Zwanzigste Wahrnehmung.

[354] Alle diese Leute sind nun auch, in der Regel wenigstens, in jedem Betracht sehr veränderliche Menschen; veränderlich in ihrer Gemüthsstimmung, in ihrem Geschmacke, in ihrem Urtheile, in ihrer Freundschaft und in ihren Beschäftigungen. Ihr geschwächter und verzärtelter Körper empfindet den Einfluß jeder Lustveränderung,[354] und der jedesmahlige Zustand ihrer Nerven bestimmt zugleich, wie natürlich, ihren eben so wandelbaren jedesmahligen Gemüthszustand. Sie sind daher heiter oder übellaunig, je nachdem der Himmel klar oder trübe ist. Schon dis allein veranlaßt denn auch eine große Veränderlichkeit ihrer Urtheile, wie ihrer Neigungen und Abneigungen. Was ihnen gestern, bei guter Laune, schön, oder wahr, oder gut zu sein schien, das kommt ihnen heute, bei übler Laune, nicht selten häßlich, falsch und böse vor. Wen sie gestern mit ihrer Freundschaft oder mit ihrem Wohlwollen beehrten, der wird ihnen heute vielleicht schon unausstehlich sein. Aber die Empfindlichkeit und Schwäche ihres Körpers ist bei weiten nicht die einzige Ursache dieser auffallenden Veränderlichkeit. Ein großer Theil derselben muß vielmehr dem herrschenden Leichtsinne und der oberflächlichen Art zu empfinden, zu denken und zu urtheilen, beigemessen wer den, welche, wie wir oben bemerkt haben, dieser Menschenart vorzüglich eigen sind. Wie können Geschmack, Urtheil und Neigungen, die ihre Entstehung nur einer vorübergehenden Laune, einer flüchtigen Wahrnehmung, einem augenblicklichen Einfalle verdanken, dauerhaft sein und in bleibende Gesinnung übergehn? Dis steht nicht zu erwarten; geschieht auch wirklich nicht.

Kannst du es also künftig nicht vermeiden, mit Menschen dieser Art – und ich hoffe nicht nöthig[355] haben, dir noch einmahl zu sagen, was für welche ich hier meine – in Verbindung zu gerathen; hast du bei deinen ersten Zusammenkünsten mit ihnen das Glück einen vortheilhaften Eindruck auf sie zu machen, und überhäufen sie dich dem zufolge mit Versicherungen ihres Beifalls und ihres Wohlwollens: so nimm, rathe ich, diese, vielleicht wirklich so gemeinten, vielleicht aber auch ganz ohne Empfindung ausgesprochenen Versicherungen doch ja nicht gleich für baare Münze an, die du zu Hauptgeld (Kapital) schlagen könnest, um Zinsen davon zu genießen. Laß sie vielmehr vor der Hand und bis zur nächsten Erfahrungsprobe auf ihrem Werthe oder Unwerthe beruhen, und indem du sie mit Dankbarkeitsbezeugungen annimmst, so gründe keine stärkere und lebhaftere Hoffnungen darauf, als du etwan auf ein dir geschenktes Loos einer Lotterie gründen würdest, in welcher zwanzigmahl mehr Fehlzüge als Treffer wären. Deine eigenen künftigen Erfahrungen hierüber werden, glaube ich, auch diesen meinen Rath vollkommen bestätigen.


Bis hieher habe ich von dem verderbtern Ausschusse her großen Welt geredet: was ich nun hinzufügen werde, das gilt von dem bessern Theile dieser Menschenklasse, der – zur Ehre unserer Zeiten sei's gesagt! – jetzt wirklich zahlreicher und zugleich, im[356] Ganzen genommen, helldenkender, verständiger, sittlicher und edler ist, als man ihn vielleicht je gesehen hat. Unsere Fürsten und Fürstinnen, sind in eben dem Maße, in welchem sie an der allgemeinen Aufklärung Antheil nahmen, und Geist und Herz durch nützliche Kenntnisse bildeten, mild, leutselig, herablassend und – was noch viel mehr sagen will, menschlich und gut geworden. Unser Adel, durch dis Beispiel gereizt und durch den Wunsch, ihnen zu gefallen, angefeuert, hat gleichfalls angefangen unter sich zu wetteisern, wer den Andern an gemeinnützlichen Kenntnissen und Geschicklichkeiten, an aufgeklärter und menschlicher Denkungsart, an billiger Schätzung jegliches Verdienstes und an Herabstimmung der ehemahligen ungeheuern Ansprüche dieses Standes den Vorschritt angewinnen könne. Seit dieser glücklichen Veränderung, hat der Ton und der Geist, welche dadurch in die feinere und höhere Gesellschaft eingeführt worden sind, sich so merklich umgestimmt und veredelt, daß der Mann und die Frau von Verstand und Herz sich in manchem Betracht ganz wohl darin befinden, und die Theilnahme an solchen Zusammenkünften nicht mehr, wie ehemahls, für einen Herrendienst halten, dessen sie gern entübriget geblieben wären. Aber so sehr ich auch den Vorzug unserer Zeiten in diesem, wie in so manchem andern Betracht, willig anerkenne, und so sehr ich die vielen würdigen und edlen Menschen, die ich in den höhern Ständen kennen zu lernen das[357] Glück hatte, aufrichtig verehre: so muß ich dir doch, aus mehr als Einem Grunde, rathen, dich auch den Würdigsten und Edelsten unter ihnen niemahls anzudrängen, sondern vielmehr ihre zuvorkommende Herablassung zwar mit Dankbarkeit, aber auch mit bescheidener Zurückhaltung zu erwiedern. Denn erstens würden die Leute deines eigenen Standes, an deren Freundschaft und Wohlwollen dir doch immer am meisten gelegen sein muß, weil du ihrer am wenigsten entbehren kannst, dir eine solche Absonderung von ihnen und ein solches Hindrängen in die Kreise der Höhern nie vergeben; zweitens würden diese Höhern selbst, sobald sie irgend eine Zudringlichkeit von deiner Seite bemerkten, ihre Herablassung und Güte gar bald in Spott und Geringschätzung verwandeln; und endlich drittens würde dein sittlicher und bürgerlicher Werth, so wie deine wahre häusliche Glückseligkeit, dabei allemahl verlieren, weil du, in diesem Falle nicht leicht vermeiden würdest, manches von den Eigenthümlichkeiten, den Sitten und der Lebensart der Großen anzunehmen, die zwar für die Großen selbst ganz schicklich, anständig und gut sein mögen, an Personen bürgerlichen Standes hingegen unschicklich, lächerlich und schädlich sind. Jeder Stand hat sein Eigenthümliches, und soll es haben. So lange es also eine Verschiedenheit der Stände gibt, geziemt es sich für Jeden, sich an dem zu halten, was nach dem Beispiele und dem Urtheile der Besten seines[358] eigenen Standes sich für ihn gebührt. Und so wie wir daher es lächerlich und verderblich finden würden, wenn die Frau und Tochter des Schusters, sich wie die Frau und Tochter des Raths kleiden, geberden und in ihrem Hauswesen sich einrichten wollten: so müßte jeder verständige Beobachter es auch eben so lächerlich und verderblich finden, wenn diese Letzten die Kleidung, Sitten und Lebensart der Frau und Tochter des Ministers nachäfften. Dis ist für sich selbst so klar und einleuchtend, daß ich nicht nöthig finde, mich länger dabei aufzuhalten.


Bevor ich nun dazu schreite, die Klugheitsregeln, welche aus den obigen allgemeinen und besondern Wahrnehmungen über die Menschen leicht hergeleitet werden können, auszuzeichnen, muß ich, scheint es, dich erst noch mit einigen abstechenden menschlichen Gemüths-arten bekannt machen, deren Eigenthümlichkeiten eine besondere Aufmerksamkeit verdienen. Um aber hiebei nicht ins Unendliche auszuschweifen, werde ich auf die Schilderung einzelner Urmenschen, welche nirgends ihres Gleichen haben, Verzicht thun, und mich bloß auf solche, sich von Andern unterscheidende Gemüths-arten einschränken müssen, deren Anzahl noch immer groß genug ist, um für eine besondere Klasse von Menschen gelten zu können. Aber auch[359] in Ansehung dieser brauche ich, dem Zwecke dieser Schrift gemäß, dich nur mit solchen bekannt zu machen, in deren Wesen und Betragen etwas Täuschendes ist, wodurch der Neuling leicht geblendet und hintergangen werden kann. Und um die Zahl der nachher auszuzeichnenden Klugheitsregeln nicht ohne Noth zu sehr zu vervielfältigen, will ich das, was Vernunft und Erfahrung uns in Ansehnung dieser besondern Menschenklassen rathen, sogleich bei der Beschreibung, die ich von jeder derselben insbesondere geben werde, jedesmahl mit berühren.

Quelle:
Campe, Joachim Heinrich: Vaeterlicher Rath für meine Tochter. Braunschweig 1796 [Nachdruck Paderborn 1988], S. 354-360.
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