Einleitung

Schon manches kleine Buch schrieb ich bisher für junge Leute und für Kinder, welche nicht die meinigen waren; dismahl, meine einzige Tochter, schreibe ich zunächst für dich – für dich, auf welche jetzt, da ich für mich selbst nichts beträchtliches mehr hienieden zu erwarten und zu wünschen habe, meine süßesten Hoffnungen und meine heißesten Segenswünsche sich allmählich alle zusammenziehen!

Der Kindheit Stufen sind nunmehr von dir erstiegen. Sie ist dahin, die gute goldene Zeit, in der das einige einfache Verhältniß des Kindes zu seinen Eltern dein ganzes, leicht zu übersehendes und leicht zu befolgendes kleines Pflichtengebäude fast nur allein bestimmte! Sie sind dahin die sorgenfreien Wonnetage des unbefangenen Alters, die unter dem schützenden Dache liebender Eltern, welche für dich wachten und sorgten, sich so leicht, so froh verscherzen[3] ließen! Das Bächlein deines Lebens schwillt nunmehr, von bald funfzehn zurückgelegten Jahren erweitert, allmählich zum Fluß an, der mit jedem Tage breiter wird, mit jedem Tage schneller und tiefer – und o dürfte ich nicht besorgen, auch mit jedem Tage trüber strömt! Des Bächleins einzige Bestimmung war, in kleinen scherzhaften Krümmungen zwischen Blumen hinzurieseln; zu tändeln mit den kleinen Kieseln seines Betts, und dem lustwandelnden Zuschauer zur angenehmen Augenweide zu dienen. Diese leichte Bestimmung hat nunmehr aufgehört; eine weit ernstere, eine weit mehr bedeutende ist an ihre Stelle getreten. Der Fluß soll forthin nicht mehr tändeln; er soll Mühlenräder treiben; soll lastbare Schiffe auf seinem Rücken tragen; soll den täglichen Abgang an Lebenskräften und nützlichen Fertigkeiten in dem großen wogenden Oceane der Menschheit durch seinen täglichen Beitrag ersetzen helfen! O meine Tochter! fühle ihn doch ganz, diesen großen herz-erhebenden Unterschied dieser würdigeren Bestimmung; und blicke flehend auf zu dem, von welchem alle gute Gaben kommen, daß er deinen redlichen Vorsatz zu einer treuen Erfüllung derselben segnen wolle!

Andere Bestimmung, andere Pflichten; andere Pflichten, andere Geistes- und Herzensbedürfnisse. Die Sittenlehre der Kindheit kann dir jetzt nicht[4] mehr genügen. Der Gesichtskreis deines Lebens hat sich auf einmahl stark erweitert; tausend neue Verhältnisse, tausend neue Gegenstände des Wissens und des Empfindens, eben so viele neue Arten von Pflichterweisungen – ach! und eben so viele neue Klippen für deine junge Tugend – ach! und eben so viele furchtbare Strudel, welche das Glück deines Lebens auf immer verschlingen könnten, schließt dieser erweiterte, dir noch fremde Gesichtskreis ein. Komm, komm, mein theures Kind, und ergreife diese väterliche Hand, daß sie dich auf eine Anhöhe führe, von wannen du dis neue Ganze mit allen seinen labyrintischen Krümmungen und Verwickelungen überschauen, jede dir drohende Gefahr erkennen, und die sichern Pfade, auf denen du ihnen ausweichen kannst, bemerken wirst!

Siehe, dieses Buch ist jene Anhöhe! Ich schrieb es unter lauten Herzensschlägen, und ich weiß, daß auch du es nicht ohne reges Gefühl und nicht ohne warmen Herzensdank gegen die Vorsehung, die dich dadurch belehren läßt, wirst lesen können. Ich schrieb meine besten Beobachtungen über die weibliche Bestimmung und meinen besten Rath über die Art und Weise darin nieder, wie diese Bestimmung erreicht werden kann und muß. Ich schrieb's, ungeachtet ich noch bei dir war und von Angesicht zu Angesicht mit dir reden konnte, damit es ein Denkmahl meiner[5] Liebe und Treue auf die Tage bliebe, da ich, abgerufen von unserm Allvater, nicht mehr bei dir sein und nicht mehr von Angesicht zu Angesicht mit dir werde reden können. Dann vertrete dieses Buch die Stelle deines Vaters, dessen Geist und Herz sich hier in jede Zeile ergossen; und du, mein gutes Kind, gehorche der Stimme des Buchs, wie du, könnte ich immer bei dir bleiben, meiner eigenen Stimme gehorchen, meinen eigenen Rath beständig ehren würdest.


Bis hieher wandeltest du an der Hand deiner Eltern. Geleitet durch ihre Liebe und Erfahrung, durftest du nicht erst fragen: wohin führt ihr mich? Du durftest vielmehr voraussetzen und überzeugt sein, daß das Ziel, wohin wir dich führten, ein gutes, der Weg, auf den wir dich leiteten, der rechte wäre. Du lebtest bis dahin in uns, wie wir für dich.

Jetzt heben funfzehn, nun bald zurückgelegte Jahre dich allmählig in die Rechte und in die Pflichten der eigenen Selbständigkeit. Die Zeit ist also da, daß du mit eigenen Augen sehen, mit eigenem Verstande urtheilen, mit eigenen Kräften dahin streben mußt, wo das Ziel deines Daseins hienieden für dich aufgesteckt ist. Aber welches ist dieses Ziel, und welches ist der Weg, auf den du sicher und ohne Gefahr, dich zu verirren, dahin gelangen kannst?[6] Siehe, mein Kind, das sind die beiden wichtigen Fragen, welche dein Nachdenken von nun an vor allem andern beschäftigen müssen. Ich will dir, nach meinem besten Vermögen, dabei behülflich sein.

Quelle:
Campe, Joachim Heinrich: Vaeterlicher Rath für meine Tochter. Braunschweig 1796 [Nachdruck Paderborn 1988], S. 3-7,15-16.
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