5) Der Sittenprediger.

[72] Man werfe sich nie zum Tadler der Sitten und Gebräuche der Gesellschaft auf, denn es könnte dadurch leicht[72] der Glaube erweckt werden, man sähe wohl den Splitter im Auge des Nächsten, aber nicht den Balken im eigenen.

Man brüste sich nie zu sehr mit seiner Tugend, sonst reizt man zu einer genauern Untersuchung an, wie es damit beschaffen sei, und diese Prüfung könnte leicht zu unserem Nachtheil ausfallen. Niemand spricht mit größerem Enthusiasmus von Reichthümern, als der, welcher nicht einen Groschen im Vermögen besitzt.

Man sei verschwiegen und nachsichtig in Beziehung auf die Fehler Anderer, wenn man für die eigenen Verzeihung zu erlangen wünscht.

Man ziehe Vortheil aus dem Sprichwort: Die besten Prahler sind die schlechtesten Zahler.

Man halte sich überzeugt, daß die, welche sich unsern Rath erbitten, nur eine Zustimmung zu ihrer eigenen Ansicht erwarten, und daß jeder Widerspruch gegen dieselbe sie sehr unwillig machen würde.

Man mische sich nicht in die Angelegenheiten Anderer, wenn man will, daß Andere sich nicht in die unsrigen mischen.

Was wir über den Heuchler sagten, findet auch auf den Sittenrichter seine volle Anwendung.

Quelle:
Fresne, Baronesse de: Maximen der wahren Eleganz und Noblesse in Haus, Gesellschaft und Welt. Weimar 1859, S. 72-73.
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