Ich habe dir, mein liebes Kind, die Zwecke deines menschlichen Daseins enthüllt; ich habe dir das hohe und würdige Ziel gezeigt, welches dein Schöpfer für dich und deine Schwestern insbesondere aufgesteckt hat; ich habe dir den Weg dahin gewiesen, und dir treulich kund gethan, wie du dich darauf vorbereiten und was du mit dir nehmen mußt, wenn du den Lauf vollenden und des Kranzes, der am Ziele hängt, theilhaftig werden willst. Was kann ich nun noch weiter für dich thun?

Dieses: du wirst und sollst den Lebensweg nicht einsam gehen. Viele Millionen gleichzeitiger Menschen wallen mit dir zugleich auf ihm. Einige eilen voran, Andere folgen; Einige durchkreuzen rechts, Andere links den Weg, und du wirst mit ihnen ins Gedränge kommen; Einige werden deine unmittelbaren Gefährten, bald auf kürzere, bald auf längere Zeit sein.

Es ist dir wichtig, mein Kind, schon jetzt zu[263] erfahren, wie diese Mitreisenden geartet sind; was du von ihnen zu erwarten – zu hoffen oder zu fürchten hast, und wie du dich gegen sie benehmen mußt, um das wenigste Ungemach von ihnen zu leiden, und vielmehr aus ihrer Gesellschaft den möglich größten Vortheil zu ziehen. Und siehe! das ist es, worüber du nun noch meinen Rath bedarfst, den ich, nach meinem besten Vermögen, dir zu geben bereit bin.


Das große, über den ganzen Erdball verbreitete Menschengeschlecht macht nur eine einzige Familie aus. So verschieden daher auch die einzelnen Glieder derselben an Gestalt, Kleidung, Sitten, Fertigkeiten, Aufklärung und Denkungsarten immer sein mögen: so haben sie doch alle – vom ausgebildetsten Europäer an bis zum rohesten Feuerländer hinab – gewisse Familienzüge mit einander gemein, welche Zeit, Ort, Luftbeschaffenheit, Erziehung, Sektengeist, Regierungsform und was noch sonst etwan auf die Ausbildung der Menschen mächtig einzuwirken pflegt, bei Keinem ganz verwischen konnten. Diese, allem, was Mensch heißt, gemeinschaftlichen Züge aufzufassen, muß, wenn es uns um Menschenkenntniß zu thun ist, unsere erste Sorge sein. Sind wir hiemit zu Stande gekommen, so muß es uns zweitens vorzüglich wichtig sein, das Eigenthümliche derjenigen Menschenklassen auszuspähn, zu denen wir entweder selbst gehören, oder mit[264] denen wir wenigstens in näherem Verhältniß als mit andern stehn. Endlich müssen wir die kleinere Anzahl derer zu erforschen suchen, welche sich durch hervorstechende Eigenthümlichkeiten auszeichnen; an denen alles schärfer gezeichnet ist, bestimmter hervorspringt und stärker in die Augen fällt, als bei den Alltagsmenschen. Jemehr wir hiezu Gelegenheit hatten, jemehr uns Menschen mit unterscheidenden Eigenheiten vorkamen, je näher wir bei ihnen standen, und je länger und aufmerksamer wir ihr Eigenthümliches zu erforschen suchten: desto leichter wird uns nachher die Beurtheilung der weit größern Menge gemeiner Menschenseelen, deren Abweichung von einander nur in unbedeutenden Verschattungen besteht.

Ich will nun versuchen, wie weit ich dir, aus dem kleinen Vorrathe meiner eigenen Menschenbeobachtungen, zu dem Einen, wie zu dem Andern behülflich werden kann. Aber freilich wird deine eigene Wahrnehmung nachher das Beste dabei thun müssen. Denn so wie man durch Landkarte und Buch, ohne eigene Reisen, keine anscheuende und vollständige Länderkenntniß erwirbt: so kann man durch bloße Beschreibungen Anderer keine, nur einigermaßen vollkommene Menschenkenntniß erlangen. Dazu werden nothwendig eigener Umgang und eigene Beobachtung erfodert. Aber so wie es, bevor man selbst auf Reisen geht, nöthig und nützlich ist, sich mit der Lage der Länder[265] und Oerter und mit den Eigenthümlichkeiten derselben, in Hinsicht auf ihre natürliche und bürgerliche Beschaffenheit, erst durch länderbeschreibenden Unterricht bekannt zu machen: so ist es auch nöthig und nützlich, daß der junge Weltbürger und die junge Weltbürgerinn, bevor sie den bedenklichen Schritt in das größere menschliche Leben thun, sich erst diejenigen Beobachtungen über Menschen zu Nutze machen, welche Andere vor ihnen anzustellen und zu sammeln Gelegenheit hatten. Hier hast du nun die meinigen.

Quelle:
Campe, Joachim Heinrich: Vaeterlicher Rath für meine Tochter. Braunschweig 1796 [Nachdruck Paderborn 1988], S. 260,266.
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