Vierzehnte Wahrnehmung.

[329] Alle diese Menschen urtheilen in den meisten Fällen nicht nach innern und wesentlichen Kennzeichen des Wahren und Guten, sondern lediglich nach dem äußern Scheine, nach der in die Augen fallenden Oberfläche der Dinge. Der diesen Leuten noch mehr, als Andern, eigene Hang zur Bequemlichkeit, und die ihnen zur Gewohnheit gewordene leichte und flüchtige Art zu denken, verbunden mit den endlosen Zerstreuungen ihrer Lebensart, machen es ihnen unmöglich mit ihrer Urtheilskraft in die Natur der Dinge einzudringen, etwas mit ruhiger und anhaltender Aufmerksamkeit zu untersuchen und so die Wahrheit bei ihrem eigenthümlichen Lichte zu erkennen. Sie begnügen sich daher in den meisten Fällen, dasjenige, worüber sie urtheilen wollen, nur nach dem äußern Ansehn vor das Seelen-auge zu bringen, und es dann hurtig an den Prüfstein ihrer Vorurtheile oder auch gewisser angeblicher Grundsätze zu[329] halten, die, weil es ihnen an den gehörigen Bestimmungen fehlt, entweder nur halb wahr, oder ganz falsch, dabei nur aufgefangen, nicht erkannt und nicht gegründet sind.

Hiezu kommt noch dieses: da die ganze Kunst der feinen Lebensart darin besteht, den innern Menschen mit allen seinen Un-arten, Leidenschaften und Mängeln zu verbergen, und dagegen Empfindungen, Gesinnungen und Vollkommenheiten zu lügen, welche man selbst nicht in sich fühlt: so hat man, durch unablässiges Streben nach dieser Kunst, von früher Jugend an sich gewöhnt, seine ganze Aufmerksamkeit bei sich und Andern bloß auf das Aeußere zu richten und bei allem, was man redet und thut, nur auf den Eindruck zu sehen, den die Worte und Handlungen jedesmahl auf Andere machen können. Soll man über etwas sein Urtheil fällen, so ist die Frage, – nicht ob das, was man bejahen oder verneinen will, wahr oder unwahr sei? – sondern: ob die Bejahung oder Verneinung desselben die vortheilhafteste Meinung von uns erwecken, den gegenwärtigen Personen, besonders der Hauptperson unter ihnen, am meisten gefallen werde? Soll man sich entschließen, etwas zu thun oder nicht zu thun: so bekümmert man sich um das, was Pflicht und Gewissen von uns fodern, in der That am wenigsten; die einzige große, alles entscheidende Frage ist nur: was die Leute in dem einen und[330] in dem andern Falle von uns denken und sagen würden? Auch die Worte und Handlungen anderer Menschen werden auf eben diese falsche Wage gelegt, und nicht nach ihrem innern Gehalte, sondern lediglich nach ihrem äußerlichen Scheine und nach dem, was man davon sagen wird, gewürdiget. Klug und weise ist – nicht wer einen aufgeklärten Verstand mit einem wohlwollen den Herzen verbindet – sondern wer seine Gesellschaft am witzigsten und angenehmsten zu unterhalten und seine Worte und Handlungen jedesmahl so zu stellen weiß, daß sie mit den herrschenden Meinungen und Vorurtheilen übereinstimmen. Gut und edel heißt – nicht wer bei allem, was er thut, die Grundsätze einer strengen Rechtschaffenheit vor Augen hat – sondern wer den Leuten am feinsten Sand in die Augen zu streuen, seine selbsüchtigen Absichten am geschicktesten zu bemänteln, durch glatte Worte und Schmeicheleien sich jedermann zu verbinden und am besten auf Gelegenheiten zu lauern weiß, mit solchen Handlungen zu prunken, welche für edel gehalten werden, ungeachtet sie oft nicht einmahl gerecht oder pflichtmäßig sind.

Das Schlimmste dabei ist, daß ein Jeder von diesen Leuten seine eigene Art zu denken und zu handeln mit der größten Zuversicht auch bei Andern voraussetzt. Weil nun Jeder von ihnen sich bewußt ist, daß er bei allen seinen Reden und Handlungen, nicht[331] die ehemahls erlernten, aber bald darauf wieder in den Wind geschlagenen Grundsätze der Religion und Tugendlehre, sondern lediglich die Behauptung des äußern Scheins eines rechtschaffenen und edlen Wesens, bei einer oft ganz entgegengesetzten Gesinnung, vor Augen habe: so trägt er auch nicht das mindeste Bedenken, von sich auf Andere zu schließen, und seine eigene Denkungsart für die allgemeine zu halten. Daher kommt es denn, daß solche an Geist und Herzen oberflächliche Menschen, für eine wahre und strenge Rechtschaffenheit, welche nicht auf das: was wird man davon sagen? sondern lediglich auf das, was recht und pflichtmäßig ist, ihre Auge heftet, mehr oder weniger den Glauben und den Sinn verloren haben. Eine harte, aber allen meinen Erfahrungen nach, leider! nur gar zu gegründete Beschuldigung! Um sich von der Wahrheit derselben zu überzeugen, versuche man es nur, eine aus reiner Gewissenhaftigkeit und ohne Hinsicht auf eigenen Nutzen und auf das Urtheil der Menschen verrichtete Handlung, welche von der gewöhnlichen menschlichen Handlungweise abweicht, zum Gegenstande des Gesprächs zu machen, und gebe Acht, wie man sich darüber äußern wird! Ich will auf alle Kenntniß der Menschen dieses seinen Schlages zum voraus Verzicht gethan haben, wenn man über eine solche Handlung nicht nach Herzenslust lächeln und spötteln, wenn man die reinen sittlichen Bewegungsgründe, welche dabei zum Grunde[332] lagen, fassen und anerkennen, wenn man ihr nicht entweder anderweitige selbstsüchtige und niedrige Absichten unterschieben oder wenigstens – sie für einen dummen Streich erklären wird.

Quelle:
Campe, Joachim Heinrich: Vaeterlicher Rath für meine Tochter. Braunschweig 1796 [Nachdruck Paderborn 1988], S. 329-333.
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