Sechste Wahrnehmung.

[298] Alle Menschen haben einen Hang zur Sinnlichkeit, d.i. eine Neigung zu angenehmen und eine Abneigung von unangenehmen Empfindungen, nur daß sie in Ansehung der Gegenstände dieses Hanges und der Art und Weise, wie sie demselben ein Genüge zu thun suchen, wieder sehr verschieden sind. Ob es jemahls Menschen gegeben habe, welche, entweder aus natürlicher Trägheit oder aus Weisheit, aller Sinnlichkeit abgestorben waren, weiß ich nicht; wol aber weiß ich, daß mir selbst unter allen den[298] Tausenden von Menschen, die ich näher zu beobachten Gelegenheit hatte, eine solche Ausnahme von der Regel niemahls vorgekommen ist; und daß, wenn es je dergleichen gab, sie in einer Person Statt haben mußte, welche entweder Klotz oder Engel war, also nicht weiter zu unserm Geschlecht gehörte. Denn so lange wir Menschen sind, haben wir einen gegen angenehme und unangenehme Eindrücke empfindlichen Körper und eine Seele, welche nicht umhin kann, jene mit Wohlgefallen, diese mit Mißfallen wahrzunehmen, sich nach jenen zu sehnen, diese zu verabscheuen. So wollte es der, dessen weise Schöpferhand des Menschen Leib und Seele in jene innige Verbindung brachte, vermöge welcher eine gegenseitige Theilnahme an den in bei den vorgehenden Veränderungen unvermeidlich wäre.

Hieraus erhellet denn auch schon von selbst, daß jener Hang zur Sinnlichkeit, weil er etwas Angebornes ist, an und für sich selbst nichts Böses sein könne. Die Neigung zu angenehmen sinnlichen Empfindungen und die Abneigung von unangenehmen gehören vielmehr so wesentlich zu unserer Bestimmung hienieden, sind ein so unentbehrliches Mittel zu unserer Erhaltung, Ausbildung und Veredelung, daß wir uns derselben keinesweges zu schämen haben. Nur dann erst fangen sie an, für uns und für Andre schädlich zu sein, wenn sie leidenschaftlich werden, wenn sie[299] das Uebergewicht über die Vernunft erhalten, und uns dann zu Unordnungen, Unmäßigkeiten und Ausschweifungen dahin reißen. Und das ist leider! der Fall, worin die meisten Menschen sich befinden.

Ein sehr großer Theil von ihnen setzt beinahe seine ganze Glückseligkeit in den durch wohlschmeckende Speisen und Getränke bewirkten Kitzel des Gaumens und der Zunge. Ein zweiter hat für die feineren Genüsse, welche die Künste der Ueppigkeit für jeden Sinn bereiten, einen, alle andere Bewegkräfte überwiegenden Hang, von dem er sich beherrschen läßt. Ein dritter Theil fröhnt der Wollust, welche ihn für jedes edlere, recht eigentlich menschliche Vergnügen abstumpft, und ihn am Ende mit einem ausgemergelten, siechen Körper, mit geschwächten Seelenkräften, mit einem beunruhigten Gewissen und mit einem frühern Tode lohnt, als die Natur für ihn bestimmt hatte. Ein vierter liebt vor allem das körperliche Wohlbehagen der Ruhe, und ein fünfter, das gerade Gegentheil von jenem, fühlt ohne Unterlaß ein Bedürfniß zur Bewegung, zur Ortsveränderung und zur Verwechselung der sinnlichen Gegenstände, um die lästige Leere seines Kopfes und Herzens mit neuen Bildern und mit neuen Empfindungen auszufüllen.

So äußert sich der Trieb zur Sinnlichkeit bei dem Einen auf diese, bei dem Andern auf jene Weise.[300] Er liegt bei allen unsern Leidenschaften zum Grunde: äußert sich bei allen unsern Neigungen und Abneigungen, mischt sich in alle unsere Geschäfte, in alle unsere Vorstellungsarten, sogar in unsere Philosophie und in unsern Glauben. Er ist eine der allgemeinsten und mächtigsten Triebfedern in der menschlichen Natur.

Auch diese Wahrnehmung ist reich an Folgen, die eben so viele Verhaltungsregeln darbieten, die wir vor Augen haben müssen, wenn wir auf die Menschen und durch die Menschen mit glücklichem Erfolge zu wirken wünschen. Ich will hier nur zwei der allgemeinsten davon anführen, welche unter allen für die Ausübung am wichtigsten sind, und aus denen die übrigen sich von selbst ergeben. Die erste: der Verstand des Menschen ist nie offner für Ueberzeugungsgründe und das Herz desselben nie ein drucksfähiger und lenksamer, als in den Augenblicken, da seiner Sinnlichkeit geschmeichelt wird. In diesen glücklichen Augenblicken, die der Menschenkenner zur Erreichung guter Absichten zu benutzen weiß, kann man ihm Ueberzeugungen beibringen, gegen welche seine Vorurtheile zu jeder andern Zeit sich gar mächtig sträuben würden, kann man ihn zu Handlungen bewegen, denen seine Trägheit oder seine sonstigen Lieblingsneigungen zu jeder andern Zeit unüberwindliche Hindernisse in den Weg gelegt[301] haben würden. Die zweite: ohne alle Bewegungsgründe von Seiten der Sinnlichkeit handelt Keiner. Wo also diese fehlen, wo man nicht im Stande ist, sie herbei zu führen, wo sogar entgegengesetzte sinnliche Bewegungsgründe von dem, was durch Menschen geschehen soll, ablenken: da erwarte man nichts von ihnen, wenigstens nichts, was Mühe, Anstrengung, ausdauernde Geduld und Aufopferungen kostet. Die Richtigkeit dieser beiden Bemerkungen wird von allen Menschenbeobachtern anerkannt und bestätiget.

Quelle:
Campe, Joachim Heinrich: Vaeterlicher Rath für meine Tochter. Braunschweig 1796 [Nachdruck Paderborn 1988], S. 298-302.
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