem ehemaligen Quartier in Zwötzen begann er zu arbeiten. Allein das Projekt klappte nicht. Er hatte 2 Dutzend fertig und konnte sie nicht losschlagen. Das verbitterte ihn noch mehr. Er wurde ganz nervös und warf schließlich alles wieder an die Wand. Nun wollte er mit Ansichts-Postkarten handeln. Ich sollte für ihn an den Dietz-Verlag schreiben. Es wurde aber auch daraus nichts. Neben mir wohnte ein Parteigenosse und Zigarrensortierer Richter, der nebenbei noch eine »Auskunft in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten« betrieb, in kurzen Worten gesagt, also Winkeladvokat war und deshalb auch in Genossenkreisen der »Linksanwalt« genannt wurde. Später wurde er freilich aus der Partei[268] ausgeschlossen, weil er sich Betrügereien hatte zuschulden kommen lassen. Ich werde auf ihn im nächsten Kapitel noch näher eingehen. Für jetzt will ich nur bemerken, daß er gerade im Besitze von Geldmitteln war, weil er einen Bauer gründlich gerupft hatte. Dieser nahm den Kollex für acht Tage als Holzmacher an. Er mußte ihm einige Fuhren Reisig zusammenhacken und dafür erhielt er von Richter freie Kost, Wohnung im »Fürstenkeller« und einige Groschen Taschengeld. Niemand war froher als Kollex. Am ersten Abend gleich begaben wir uns zu dreien nach dem »Fürstenkeller«. »Höre mal Ernst, sagte Richter zum Wirt, Du wirst diesem Mann auf meine Kosten eine Woche Logis geben. Kaffee trinkt er bei mir.« »Na, das kommt auf eine Tasse Kaffee nicht an,« erwiderte darauf der Wirt und fügte hinzu: »Meine Betten sind gut, wer weiß, ob der Freund schon einmal so schön geschlafen hat.« »Was,« entgegnete Schuchardt mit lautem Lachen, »beim Baudert August in Apolda gibts die besten Betten in den ganzen vereinigten Staaten von Deutschland.« Das verschnupfte natürlich wieder den gutmütigen Wirt, aber Schuchardt hatte das in seiner Nervosität nicht bedacht. Am darauffolgenden Sonntag nahm ich ihn mit in eine Mitgliederversammlung unsres Verbandes und Abends in eine des sozialdemokratischen Vereins. Wir hatten ihn möglichst anständig herausstaffiert, er zog Richters Sommerüberzieher an und kam sich dann nach seinen eigenen Worten vor »wie ein lackierter Affe«. In beiden Versammlungen hielt er einen Vortrag über amerikanische Arbeiterverhältnisse im allgemeinen und seine eigenen Erlebnisse im besonderen. Vorher hatte ich im sozialdemokratischen Verein einen Vortrag über Christian Dietrich Grabbe gehalten, der dem Kollex sehr zusagte und ihn gleich noch zu einer Schilderung der 1886er Maibewegung in Chicago veranlaßte. Für diese Vorträge wurden für ihn an jenem Sonntag beinahe 7 Mark gesammelt. Am darauffolaenden Tage nahm er Abschied und bedauerte, daß er in unsrer Nähe keine Arbeit erhalten könnte. Doch Richter hatte ihm ein Arbeitszeugnis ausgestellt, das sich Schuchardt vom Gemeindevorstand unterstempeln ließ. Jetzt hatte er wenigstens eine »Flebbe«. Acht Tage später erhielten wir ein[269] Lebenszeichen von ihm aus Jena. Er hatte dort einige Tage in einer Holzwarenfabrik zur Aushülfe gearbeitet und ich hatte ihm ein Empfehlungsschreiben an meinen ehemaligen Kollegen Bläsig mitgegeben, der ihn mit in eine Metallarbeiterversammlung nahm und dort ein ansehnliches Geschenk erwirkte. Außerdem schenkte er ihm einen Rock, worüber sich unser Ernst noch mehr freute. Dann kam folgender Brief von ihm an mich.


Erfurt, The City of Flowers and Cabage (Die Stadt der Blumen und des Krautes)


Germinal 21. des Jahres 10

This ist the first Day im Spring

1902 (Das ist der 1. Tag im Frühling 1902)


»Ich beginne meinen Brief mit Schiller: Gar schrecklich ist's, den Leu zu wecken, verderblich ist des Tigers Zahn; jedoch der schrecklichste der Schrecken, das ist der Mensch in seinem Wahn.

Den Brief von Jena habt Ihr alten Schweden jedenfalls erhalten. Leider war es nichts Dauerndes dort. Darum geht jetzt das unerträglichste Elend wieder los. Die Altenburger Bauern sind schon fromm bis zur Gefühllosigkeit, die weimarischen sind aber wirklich auf dem allerhöchsten Gipfel dieses Artikels angelangt. Wie man diesen Schlag von Bauern kennen lernt, teile ich Euch jetzt mit. Gestern früh 3 Uhr schüttelte ich den Staub der alten thüringischen Universitätsstadt von meinen Pantoffeln und richtete meinen Kurs nach der alten Kunststadt Ilm-Athen. Selbstredend hatte ich keinen Knopf mehr bei mir, und der starke Frühlingswind dörrte mir doch meinen Magen so aus! Ihr wißt, daß ich immer über einen umfangreichen Appetit verfüge. Ich machte mich also auf die Fahrt, aber soviel ich auch versuchte, bei den Bauern ein Stück Brot zu erlangen, gelang es mir nie, etwas zu erhalten. Überall hieß es: »Es gibt nischt, wir hab'n selber nischt!« Auf einem Hofe zerriß mir sogar ein weißer Spitz meine Hosen. Ich stellte die Frau über die Handlungsweise ihres Hundes zur Rede, allein sie sagte, hier hätte niemand ein Recht, das Gehöft zu betreten. Dabei schimpfte die alte Schraube wie ein Rohrsperling. Ich dachte, die hat noch mehr Haare auf den Zähnen als ein Hamburger Fischweib und die haben doch gewiß ein[270] vielgerühmtes Redeorgan; die meisten Fischweiber waren ja auch einst hübsche Mädchen, zumal als sie noch in St. Pauli wohnten und dort die Egalheit zwischen Katzenbuckel und Männerbauch studierten, bis die alte Bratpfanne keine Bratwurst mehr schmoren konnte. Endlich, bei einer Tagelöhnersfrau bekam ich eine Schmalzstulle, und Nadel und Zwirn zur Reparatur meiner Hosen; am liebsten hatte ich mir die Beine schwarz gemacht und wäre so los getippelt. Während ich meine Hosen flickte, erzählte mir die Frau, daß auch die Tagelöhner einen schweren Kampf gegen die Bauern zu führen hätten und sogar Handwerksburschen im Sommer bei 17stündiger Arbeitszeit mit einem Tagelohn von 0,80 bis 1 Mark eingestellt würden, um die 1,20 bis 1,50 Mark für hiesige Arbeiter zu sparen. Auch diese Tagelöhner leben nur nach dem Wortlaut des Sonneberger Kartoffelliedes. So eine erbärmliche Gegend wie um Weimar herum kann es im ganzen Deutschen Reiche nicht wieder geben. Jeden Abend habe ich mich sonst wenigstens einmal des Tages satt gegessen und in die Penneklappe gelegt, gestern aber nicht.

Als ich Nachmittags 1 Uhr 30 Minuten in Weimar anlangte, prangte die Stadt im Flaggenschmuck. Ich frug einen Mann, auf die Fahnen und Fähnleins deutend, was für Klimbim da los sei. Ich dachte erst, die Weimaraner hätten einen Klaps bekommen und wollten zwei Tage früher den Geburtstag »vom ollen Wilhelm« feiern. Es war aber nicht an dem, sondern der Großenkel und Thronerbe stattete dem weimarischen Staatsoberhaupt einen Besuch ab. Na, Ihr lieben Freunde, das hättet Ihr sehen sollen, wie sich die weimarischen Spießer mit Orden und Ehrenzeichen in Gala geworfen und doch Kohldampf im Magen hatten, den sie vor lauter Begeisterung nicht spürten. Auch die halbe und ganze Damenwelt war vertreten. Alle, aber auch alle wollten den Kronprinzen sehen, die Polizei in Uniform und die Unsicherheitshelden im Zivil. Einfach pompös. Ich allein bin nicht stehen geblieben, Du weißt, ich bin kein Freund von solchen Herren. Wenn Schiller und Goethe jetzt diese Philister sähen, würden sie die Köpfe schütteln und sich umkehren; denn frei und nochmals frei war ihre[271] Devise. Hunger und Patriotismus sind zwei schwer zu vereinbarende Dinge.

Heute früh 7 Uhr kehrte ich dem Musenheim den Rücken und heute Abend werde ich im Schwan zu Erfurt übernachten, auf Verbandskosten. Es tut mir leid, aber in dieser Hungergegend muß ich den Verband in Anspruch nehmen. Morgen gehe ich den Kanossagang. Mir wird es verteufelt schwer, mittel- und existenzlos meine Heimatstadt Gotha zu betreten. Trotzdem gehe ich und werde ihr Sonntag früh wieder Adje sagen. Was gothaische Bürger und Spießer auch über mich zetern werden, ich rufe mir das Uhligsche Lied ins Gedächtnis: »Geh deine Bahn und laß die Leute schwätzen, die Bahn ist lang, die Leute schwatzen viel! Mag Unverstand von Ort zu Ort dich hetzen, geh deine Bahn, geh dein bewußtes Ziel!«

Meinen Stiefvater und die alte Mutter werde ich nicht besuchen. Die Gothaer Genossen werden es Euchlers Karl schon zutragen, daß ich dort war. Versoffen, versumpft bin ich nicht, betrogen und bestohlen habe ich auch keinen Menschen. Wer mir in Bezug auf Kleidung etwas sagen würde, dem werde ich schon antworten. Ich werde meinen alten Lehrmeister, dann den Reichstagsabgeordneten Bock, verschiedene andere Freunde und den Porzellanfabrikanten J..... S...... besuchen. Letzterer wurde in den 80er Jahren durch einen Artikel von mir in einer sächsischen Arbeiterzeitung und der »Ameise« berühmt, die dazumal noch von dem Harmonieapostel Max Hirsch redigiert wurde, 1892 aber in unsere Hände kam. Zur Vorsorge will ich mir aber vorher den Bauch mit Schmierseife einreiben, damit ich glücklich rutschen kann, wenn er mich rauswirft. Wenn er aber gut, klug und einen Funken Ehrgefühl hat, so stellt er mich wieder ein, hat er doch damals eine gute Arbeitskraft in mir gehabt.

Weimar und Jena sind doch im Grunde genommen 2 schöne Städte, die mir Bewunderung abgenötigt haben, namentlich das herrliche Idyll zum Paradies in Jena ist ein schöner rechter Platz zum Philosophieren. Lache nicht, »denn heutzutage denkt das Vieh und treibt sogar Philosophie«. Hier kann man ungestört über sein[272] eigenes und anderer Menschen Elend nachdenken, und Beobachtungen in Naturschönheiten machen... In einer Jenenser Buchhandlung sah ich einen Riesenkupferstich: Waterloo. Das Bild war großartig. Napoleon saß auf seinem weißen Hengst. Seine Gesichtszüge deuteten Wut, Ärger, verletztes Ehrgefühl. Die Augen verzweiflungsvoll starr. Es war ja auch sein Todesritt, dem unmittelbar die Verbannung, das lebendige Grab, folgten. Es gibt nur einen Napoleon! Jedenfalls wäre es heute nicht schlechter, wenn dieser große Hypnotiseur der gesamten europäischen Despotie den Laufpaß geben würde. Ich habe mir auch das Goethehäuschen angesehen, es ist ja schön, aber das »Bratwurstglöckle« in Nürnberg ist doch schöner. Dort verkehrte mein Kollege Hans Sachs, ferner Albrecht Dürer und die Bauernführer Ritter Florian von Geyer und Thomas Münzer. Sie alle haben in diesem kleinen Häuschen dem edlen Bavaria-Bräu zugesprochen. Darum geht nichts über das Nürnberger »Bratwurstglöckle«: »Das Auge sieht die alten Kämpen, den Magen füllt das edle Naß!«

Ich will nun schließen. Ihr werdet sagen: Hat der aber wieder einmal Mist gebaut. Es wäre auch besser, er beschäftigte sich mit Ackerbau und Viehzucht, als mit Briefschreiben. Viele Grüße an alle Genossen von Eurem Ahasver.«

Nach acht Tagen, am 30. März, bekam ich wieder einen Brief aus Rotenkirchen. Er hatte keine Arbeit in seiner Heimat bekommen und war, wie aus dem nachstehenden Schreiben hervorgeht, noch verzweifelter, weil er abermals in die Welt hinaus mußte.

»Früh 5 Uhr schritt ich schon im Walde. Die überwinterten Vögel stimmten ihr Morgenkonzert an. Der Tag graute. Trübe Wolken hingen am Horizont. Ein trüber Nebel lag auf der Natur, so einförmig, so tot lagen Thüringerwald und Frankenwald vor mir, daß man dachte, es sei im November, wenn nicht die gefiederten Sänger ihre Weisen hätten erschallen lassen. Arbeits- und existenzlos zu sein, ist ein schwerer Fluch! In den Blicken der Menschen begegnet einem nur Mißtrauen und Verachtung. Da fabelt sogar noch ein Teil der Menschheit von Freiheit. Ist denn der Arbeitslose frei? Nein und tausendmal nein! Das Heer der Arbeitslosen,[273] das auf der Landstraße liegt, ist nicht frei. Nur ein Bruchteil dieser Verdammten und Verfehmten bildet sich die Freiheit ein durch den Schnaps, diesem modernen Kulturteufel, der schon ganze Menschenrassen vernichtet hat. Ein Fluch dem, der reisende Arbeitslose für frei erklärt. Nein, ein Arbeitsloser gehört zur Prostitution. Ist es denn Freiheit, wenn ein Mensch durch einen anderen kontrolliert wird? Und wehe dem armen Teufel, der sein Alibi nicht nachweisen kann! Er kann dann hinter eines grauen Hauses Mauern, in einem beschränkten Raume, das Fenster mit Sicherheitsmaßregeln versehen, über individuelle Freiheit nachdenken, bis es sich herausgestellt hat, daß er wirklich unschuldig ist, oder bis er seine unverdiente Strafe verbüßt hat. So etwas nennt man göttliche Weltordnung, die von ewig satten Menschen gutgeheißen wird! Die Gedanken eines Arbeitslosen gleichen ganz genau denen des Gefängnisinsassen; dieser mag noch so still auf seiner Pritsche liegen, die Gesichtszüge mögen noch so glatt sein, hinter seiner Stirn arbeiten die Gedanken, die Gedanken der Sehnsucht, frei – nur frei – und nochmals frei zu sein. Und genau so ich auf der Landstraße. Ich muß betteln gehen, muß betteln wie ein Blumenmädchen: Gebt mir doch Existenzberechtigung, gebt mir ein Stückchen Brot, gebt mir die Mittel, um die Nacht nicht unter freiem Himmel zubringen zu müssen. Ist dies keine Prostitution? Und da sagen die Moralphilosophen, es gebe keine Verelendungstheorie! Nun, wenn es keine Theorie gibt, so ist es eben eine Verelendungspraxis. Wir arbeitslosen denkenden Proletarier können das am besten beurteilen. Doch was ist das? Jetzt unterbricht Glockengeläute meine revoltierenden Sinne. Ach richtig, heute ist ja Ostern, das Fest der Auferstehung Christi, des angenommenen Zimmermannssohnes. Wir täten besser, bald den Völkerfrühling zu feiern. Wir könnten alles genießen, alles teilen in Freude und Schmerz, wenn alles einig wäre. »O Volk wag es nur einen Tag, nur einen, frei zu sein,« sagt Max Kegel. Es ist ein Fluch der darbenden Menschheit, daß sie ihr Elend nicht einsehen will. Es ist ein Fluch der Enterbten, daß sie im Suff und Klimbimvereinigungen Zerstreuung suchen und zur Verbesserung ihrer Lage keine Maßregeln[274] treffen. In ihrer grenzenlosen Dummheit stoßen die Gehirnvernagelten noch die Hände von sich, die ihnen Hilfe bringen wollen! Das Volk hat nichts gelernt von der 12jährigen Drangsalsperiode! von den Klassenurteilen! von der 12000 Mart-Affäre! O Volk wage, wage es! Dann wird die allgemeine Menschenliebe herrschen und jeder sich als Mensch fühlen. Dann wird wirkliche Freiheit herrschen und dann wird man sich gegenseitig das Leben verschönern. Lieber Freund. Mir fehlt Zeit und Papier. Grüße alle guten Geister, böse brauchen wir nicht. Vielleicht faßt mich morgen schon ein Behelmter und ich werde hinter dicken Mauern Ostern verbringen. Wenn ich dann doch schmieren könnte, würde man die Isolierung nicht so fühlen. Dir und den Deinen fröhliche Ostern zu wünschen, wäre wohl purer Hohn und noch gar Ostereier dazu? Vielleicht legt Dir der Teufel ein Ei in das Nest und Deine Frau bekommt dann noch ein lebendes Kapital mehr! Bewahre Dich der gute Geist davor.«

Nach vier Wochen schrieb er wieder aus Ansbach:

»Es ist leider wahr, ich habe Arbeit in einer Kinderwagenfabrik erhalten. Ein Genosse hat mich bekehrt: Du bist ja los und ledig, kannst also ganz gut auskommen, und die 17-Pfennig-Stundenlohnperiode wird ja wieder vorüber gehen. Du kannst ja schließlich wieder in Akkord arbeiten. Darüber täusche ich mich freilich nicht, denn ich kenne die gemeine Sippschaft in der betreffenden Bude. Da ist nichts in diesen Köpfen als alle niedrigen Gedanken des hartherzigsten Egoismus von der Welt. Kannst Du Dich in meine Lage hineindenken? 17 Pfennige Stundenlohn bei 66stündiger Arbeitszeit! Ich werde auch ein Tagebuch anlegen, wie sich die Arbeiter, welche einen tieftraurigen Charakter besitzen, aufführen. Sie sind noch schlechter wie Eure indifferenten in der Holzschuhfabrik, wo Du gearbeitet hast.... Morgen soll ich im Sägeraum arbeiten. Es ist ein dumpfes Kellerloch, wo selbst am Tage elektrisches Licht den Tag ersetzen muß. Wieviele Arbeiter haben in dieser Totengruft nicht schon ihre Gliedmaßen gelassen! Im Jahre 1900 mehr als 8 Mann!.... Mir ist es gerade, als wenn ich zur Galeere verurteilt wäre. Morgen bekomme ich meine[275] Zuchthausnummer. Es fehlt bloß noch der gestreifte Anzug und die genagelten Schuhe. Na lieber Freund, es heißt eben, die Ketten tragen, aber ich mache es ihnen durch Rasseln begreiflich, daß wir wirklich arme und elende Menschen sind. Grüße an Deine Lieben und an Familie Richter. Euer Ahasver.«

Einige Monate hörte ich darauf nichts mehr vom Kollex. Er teilte mir später mit, daß er seine Knochen nicht länger in Ansbach zu Markte tragen wollte und sein Glück in Nürnberg oder München versuchen wolle. Dann war er wieder krank und mußte sich in das Krankenhaus zu Schwenningen im Schwarzwald begeben. Er schilderte mir in diesem Briefe die Schönheiten des Schwarzwaldgebieges und bedauerte nur, daß er durch seine Erkrankung an den weiteren Genüssen dieser Natur verhindert worden wäre. Am 8. Oktober erhielt ich folgenden Brief aus Schwenningen:

»Ich teile Dir mit, daß ich heute aus dem hiesigen Krankenhause entlassen worden bin. Hoffentlich hast Du weiter keinen Brief nach dort gerichtet. Ich will Dich aber nicht bloß über meine Wenigkeit langweilen, denn für mich sind schon 10 Pfennige ein Kapital und es gibt doch soviel Stoff, über den man jetzt schreiben könnte. Wir beide interessieren uns für große Geister und haben uns z. B. schon über Emile Zola unterhalten, über den ja in den Arbeiterblättern soviel geschrieben wird. Im Krankenhaus bin ich wieder versimpelt. Der evangelische Pfarrer wies mich an, mein Heil in Jesus Christus zu suchen, damit ich einst in den Himmel komme. Siehst Du, hier im Krankenhaus lag ich neben einem Schwindsüchtigen, der viel Blutspucken hatte, dieser war ein gläubiges Schäflein geworden. Gewissermaßen als Anerkennung hat ihm der Pfarrer eine Unterstützung von 10 Mark verschafft. Also er, der Unheilbare bekommt Barmittel, weil der Unheilbare nicht gegen des Pfarrers Idee sprechen kann und sich zusammennehmen muß! Ich sagte dann auch: Hierdurch beweist Ihr wieder einmal Euer Christentum. Gebt doch mir Arbeit, damit ich als Mensch leben kann! Ich wäre beinahe grob geworden, aber Du hast mich veredelt und ich habe Dir versprochen, niemals mehr zu sagen, als mein versimpelter Gehirnskasten verantworten kann.«[276]

Also den großen französischen Naturalisten Zola haben sie jetzt begraben. Hast du »Therese Raquin«, »Den Bauch von Paris«, »Das Paradies der Damen«, »Nana« gelesen? Hast Du den »Germinal«, die »Arbeit« gelesen? Das sind Werke, die von riesiger Geisteskraft zeugen. Es tut mir wehe, daß die französischen Schriftsteller nur mit den Russen und nicht mit den Deutschen sympathisieren. Du hast doch auch den herrlichen Roman Lotis »Die Islandfische« gelesen? Wie gesagt, Wunder in der Unterhaltungslektüre. Aber dafür stehen wir Deutschen an der Spitze der Dramatik. Wo ist ein zweiter Sudermann? Wo ist noch ein Gerhart Hauptmann? Wer kann wieder ein gleiches Stück wie »Die Weber« schaffen? Ganz abgesehen von unseren Geistesriesen Schiller, Goethe, Börne, Grabbe, Lessing, Lenau und dem unvergleichlichen Heinrich Heine. Wo ist ein zweiter in der Welt? Trotzdem hege ich aufrichtige Bewunderung für den Russen Maxim Gorki. – Schreibe nicht! Ich weiß noch nicht wohin mich mein Schifflein treiben wird.«....

Erst am Weihnachtsabend 1902 erhielt ich wieder ein Lebenszeichen des Freundes und zwar einen langen Brief in Gedichtform, betitelt:»Erlebnisse eines Vagabunden in bayrischen Gefängnissen.« Weil die Satzungen der Metrik in diesen Versmemoiren nicht eingehalten sind, will ich von einer Veröffentlichung Abstand nehmen.

Dann aus Ludwigshafen vom 4. Januar 1903:

»Sende Dir meinen Neujahrsgruß! Dir geht es doch sicher noch härter als mir. Du fragst in Deinem letzten Briefe, ob ich im Bruch bin. So eine Frage, wenn man seit dem 19. Juli 1902 ohne Arbeit ist! Gestern wäre ich beinahe barfuß hier angekommen, wenn ich nicht in Mundenheim ein paar ausgediente Trittchen erhalten hätte. Eine Hilfe für mich kann es überhaupt nicht mehr geben. Überall, wohin ich komme, Elend und Not. Am Sylvester war ich in Speyer, der alten Kaiserstadt, hatte eine lange Reise hinter mir über Mundenheim, Rheinzäufern, Schifferstadt und Dudenhofen. Aber auch da herrschte Elend. Ich habe den Übergang vom alten zum neuen Jahr in einer Arbeiterkneipe verlebt.[277] Den Punsch habe ich mir freilich gedacht. Nur eine Schüssel Walnüsse habe ich zerknackt, und zwei Leberknödel in meiner Penne... Hast Du im letzten »Postillon« über das Haberfeldtreiben gelesen? Da bekommt der Blechschmied Bachem wegen seiner Sünden von 92 eine runter.«

Dann schrieb er mir unter dem 28, Januar 1903 aus Edenkoben in der Pfalz:

»Teile Dir mit, daß ich abermals 5 Tage hinter schwedischen Gardinen wegen Bettelei verbringen mußte. Bin dem Herrn Amtsrichter sehr zu Dank verpflichtet, schon der Kälte wegen. Außerdem ist es der erste Richter, der über der Polizeigewalt stand. (?) Meine Briefe, Bücher und Karten hat die Polizei durchschnüffelt, namentlich Börnes Aphorismen über die Polizei in Deutschland hat sie arg verschnupft. Wenn diese Herren die Gewalt derer von Maikammer gehabt hätten, dann gute Nacht für meine Wenigkeit. Mit Gruß an Deine Familie.«

Zwei Monate später trat Schuchardt eines Tages wieder einmal in meine Stube. Er hatte sich aus Mannheim zahlreiche Postkarten mitgebracht, mit denen er Handel treiben wollte. Als Grundkapital bekam er 100 Mark von seiner Mutter geschickt. Das Geschäft wollte aber wieder nicht gehen. Dazu kam noch, daß er sein Verbandsbuch verloren hatte Ich schrieb darum an den Metallarbeiterverband nach Stuttgart, der ihm sofort ein Ersatzbuch zusandte. »Ein neues Buch, eine neuer Mann!« rief der Kollex aus, und beschloß, ins Ausland zu gehen. Er wollte zunächst in Wien sein Glück versuchen. Ich merkte damals schon, daß er dringend einer Kur in einer Heilanstalt bedürftig wäre, allein er kam nie in diese glückliche Lage. Vierzehn Tage nach seiner Abreise, als ich ihn längst an der Donau glaubte, schrieb er mir aus seiner Heimatstadt Gotha:

»Ich bin nicht nach Wien gefahren. In Eger kam ich zur Erkenntnis, daß in Wien auch riesige Arbeitslosigkeit herrscht. Habe das Riesenbeispiel in der Nacht gesehen, die ich in Eger verbrachte. Die ungeheure Masse Sachsengänger dort haben mir Licht in meinen Gehirnskasten gebracht. Es waren lauter trostlose, verzweifelte[278] Elemente, das las ich in ihren Gesichtern. Jetzt möchte ich in Gotha bleiben, werde mit Reichstagsabgeordneten Bock sprechen und ihm meine traurige Lage darlegen. Während der kommenden Wahlbewegung kann ich mich doch nützlich machen. Ich habe genug für den Kapitalsmus geschinakelt.«

Sein Wunsch ist nicht in Erfüllung gegangen. Auch Bock konnte ihm nicht mehr helfen. Er hatte sich dann nach Magdeburg gewandt, aber Arbeit bekam er auch hier nicht und so bettelte er eben weiter. Man faßte ihn ab und er kam auf das Zwangsarbeitshaus »Großsalze« bei Schönebeck a. d. E. Ich erfuhr davon jedoch erst nach 6 Monaten, als er entlassen worden war. Vorher glaubte ich, er habe sich im Verzweiflungswahn ein Leid angetan. Er schrieb dann aus Zella St. Blasii, daß er dort Arbeit erhalten habe und schilderte mir gleichzeitig, daß er im Arbeitshaus eine unbeschreibliche seelische Qual erdulden mußte; denn alles daselbst habe sich um den Anstaltsgeistlichen gedreht. Er besuchte mich bald darauf in der Lungenheilanstalt zu Berka, von der ich dann noch schreiben werde. Ich versorgte ihn mit Hilfe der dortigen Schwestern mit Speise und sammelte einige Groschen für sein Nachtquartier ein; denn unter freiem Himmel sollte er nicht schlafen. Dann arbeitete er in Schweinfurt, wo er beinahe ein Jahr ausgehalten hat. Als ich ihn über den Antritt meiner dritten Kur in der Lungenheilstätte unterrichtete, erhielt ich noch folgendes Schreiben, mit dem ich den Bericht über seine Person schließen will.

»Lieber Willy! Leider muß ich zugeben, daß ich riesig schreibfaul gewesen, doch das bringen eben die Verhältnisse so mit sich. Ich leide jetzt stark an chronischem Kopfschmerz. Es ist ja kein Wunder, bei der Massenmaschinerie in unserer Bude herrscht ein solch unbeschreibliches Getöse, daß man sich in »Dantes Hölle« versetzt fühlt und leider werde ich dadurch immer nervöser. Mir täte wirklich einmal eine Kur not. In dem Höllenlärm verkomme ich noch und diese verfluchte Akkordschinderei ist der reine Jammer. Bei Dir ging es in der Zwötzener Gift- und Schinderhütte hundertweise, während es bei mir tausendstückweise geht. Dabei habe ich eine Unmasse schiefgepreßte Deckel dabei. Ich arbeite jetzt nämlich[279] in einer Präzisions-Kugellagerfabrik, eine wirkliche Taschenausgabe Lucifers. Alles Teilarbeit. Ich drehe Schlußdeckel für Fahrräder-Vorderfreilaufnaben. Aus dem Oberteil des Drehbanksupports habe ich einen Schlitten gemacht, also ohne Leitspindel. Wird nur mit den Händen angeschoben, sonst ginge es zu langsam. Für ein Hundert zu drehen, zu bohren und zu randieren erhalte ich – sage und schreibe – zwanzig Pfennige. Da heißt es schuften, daß der Dampf rausfliegt. Dabei hat man enormen Ärger und Verdruß über seine nächsten Mitarbeiter. Die Schweinfurter sind reine Teufel während der Arbeitszeit. Aber das Leben dieser Kollegen wird ja nur durch Sausen und Schinakeln ausgefüllt. Vor kurzem war ich wieder acht Tage krank. Mit 8,50 Mk. Krankengeld heißt es da nun hungern. Ich wollte mir andre Arbeit suchen, es klappte aber nirgends. Also dachte ich wie Hebbel: »Der Tag ernährt seinen Menschen, aber niemals das Jahrhundert.« Ich gab darum unserem technischen Leiter ein gut Wort, leicht ist mir das nicht geworden, Du weißt, ich bin kein Freund von guten Worten. Aber vor dem Tippeln graut mir auch. Ich dachte an die Polizei und daran, wie mich strohdumme Menschen wieder anstieren würden. Für die Hungerreisen möchte ich lieber das Armenhäusel vorziehen. Da ist mir doch noch lieber, die Gänse, Enten und Hühner zu zählen, welche in die Küche des Herrn Direktors wandern. Das ist doch wenigstens eine kannibalische Rache, wenn ich dann vor dem fetten Direktorsehepaar eine Faust in der Tasche machen kann. Im Grunde genommen ist ja alles Blechmusik. Ich bin lebensmüde. Ich habe für die Partei und für die Gewerkschaft gearbeitet, und doch ist es gewissen Leuten gleich, ob ich im Rinnstein zu Grunde gehe oder daneben. Ich habe weder Frau noch Kinder. Ich muß auskommen, so ruft man mir zu. Denjenigen, welche für mich noch Sympathie haben, denen geht es ebenso erbärmlich oder noch schlechter als mir. Und doch ist jeder besser daran als ich. Anstatt, daß ich meiner Mutter einen sorgenfreien Lebensabend bereite, mache ich den Hampelmann bei geldgierigen Kapitalisten. Das ist eine Tantalusqual. Da ist es doch besser, man läßt den Karren laufen. Wie gehts Dir als lebenden Leiche?[280] Jetzt mußt Du nun abermals in diese Bazillenvernichtungsanstalt. Mir tut es weh, weil ich das Arbeiterleben von der Pike auf kenne und gründlich kennen gelernt habe. Es ist ein Jammer, so ein Leben führen zu müssen – aber Alter, mir sagte einmal einer unserer Vertrauensmänner in Magdeburg, als ich revoltieren wollte: Höre, wie leben noch nicht im Zukunftsstaat! Mir ist dieses ganze Jammerleben ein riesiger Ekel. Arbeiten und kein Heim haben. Wahrlich lieber aufgehängt. Die Verhältnisse hier in Schweinfurt sind unter dem Hund. Man ist nur Logisbursche und weiter nichts. Man hat ein Heim und auch keins. Zur Abwechslung das Wirtschaftsleben – Sausen – Sausen und nochmals Saufen. Das ist alles, was man in Schweinfurt erobern kann, aber auch alles. Ich habe es satt. Morgen ist Samstag. Ich mache Schluß hier. Das ist jetzt mein fester Vorsatz. Werde nach Frankfurt oder Köln reisen, wenn früher Existenz, dann meinetwegen Offenbach, Hanau oder auch schon Aschaffenburg. Die verfluchte Akkordschinakelei hat mich total auf den Hund gebracht. Mit Gruß Ahasver. Adresse folgt später, wenn ich nicht – –.«

Ich schließe hiermit die Briefe »eines Vagabunden von der Landstraße, der nicht arbeiten will«, Man kann vieles daraus lernen – wenn man will.

Wir kehren wieder in den Fabriksaal der Wesselmann Bohrer-Gesellschaft nach Zwötzen zurück. Eines Tages hatte ich 20 Millimeter zylindrische Bohrer zu drehen. Im Buche waren mir dafür vom Meister Weise pro Stück 2 1/2 Pfennig eingeschrieben worden, während in meiner Preisliste 3 1/2 Pfennig stand. Ich befragte den jungen Kollegen neben mir, der dieselbe Woche dasselbe Kaliber gedreht hatte: er hatte einen Pfennig mehr pro Stück als ich eingeschrieben bekommen. Das war mir denn doch zu toll. Ich stellte den Meister darüber zur Rede. Was war aber der Erfolg? Sämtliche fünf Kollegen, die Spiralbohrer drehten, mußten ihre Bücher abgeben und er zog nun allen ab und gab nur noch 2 Pfennige. Diese anderen Kollegen bekamen infolgedessen natürlich einen bittern Haß auf mich, weil ich indirekt die Reduktion herbeigeführt hatte. Das wollte aber der Meister so haben. Das kitzelte ihn und[281] einige, darunter ein gewisser Heimat und Bischof, stießen die gräßlichsten Verwünschungen aus. Ich bemühte mich natürlich, sie von meiner Unschuld und der Rücksichtslosigkeit des Meisters zu überzeugen, was mir auch bald außer bei den beiden eben Genannten gelang. Jeder machte durch einige Verwünschungen seinem Herzen Luft, mit Ausnahme natürlich der beiden, die mich besonders gefressen hatten. Mehrere Male war dieser rigorose Drehermeister im Geraer Parteiblatt, der »Reußischen Tribüne« unter der Rubrik »Aus den Fabriken« abgemalt worden. Er hatte gewöhnlich mich im Verdachte, dabei mitgewirkt zu haben, was indes niemals der Fall war. Einmal rühmte sich der ehemalige Legionär Seliger, einen solchen Artikel verfaßt zu haben. Er flog sofort. Auch sonst gab es viele Härten. Kam ein Arbeiter erst nach dem Schließen des Portierkastens, so waren 25 Pfennige Strafe gefällig. Aber auch Strafen bis zu 3 Mark für verpfuschte Arbeit waren nicht selten. Die Strafkasse wurde zu wohltätigen Zwecken verwendet. War ein Arbeiter längere Zeit krank, so wurde seine Familie mit einer Unterstützung bedacht, deren Höhe im Einverständnis mit Direktion und Arbeiterausschuß vereinbart wurde. Auch bei Sterbefällen war das der Fall. Als ich mich zum ersten Male in der Lungenheilanstalt befand, erhielt ich 30 Mark, bei der zweiten Kur 15 Mark aus der Strafkasse. Ich will der Wahrheit die Ehre geben und offen aussprechen, daß mich der Drehermeister selbst vor meiner Abreise aufforderte, nach 3 bis 4 Wochen einen diesbezüglichen Antrag an den Arbeiterausschuß zu richten, Für die Familie bedeutet die Summe natürlich eine nicht unbeträchtliche Erleichterung. Allerdings wurde sie mir von verschiedenen Mitarbeitern nichts weniger als gegönnt. Jeder Mensch hat eben Freunde und Feinde. Die letzteren werden bei derartigen Anlässen niemals die Spende gutheißen, ganz gleich, ob man es wirklich bedürftig ist. Unter den Arbeitern gibt es eben noch über die Maßen traurige Elemente, und man hört aus dem Munde der Mitarbeiter selbst nicht nur hundertmal, sondern tausendmal den Ausspruch, daß die Arbeiter oft gegeneinander wahre Teufel sind. So ist auch über meine Unterstützungen aus der Strafkasse Zeter und Mordio[282] geschrieen worden. Allerdings, in meiner Gegenwart wagte es sich keiner, desto mehr hinter dem Rücken. In einer Fabrik, in der 200 Arbeiter beschäftigt werden, hat man eben die verschiedenartigst gebildeten Leute darunter. Da war z. B. ein geschickter Fräser Walter Zippel. Der interessierte sich nur nebenbei für politische und gewerkschaftliche Fragen. Seine Hauptpassion war die Gesundheitspflege. Er war Mitglied des Naturheilvereins, lebte vegetarisch und war Abstinenzler. Ohne zu übertreiben, erschien mir sein Wissen von Krankheiten und ihrer naturgemäßen Heilung einfach enorm. Mir hat er jedenfalls damit sehr gute Dienste geleistet. Ich mochte eine Auskunft erbitten, welche ich wollte, stets erteilte er mir einen guten sachgemäßen Rat, ganz gleich, ob das Kinderkrankheiten oder Leiden Erwachsener betraf. Er verstand auch vorzüglich Schmirgel- oder Metallteilchen aus den Augen zu entfernen, wodurch er der Krankenkasse manche ärztliche Konsultation erspart hat. Er trank zum Frühstück nur Milch, aß viel Obst und nahm im Sommer täglich ein Flußbad. Seitdem die Geraer Krankenkassen Freikarten zu Flußbädern ausgaben, nahmen auch zahlreiche andre Arbeiter täglich ihr Bad. Ich selbst habe das eine Zeitlang getan, aber mit Rücksicht auf meine schwächliche Konstitution und die Neigung zur Influenza und anderen Erkältungskrankheiten schließlich wieder aufgegeben. Das Mühlgrabenwasser fließt sehr schnell und meist im Schatten und ist deshalb sehr kalt. Ich habe mich deshalb bald wieder auf Wannenbäder mit Duschen oder kalte Abreibungen zu Hause beschränkt. Ich kann mich aber auch dabei nicht genug ich Acht nehmen. So hatte ich an einem besonders heißen Sommerabende auch eine Abreibung gemacht, dann ein dünnes Netzhemd angezogen und mich vor das offene Fenster gesetzt, um zu lesen. Einige Male wurde die Stubentüre geöffnet, ein kühler Luftzug traf mich dabei und – am andern Morgen – hatte ich eine echte und bösartige Influenza. Ich mußte wieder einmal vier Tage im Bett und dann noch acht Tage zu Hause bleiben. Als ich dann wieder zur Arbeit kam, empfing mich der Meister mit mürrischer Miene und erklärte: »Das geht aber nicht, das viele Kranksein! Die[283] Bänke können doch nicht leer stehen; wenn das noch mehrmals vorkommt, müssen Sie etwas anders machen.« Ich erhob natürlich Einwendungen; ich könnte doch nichts dafür, wenn ich krank würde. »Das ist mir ganz egal; der Alte und der Ingenieur leiden das nicht und ich bekomme Euretwegen nur Grobheiten.« Das war die Antwort, die ich still hinnahm. So verfährt man mit den Fabrikproletariern, wenigstens solchen, die etwas selbständig auftreten. Denn auch ich war anrüchig wegen meiner Intelligenz. Es war schnell bekannt geworden, daß ich häufig für unser Parteiblatt korrespondierte und mit an der Spitze der örtlichen Parteiorganisation stand. Solche Leute sind niemals beliebt. Da arbeitete z. B. ein gewisser Fritz Rodeck mit in der Bude, der Bevollmächtigter des Metallarbeiterverbandes, Mitglied der Preßkommission der »Reußischen Tribüne« und ein zugkräftiger Redner war. Er arbeitete im Akkord, machte Rohrzangen und -Schneider und verdiente mitunter bis zu 40 Mark in der Woche. Er war aber von herkulischem Körperbau und besaß eine strotzende Gesundheit. Ich bewunderte seine Schlagfertigkeit bei Versammlungen und anderen Anlässen. Dieser war ebenfalls äußerst mißliebig. An einem ersten Mai kam er erst Mittags zur Arbeit, – ein willkommener Anlaß, ihm sofort seine Entlassung zu geben. In Gera erhielt er danach keine Arbeit mehr, er war zu sehr bekannt. Sein Freund Leber brachte auch ihn bei der Firma Zeiß in Jena an. Dort war er für immer versorgt, meinte man und zahlreiche gehässige Kollegen mißgönnten ihm diese Anstellung, selbst der Meister. Aber im Jahre 1903 wurde er zum Geschäftsführer der Kölner Filiale des Metallarbeiterverbandes gewählt, mit 1500 Mark angestellt, erhielt für jede Versammlung im Weichbilde der Stadt Köln 3 Mark und für jede auswärts 8 Mark. Er ist inzwischen der zugkräftigste Agitator des Rheinlandes geworden. Darüber waren nun seine »Freunde« in unserer Fabrik noch empörter. Sie hätten ihn vor Neid vergiftet, wenn es in ihrer Macht gestanden hätte.

Freilich, wenn ich herausfliegen würde, ich hätte keine solchen Chancen wie Rodeck gehabt. Ich mußte mich also in Acht nehmen. Ich gab mich deshalb auch niemals mit den Speichelleckern und[284] Liebedienern ab. Mein Frühstück verzehrte ich vom April bis Oktober in Gemeinschaft mit einigen guten Freunden im Freien, wenn es nicht gerade stark regnete. Mittag aß ich entweder im Speisesaale oder ganz allein hinter der Fabrik an irgend einem stillen Plätzchen. Beim Essen las ich erst meine Zeitung und nahm dann gewöhnlich ein Buch oder eine Broschüre zur Hand, die ich mir von zu Hause mitbrachte, denn je älter ich wurde, desto weniger war ich mehr imstande, noch in den Abendstunden nach der Arbeit zu lesen. Während ich in den ersten Jahren meiner Ehe manchmal bis Nachts 2 und 3 Uhr gelesen und geschrieben habe, bin ich jetzt dazu kaum bis 10 und 1/2 11 Uhr mehr fähig; dann schlafe ich dabei ein. Zumal seitdem ich auswärts arbeitete. Da kam man erst des Abends 8 Uhr nach Hause. Ehe ich mich dann gewaschen und gegessen hatte, war es 3/4 9 Uhr geworden. Gewöhnlich vergnügte ich mich dann noch ein halbes Stündchen mit einem Kinde, das noch wach war, und so kam ich erst 1/4 10 Uhr zu meinen Privatarbeiten, d. h. ich schrieb, erledigte die Arbeiten für Partei und Verband, oder ging in die Sitzungen und Versammlungen. Waren keine solchen angesetzt, nahm ich mir auch ein Buch vor. Während meiner Geraer Arbeitszeit habe ich mir viele Bücher geschafft. Weil ich, wie ich schon bemerkte, dem Werkstattkolporteur Freitags die Schriften auslegen half, bekam ich die von mir bestellten zum Selbstkostenpreis. Durch meine Privatarbeiten verdiente ich monatlich 19–20 Mark. Meiner Frau gab ich 14 Mark Wirtschaftsgeld in der Woche. 1 Mark brauchte ich zur Bahnfahrt, 2 Mark für Taschengeld und das übrige für Steuern, Schulgeld, Hauszins, Kleider und sonstige Ausgaben. Wenn ich mir also nicht noch einige Nebeneinnahmen verschafft hätte, wäre ich nicht weit gekommen, vor allem hätte ich mir keine Bücher anschaffen können. Wenn das aber geschah, so sah ich noch immer darauf, daß ich sie zum Engrospreis erhalten konnte. Und das war mir in Gera durch Handreichung bei der Kolportage in der Fabrik möglich.

Als mein Freund Fuchs, wie ich schon erzählte, Schleifermeister wurde, wurde diese vom jüngsten Bruder des Drehermeisters[285] Weise übernommen. Meistens wurde im Anfang die »Berliner Illustrierte« und der »Reporter« von den Arbeitern gelesen. Als letzterer in Konkurs geraten war, kamen die meisten Abonnenten der ersteren zugute, während ein kleiner Teil die neugegründete »Gerichtszeitung« las, die hauptsächlich sensationelle Mordillustrationen brachte. Die jüngeren Burschen waren natürlich Konsumenten der Hintertreppenromane, die auf jeder Seite einen Mord bieten. Nur diejenigen, mit denen wir Aufgeklärten direkt in Berührung kamen, folgten unserm Rat und abonnierten die »Freien Stunden«, oder die »Französische Revolution« von Blos oder »Voigts Weltgeschichte«, Langkavels »Der Mensch und seine Rassen«, Bommelis »Geschichte der Erde«, oder »Tier- und Pflanzenwelt«. Die 19–22 jährigen gelernten Leute liebten wieder Kriegsgeschichten oder etwas Pikantes, etwas, wo möglichst viel entblößte Weiber abgebildet waren, so das »Album«, »Frauenschönheiten«, »Das kleine Witzblatt«, »Flirt«, »Satyr« und »Sekt«. Dann folgten die Lesewüteriche mit »Buch für Alle« und »Gartenlaube«. Die erwachsenen politisierenden Arbeiter hielten sich dagegen den »Wahren Jakob«, »Süddeutschen Postillon« und sonstige Parteischriften. Ein kleiner Teil Verheirateter, bei denen lediglich die Frau in Betracht kommt, abonnierten wieder auf den »Häuslichen Ratgeber« und »Das illustrierte Sonntagsblatt für Deutschlands Frauen«. Selten wurden Fachschriften wie »Die Maschinenbauschule« oder »Die elektrische Schule« gelesen. Ebenso selten gab es Konsumenten der Reklam-, Meyer- und Hendelbibliothek, zu diesen gehörte ich als ständiger Abnehmer. Auch die besseren Romane, wenn sie nicht schon in unseren Parteiblättern gestanden hatten, wurden von diesem kleinen Kreise gekauft. So Gorkis »Foma Gordjejew«, Beyerleins »Jena oder Sedan«, Hegelers »Ingenieur Horstmann« und Clara Viebigs »Das tägliche Brot«. Dann schafften wir uns auch die billigen Klassikerausgaben der Deutschen Verlagsanstalt: Goethe, Schiller, Heine, Uhland, Lessing, Lenau, Shakespeare an. Letztere waren schon längst meine Sehnsucht gewesen. Einige derselben erhielt ich von Fuchs gratis für die Vermittelung einiger Verkäufe von »Weltall und Menschheit«[286] und eines Konversations-Lexikons. Zu Grabbes 100jährigem Geburtstage kaufte ich mir auch dessen Werke. Vorher hatte ich nie etwas von diesem unglücklichen Dichter gehört, der durch seine Mißerfolge dem Trunke in die Arme getrieben und dadurch dem Tode ausgeliefert wurde. Warum haben mir meine Lehrer nichts von ihm erzählt? Die »Hermannsschlacht« und der »Napoleon« sind doch wirklich grandiose Schöpfungen. Auch Gedichte lasen wir paar eigentlichen Bücherwürmer für unser Leben gern Neben den erwähnten klassischen Dichtern wurden aus dem Meyer- und Hendelsachen, Petöfi, Henkel, Hans Sachs, Maupassant, Andersen, Sallet, Shelley und Byron, die letzteren allerdings nur in Auszügen gekauft. Ferner die von Beißwanger in Nürnberg herausgegebenen »Stimmen der Freiheit«, die eine ganze Anzahl herrlicher Dichtungen aufweisen. Durch Fuchs erhielten wir auch Kenntnis von der Firma Hachfeld in Potsdam, die alljährlich zahlreiche gute Schriften, namentlich Reisewerke, zu bedeutend herabgesetzten Preisen abgibt. Schade, daß wir nur das Wenigste davon kaufen konnten. Zwar hat auch die Vorwärts-Buchhandlung eine große Auswahl solcher Sachen, aber da unser Kolporteur seinen sämtlichen Bedarf von Otto Maier-Leipzig empfing, so erhielten wir nur selten oder gar nicht die im Vorwärtsverlag erschienenen Schriften, Was aber daher zu uns kam, kaufte ich. Ich hatte freilich schon viele Male beschlossen, nichts Neues mehr anzuschaffen; denn so oft ich damit nach Hause kam, war der erste Ausruf meiner Ehehälfte: »Schon wieder ein neues Buch! Kaufe lieber den Kindern ein Paar Schuhe dafür, an statt immer den Bücherspittel!« Ich hörte das schließlich gar nicht mehr. Viele meiner Kollegen machten mir auch Vorwürfe, weil ich dem Meisterbruder auslegen half. So ein Werkstattkolporteur hat doch immerhin seine 5-8 Mark Nebenverdienst in der Woche. Natürlich muß er jede Sendung bar bezahlen. Der Kommissionsverlag Maier-Leipzig versendet nur gegen Nachnahme und berechnet sogar das Porto. Allein im großen und ganzen war Franz Weise niemals unrecht; namentlich seinen Bruder, den Meister, nahm er nie in Schutz, sondern schimpfte im Gegenteil weidlich auf dessen[287] brutales Auftreten. Er kannte das Leben besser als jener. Während dieser in seiner Jugend 20–30 Mark verdient hatte, mußte er sich mit 9 und 10 Mark durchschleppen. Dann hatte er auch eine schlechte Militärzeit hinter sich gehabt. Er diente im 19. Husarenregiment in Grimma und ist, wie er erzählt, im ersten Jahre unmenschlich geschlagen worden. Die Soldatenmißhandlungen konnten in den Zeitungen stehen wie sie wollten, er behauptete, das sei alles nichts, er sei viel mehr drangsaliert worden. Er gehörte auch dem sozialdemokratischen Verein an, beneidete aber wie Koblischke alle Partei. und Gewerkschaftsbeamten. Im übrigen war er im Umgang zu leiden. Er hatte nach Frankenthal bei Gera geheiratet und hatte deshalb täglich drei Stunden Wegs nach und von der Arbeit zurückzulegen.

Wie ich schon erwähnte, las ich die Broschüren und Bücher von kleinerem Format, wie Reklam- und Meyerbändchen in der anderthalbstündigen Mittagspause, nachdem ich mein aus einem Stück Brot, für 10 Pfennige Wurst und einer Flasche Bier bestehendes Mittagsmahl vertilgt hatte. Der Speisesaal war bei Beginn der Pause, namentlich bei unfreundlichem Wetter, voll gefüllt. Ein Drittel der Kollegen vertrieb sich die Zeit mit Kartenspiel, die jüngeren Leute tummelten sich im Freien umher. Einige begaben sich an die Ufer der Elster, legten sich dann ins Gras und lauschten dem Rauschen des Flusses. Während der warmen Jahreszeit badeten auch viele nach dem Essen. Der kleinste Teil schlief. Manchmal spazierte auch ich nach der Elster hinüber, legte mich an eine einsame Stelle, dicht neben das Wasser und las; nur höchst selten schlief ich dabei ein. Vesperpausen gab es im Betriebe nicht, doch die Kantine wurde geöffnet Es wurde während der Arbeitszeit gevespert, was hygienisch auf das schärfste zu verwerfen ist. Mit den schmutzigen, öligen Fingern war man genötigt, die Speisen anzufassen und dem Munde zuzuführen. Wieviel Bazillen und Bakterien werden da nicht mit in das menschliche Innere eingeführt? Doch was schert sich der Kapitalismus darum. Dem Herrn Direktor, der sein belegtes Brödchen mit 2 Fingern gefaßt verzehrt, wenn er den Maschinensaal kontrolliert, kümmert das[288] nicht. Ihm passiert sowas ja nicht. Namentlich wenn der Stahl roh verarbeitet und nicht geglüht wurde, war er besonders schmierig und ölig. Dann mochte man bei jedem Stück, das man anfaßte, sich die Hände mit Putzwolle abreiben, man rieb den Schmutz nur breit, und die Speisen wurden trotzdem infiziert. Aus dem Grunde aß Zippel nur, wenn er sich die Hände gewaschen hatte und solange er beim Essen war, rührte er nichts an.

Ich bemerkte schon, daß Mittwoch Abend Wochenschluß ist. Donnerstag Morgens wurden die Arbeitsberechnungsbücher abgegeben und Sonnabends 6 Uhr Nachmittags erfolgt die Lohnzahlung in dem Abteil der Werkzeugschlosserei. Dort standen ein Buchhalter und der Portier, beide vor einem großen Kasten mit lauter kleinen Fächern. Jedes Fach enthielt eine Blechbüchse, auf der die Nummer eines jeden Arbeiters eingepreßt war. Nacheinander nannte jeder seine Nummer, ich z. B. Nr. 70, und dann bekam man die ebenso numerierte Büchse. Darin lag der Lohn und ein Zettel. Darauf stand: so und soviel im Akkord verdient, oder soviel Stunden zu soundsoviel Pfennigen, macht das und das, ab Invaliden- und Krankenkassenbeiträge, sowie etwaige Strafen, bleibt der und der Betrag. Mitunter kam es dann vor, daß 20 bis 30 Pfennige und noch mehr zu wenig in der Büchse lagen. Man machte da kein Aufhebens. Stimmte der Zettel mit den Angaben im Buch nicht, und es betrug 50 Pfennige oder 1 Mark und mehr, dann mußte man Montags früh den Zettel beim Meister abgeben und am folgenden Sonnabend wurde der Fehlbetrag mit ausgezahlt. Wenn aber der Zettel stimmte, und es fehlte trotzdem, so legte der Buchhalter manchmal den Betrag aus seiner Tasche darauf. Wie ich aber schon sagte, fehlte, namentlich wenn man eine gute Zahlung gemacht hatte, fast bei jedem Kollegen bis zu 30 Pfennigen, über die man kein Aufhebens machte. Nehmen wir nun an, daß das bloß mit 60 Mann der Fall war, so sind das 10 bis 12 Mark. Nach meiner Entlassung hörte ich, daß der Buchhalter 3000 Mark unterschlagen hätte und steckbrieflich verfolgt würde. Da ging mir ein Licht auf. Wie hoch muß wohl die Summe gewesen sein, um die er auf dem geschilderten Wege die[289] Arbeiter im Laufe von vier Jahren geprellt hat? Ich glaube, fast ebenso hoch. Da stand hinter mir ein junger Arbeiter Mutschmann aus Frankenthal, der später zur Marine ausgehoben wurde. Dieser mußte dem Buchhalter manchmal eine Gans oder ein paar Tauben vom Lande besorgen. Jedesmal, wenn das der Fall war, hieß es dann unter den Arbeitern: »Na, heute Abend fehlen wieder verschiedene Groschens.«

Viel Ärger und Verdruß hatten wir an Sonnabenden mit dem Putzen unserer vier Drehbänke. Schlammkarren nannten wir sie, und dieser Ausdruck war auch viel zutreffender. Zunächst rieben wir sie Montags früh mit Öl und Fett ein, weil die ganze Woche hindurch Seifenwasser auf Bohrer und Drehstahl laufen mußte. Zu dem Zwecke war eigens eine Leitung angelegt, die durch eine Saugpumpe aus einem etwa 4–6 Kubikmeter haltenden Bassin gespeist wurde. An einer jeden Maschine, die zur Wasserkühlung eingerichtet ist, ging ein Schlauch herunter, der in einer am Support befestigten Gabel mündete, wodurch der Wasserstrahl ganz genau auf den kleinen Schneidzahl lief. Würde dies Wasser nicht darauf laufen, so würde der Stahl sofort ausgeglüht sein. Nur wenn ganz schwache Spähne von 1–2 Zehntel Millimeter abgedreht wurden, mußte man ohne Wasser drehen, weil sonst der Stahl gedrückt wurde und kein Material wegschnitt. Während nun die Dreher und Durchfeiler ihre eine Bank am Sonnabend nur abzukehren und ein wenig abzuwischen brauchten, mußten wir die unsrigen erst von den nassen Spähnen reinigen, dann mit Petroleum einreiben, weil das den Rost und den festgeklebten Schmutz leichter wegfrißt, dann erst konnte man mit trockener Putzwolle nachstreichen und endlich ordentlich sauber putzen. Für schlecht geputzte Bänke wurden 50 Pfennige Strafe abgezogen. Was das nun heißen will, 4 Stück solcher Bänke reinigen, kann nur ein Fachkenner ermessen. Anfangs wurde deshalb Sonnabends gleich nach dem Vesper angefangen zu putzen; später durften wir erst um 5 Uhr beginnen; als wir an 4 Maschinen schafften, schließlich, nachdem der Direktor wieder verschiedene Male Krach gemacht hatte, indem er meinte: »Es wird wohl noch viel zu viel verdient, wenn die[290] Leute um Fünfe schon anfangen mit Putzen, müssen wieder mal abziehn« – durften wir erst 20 Minuten vor 6 Uhr, wenn das Glockenzeichen zum Putzen ertönte, beginnen. Dadurch mußten wir eine Stunde länger schuften, bis 7 Uhr, und zwar umsonst schuften, denn eher wurden wir nicht fertig. Eine Zeitlang wurde das von uns mit angesehen. Dann brachen Differenzen darüber aus, und dabei wurde die Angelegenheit so geregelt, daß wir eine Stunde Lohn – also bei mir 31 Pfennige – dafür vergütet bekamen. Da gab es kein Umschauen, jeder Griff mußte gelten. Ich besonders, der ich noch zur Zeit mit dem Arbeiterzug fortwollte, mußte förmlich hetzen. Dabei wirbelte zu der Zeit in dem ganzen Fabriksaal ein gewaltiger Staub. Unter jedem Arbeitsplatze wurde gekehrt. Bei 200 Plätzen will das etwas sagen! Wenn ich dann an die frische Luft trat, so überfiel mich immer ein wahres Wonnegefühl. Aber auch dem Genuß konnte man sich nicht lange hingeben. Man mußte eilen, um den Zug nicht zu versäumen. Auch dann, wenn man wirklich noch etwas mehr Zeit übrig hatte. Denn zumal an Sonnabenden hatte man gewöhnlich noch den und jenen Auftrag von der Frau, etwas mitzubringen, was in der größeren Stadt billiger ist als in unserm Neste. Wie wohl war es mir dann immer, wenn ich Sonnabend Abends zu Hause war und gerade keine Verbands- oder Parteisitzung hatte! Dann konnte man doch wenigstens physisch ruhen; denn geistig ruhen kann ich nie. Allzuschnell war dann auch der Sonntag verflogen, an dessen Abenden ich meist zu Parteiversammlungen weg sein mußte. Montags früh um 5 Uhr hieß es dann wieder: »Raus!«, denn halb sechs Uhr geht der Zug. Die in Gera oder Zwötzen und Umgegend wohnten, konnten Montags freilich eine Stunde länger schlafen, weil der Betrieb da erst um 7 Uhr begann; wir aber mußten zur selben Zeit heraus, da der Zug auch Montags wie alle Tage abging. So drückten wir uns dann eine Stunde lang in dem ungeheizten Bahnhofswartesaal herum, dusselten noch ein bißchen oder lasen. Denn der zweite Zug ging erst 1/4 8 Uhr nach Gera. Benutzten wir den, so konnten wir erst kurz vor acht in der Fabrik sein und dann war stets der Teufel los. Mir hat dann der Meister mehrmals gesagt:[291] »Wenn das über acht Tage wieder passiert, so bleiben Sie nur gleich zu Hause!« Man war gezwungen, solche Reden ruhig anzuhören und das Maul zu halten. Eine höhere Instanz gab es nicht, wenn man nicht noch mehr schikaniert sein und vielleicht die schlechteste Arbeit erhalten wollte. Ich will ja zugeben, daß man als Meister auch eine gewisse Verantwortung nach oben hin hat und selbst manche Grobheit einstecken muß, wenn ein Stück Arbeit nicht paßt oder verpfuscht ist. Aber das meiste ist und bleibt zu arg.

Im Sommer 1904 erkrankte ich wieder einmal, und der Meister war darüber förmlich erbost. Meine Bänke würde ich nicht wieder bekommen, sondern sollte mich beim Ausfeilen plagen. Dabei hatte das edle Paar, Bischof und Heimat, eine solche Hetze gegen mich in Szene gesetzt, daß ich mich geradezu schämte, wieder vor meine mir wohlgesinnten Kollegen zu treten. Ich hatte auch sonst genug. Es tat mir freilich weh, meine Familie einer ungewissen Zukunft entgegen zu führen. Aber mir wurde gleichzeitig angeboten, für eine erzgebirgische Firma als Provisionsreisender tätig zu sein und hauptsächlich Konsumvereine als Kunden zu gewinnen. Meine Frau bettelte mich flehentlich an, in der bisherigen Arbeitsstelle zu bleiben. Allein mein Entschluß war gefaßt. Ich begab mich eines Tages nach dem Kontor und verlangte meine Papiere. Ohne ein Wort zu verlieren, ohne nach dem Warum zu fragen, wurden sie mir vom Buchhalter ausgehändigt, der mir auch das Zeugnis schrieb, die Direktoren gaben sich gar nicht damit ab. Ich hatte 6 Jahre lang die riesigen Gewinne für die Fabrik mit zusammenschinden helfen, hatte mir als Extrazulage die Proletarierkrankheit geholt, – nun wurde man ohne ein Wort der Anerkennung gleichgültig entlassen. Wehmütig blickte ich mich noch einmal um, als ich zum letzten Male das Fabriktor passierte. Der Mohr hatte seine Schuldigkeit getan, der Mohr konnte gehen.[292]

Quelle:
Bromme, Moritz Th. W.: Lebensgeschichte eines modernen Fabrikarbeiters. Frankfurt a. M. 1971, S. 243-293.
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