Elftes Kapitel.
[131] Reise nach Stuttgart. – Meine Reisegefährtin. – Der König von Württemberg. – Eßlair. – Die Catalani. – Hummel. – Ein Auferstandener. – Heimkehr. – Meines Vaters Pensionierung. – Goethes Rücktritt.

Die Zeit war nun herangekommen, wo sich meine Stimme mehr entwickelt und den Klang eines Bariton angenommen hatte. Um sie tüchtig auszubilden, wurde beschlossen, mich einem anerkannten auswärtigen Meister zu übergeben. Goethes Plan war, mich nach Italien zu schicken, mein Vater widerstrebte dem aber aufs entschiedenste, da er nicht hinreichende Mittel besaß, eine so kostspielige Reise zu bestreiten.

Nach reiflicher Erwägung schrieb mein Vater nach Stuttgart an den Kammersänger Wilhelm Häser, der als trefflicher und durch und durch gebildeter Musiker allgemein bekannt war; von diesem erhielt er eine freundliche Zusage, und so wurde meine Abreise nach Stuttgart auf Anfang Juli 1816 festgesetzt.

So sollte ich denn zum erstenmal das väterliche Haus auf längere Zeit verlassen und allein in eine mir ganz fremde Umgebung treten; etwas bänglich war mir allerdings zumute, aber mein Herz jauchzte doch auf bei dem Gedanken, fremde Täler und Berge kennen zu lernen.[131]

Da ich zu dem Korps der Landsturmmänner gehörte, wurde natürlich die Uniform mitgenommen, um in der Fremde zu den Vaterlandsverteidigern gezählt zu werden. Samtkragen und Aufschlägen wurden einige goldene Litzen, dem mächtigen Säbel ein goldenes Portepee beigefügt, und der Offizier war fertig.

Meinen Freunden und Bekannten sagte ich flüchtig Lebewohl; Goethe hatte mich wohlwollend mit einem Empfehlungsbrief an Cotta entlassen. Mit einem unbeschreiblichen Wehgefühl riß ich mich aus den Armen meiner Mutter; mein Vater und Schwager begleiteten mich zur Post, wo wir mit einem herzlichen Kuß und Händedruck schieden und ich die prächtige fürstlich, Thurn- und Tiris'sche Postkarosse, die mit großer Umsicht für die Bequemlichkeit der Passagiere eingerichtet war, bestieg.

Auf zwei mit Kuhhaaren gepolsterten, mit Leder überzogenen Bänken, die in Riemen hingen, konnten sechs Personen bequem Platz nehmen, wenn nämlich ihr Hüftenumfang das Maß von je fünfzehn Zoll nicht überstieg. Der Wagen war lang gestreckt, damit im Hintergrunde desselben das Gepäck aufgenommen werden konnte; wenn umgeworfen wurde, lief man weniger Gefahr, den Hals zu brechen, als von Koffern und Kisten totgeschlagen zu werden. Das Gerippe des Verdecks war mit Segeltuch überzogen und äußerlich mit gelber oder auch grüner Ölfarbe angestrichen. Dieser Lurus wurde aber nur auf den Hauptstraßen entfaltet. Auf den Nebenstationen waren die Fuhrwerke weniger glanzvoll; sie bestanden aus Leiterwagen, auf denen zwei Bretter mit Ketten befestigt waren, und obdachlos fuhren die armen Passagiere dahin. Wenn nun so ein Unglücklicher ins Wirtshaus kam und erschöpft und halbtot auf den nächsten Stuhl hinsank, fragte der Wirt gewöhnlich: »Sie sind gewiß mit der ordinären Post gefahren? Ja, ja, das ist schrecklich! Da[132] sind die neuerfundenen Gefängnisse mit den scharfen Latten nichts dagegen.«

Um vier Uhr nachmittags setzte sich unsere Fahrmaschine in Bewegung und wir erreichten glücklich nach neun Uhr Erfurt, ein Weg, den ein leidlicher Fußgänger in vier Stunden zurücklegt; indessen tröstete ich mich mit dem Sprichwort: »Besser schlecht gefahren als gut gegangen.«

Der Weg wurde mir aber doch nicht lang, denn mir gegenüber saß ein sehr hübsches Mädchen, das vielleicht einige Jahre mehr zählte als ich; und da Schüchternheit nicht zu meinen Haupttugenden und ich nicht zu den Menschen gehörte, die wie murrende Kater in der angenehmsten Gesellschaft dasitzen können, so eröffnete ich sehr bald ein Gespräch mit dem lieblichen Schwarzkopf, und unsere Unterhaltung wurde im Verlauf unserer gemeinsamen Reise, die sich wider Erwarten noch über Würzburg hinaus fortsetzte, so innig und lebhaft, daß man uns hätte für Liebesleutchen halten können. Doch blieb ihr Benehmen so jungfräulich und sittsam wie vorher, und erst auf langes Bitten gewährte sie mir kurz vor Mergentheim einen Kuß. Dort hatte sie, anstatt in Würzburg, wie ihr versprochen worden war, eine Stelle als Wirtschafterin in einem Gasthof erhalten.

Obgleich der Kutscher in dem Gasthof, wo sie als Wirtschafterin künftig walten sollte, Mittagsrast hielt, nahmen wir doch, ehe wir dort vorfuhren, mit tiefer Betrübnis voneinander Abschied. Bei ihrer Ankunft wurde sie vom Wirt, der ein angehender Vierziger sein konnte, freundlich empfangen. Ich hatte so viel Takt, dem Mädchen oberflächlich Adieu zu sagen, was sie mir mit einem innigen Blick dankte.

Der Herr Wirt, welcher ein recht ehrlich schwäbisches Gemüt zu sein schien, war sehr rührig und gesprächig bei Tische, und so erfuhr ich denn auch, daß er Witwer sei; dadurch wurden allerhand Gedanken in mir wach, die mich[133] sehr verdrießlich machten. Ehe das Mittagsmahl geendet war, stand ich auf und durchspähte alle Räume des Flurs in dem festen Glauben, daß sie ebenfalls Gelegenheit nehmen würde, mich nochmals zu sehen, jedoch vergebens. Voll Unmut bestieg ich den Wagen, nahm aber meinen Platz rückwärts, um das Haus im Auge zu behalten und die Fenster beobachten zu können, denn ich konnte mir gar nicht denken, daß sie mich so teilnahmlos dahinziehen lassen würde. Und ich hatte mich nicht getäuscht. Im zweiten Stock öffnete sich ein Fenster, das wahrscheinlich zu ihrem Stübchen gehörte, und weinend sah das liebe Mädchen auf mich herab, mir zunickend und Kußhände zuwerfend, wie ein Kind an der Landstraße, das wir gemeinsam beschenkt hatten; ich tat das gleiche und rief ihr zu: »Auf Wiedersehen bei meiner Rückreise!« Ein Strahl der Freude flog über das liebliche Gesicht. Mein Weg in die Heimat zurück führte mich leider über Frankfurt, aber wir sollten doch im Leben noch einmal zusammenkommen, wenn auch unter ganz anderen Verhältnissen.

Als ich sechs Jahre später, 1822, von Leipzig mit meiner Frau und Schwägerin eine Kunstreise nach Stuttgart machte, ließ ich, da ich meiner Frau dies kleine Abenteuer aus meinem Junggesellenstand mitgeteilt hatte, den Postillon vor dem Gasthof in Mergentheim halten, um mich nach dem lieben Mädchen zu erkundigen, und fand sie als Frau Wirtin, Gattin und Mutter. Sie empfing mich mit einem Freudenschrei und gab mir vor ihrem Manne einen herzlichen Kuß. Jedenfalls hatte sie ihm unsere gemeinschaftliche Reise und mein Betragen dabei erzählt, denn auch er begrüßte mich mit großer Herzlichkeit.

Damals nach der Trennung fuhr ich mit bewegtem Herzen auf Stuttgart zu. Der Weiber von Weinsberg wurde nur im Vorbeifahren gedacht und in Heilbronn in der »Goldenen Sonne« übernachtet. Da wir frühzeitig dort ankamen,[134] besah ich mir den Turm, in dem man Götz von Berlichingen gefangen gehalten hat, ein kleines Kämmerchen, kaum sieben Fuß hoch, aber mit einer reizenden Aussicht auf den Neckar. Da hatte also vor ein paar hundert Jahren der Mann gesessen, dessen Namen Goethe mit unauslöschlichen Zügen in die Kunstgeschichte eingetragen hat. Den folgenden Tag besuchte ich auch das Rathaus und las den Absagebrief von Franz von Sickingen und den des Götz an die Ratsherren von Heilbronn. Beide Briefe hat Goethe in der Gerichtsszene seines Dramas benutzt.

Zwischen Ludwigsburg und Stuttgart rief mir der Kutscher zu: »Jetzt müsse Sie aussteige. Da kommt Sei Majeschlät der König!« Kuriose Zumutung, dachte ich; aber dennoch stieg ich aus und stellte mich, militärisch grüßend, parademäßig hin. Vier Garde-du-Corps ritten im scharfen Trabe voraus, dann folgte ein vierspänniger Wagen, worin Se. Majestät und, wie mir dann der Kutscher sagte, Graf Dillen saßen; an jedem Schlag ritt ein Offizier, und dann kamen wieder vier Garde-du-Corps. Als ich eben wieder einsteigen wollte, kam einer von den Offizieren herangesprengt. »Was ischt das für Uniform?« fragte er. – »Weimarsche Landsturmuniform,« erwiderte ich. – »Wie heiße Sie und wo komme Sie her?« – »Ich heiße Genast und komme von Weimar, habe mich dem Theater gewidmet und gehe jetzt nach Stuttgart, um bei dem Kammersänger Wilhelm Häser Unterricht im Gesang zu nehmen.« – »Das ischt recht! Grüß Gott!« und damit sprengte er von dannen. Wetter! das war kurz und bündig, dachte ich; aber die Folge dieses Zusammentreffens war, daß ich freies Theater, einen Platz, wenn Oper in Ludwigsburg war, in einem dahin fahrenden Hofwagen erhielt und bei den Hofkonzerten mich unter die Musiker mischen durfte.

Mein erster Gang in Stuttgart war zu meinem künftigen[135] Lehrer Häser. Er und seine treffliche Gattin nahmen mich so herzlich auf, daß ich bald wie zur Familie gehörte.

Vor allem zog mich das Theater an, denn mein Lehrer war als Sänger ganz vortrefflich und zudem ein gewandter Schauspieler, in Eßlair aber lernte ich einen dramatischen Künstler kennen, wie ich noch keinen gesehen. Dieses prachtvolle sonore Organ, diese imponierende Gestalt, diese Mimik und Plastik und die Harmonie, die das Ganze durchwehte, waren wahrhaft bezaubernd. Obgleich sehr tüchtige Kräfte neben ihm standen und mit ihm wirkten, so ragte doch Eßlair nicht allein körperlich, sondern auch künstlerisch über alle empor. Sein Wallenstein, Tell, Philipp im »Don Carlos«, Hugo in der »Schuld«, Kriegsrat Dallner, Otto von Wittelsbach und besonders in plastischer Hinsicht sein Metellus im »Regulus« werden mir unvergeßlich bleiben. Wenn er eine dieser Meisterrollen gespielt hatte, war ich von Entzücken und Bewunderung so hingerissen, daß ich mich gewöhnlich an die Tür hinstellte, wo er herauskommen mußte, und ihm dann wie ein junger Pudel nachlief, da ich es nicht wagte, ihn anzusprechen; und doch gehörte es zu meinen innigsten Wünschen, diesem großen Mann näher treten zu dürfen. Allein mein Lehrer wich meiner Bitte, mich ihm vorzustellen, immer aus. Endlich fand sich doch die Gelegenheit, wo er mein sehnliches Verlangen befriedigen konnte; aber wie ganz anders fand ich Eßlair als Menschen; als solcher machte er auf mich durch sein kühles, steifes Wesen sogar einen unangenehmen Eindruck. Mit einem stolzen Kopfnicken und ungeheurer Vornehmtuerei fragte er mich: »Sie sind ein Schüler Goethes?« Nachdem ich dies bejaht hatte, fuhr er fort: »Spielt Herr von Goethe noch immer Schach mit seinen Schauspielern?« Ich wußte gar nicht, was er meinte, und sah ihn fragend an. »Nun, ich meine, ob sie noch immer da stehen müssen, wo er sie hinstellt? Mich sollte er nicht matt machen! Als König[136] würde ich mich vor seinen Bauern in Sicherheit zu bringen wissen!« Nach diesen Worten nickte er wie vorher und wandte sich von mir ab. Ich stand ganz verblüfft da, denn diese Arroganz überschritt doch alle Grenzen. Dasselbe Betragen beobachtete er auch gegen seine Kollegen und machte sich dadurch nur Feinde. »Siehst du, mein lieber Eduard,« sagte Häser, »nun hast du außer dem großen Künstler auch den unliebenswürdigen Menschen kennen lernen. Ich habe darum mit dieser Vorstellung so lange gezögert, weil ich dir deine Illusion nicht nehmen wollte.« Aber als ich ihn wieder auf der Bühne sah, vergaß ich doch alle Impertinenz und Schroffheit.

Im Jahre 1816 war Eßlair noch frei von aller Manier und überließ sich seinem glücklichen Naturell, wodurch er stets das Rechte traf; alle seine Darstellungen waren von erschütternder Wahrheit. Erst in späteren Jahren, als er in Paris öfters das Théâtre français besucht und dort die schauerliche Unnatur, eine Rede bis zum höchsten Pathos zu steigern und dann die letzte Phrase tonlos herzuplappern, kennen gelernt hatte, war er verblendet genug, diese Fratze in seinen Meisterrollen anzuwenden.

Nicht weniger nachteilig war für ihn, daß einst ein alberner Rezensent, um sich selbst eine tiefe Urteilskraft beizulegen, von ihm schrieb: »Dieser große Meister spricht kein Wort, das er vorher nicht reiflich überlegt hat.« Dieser Ausspruch schmeichelte Eßlairs Eitelkeit so, daß er nun wirklich zu klügeln und zu deuteln anfing und dadurch die sonderbarsten Auffassungen zu Tage brachte, die von Tieck und anderen bedeutenden Männern mit Recht getadelt wurden.

Daß ich das Theater niemals versäumte, war ganz natürlich, aber ich war auch gewöhnlich der erste, der durch die Parterretüre schritt, um ja einen guten Platz zu erhalten. Sobald der König erschien, mußte sich das Publikum erheben.[137]

Das war ich zwar schon von Weimar aus gewohnt, daß sich beim Erscheinen der Herzogin Louise die Personen des ersten Rangs, des Parketts und Parterres erhoben, hier erstreckte sich diese Sitte bis auf den letzten Platz. Das gab denn allemal einen Heidenspektakel, der aber höchsten Orts, wie man mir sagte, nicht ungnädig vermerkt wurde.

Ein Schauspieler, der ausgezeichnete Komiker Vinzenz, war ein besonderer Liebling des Königs und durfte sich daher vieles auf der Bühne erlauben. Folgende Episode wurde mir von ihm erzählt.

Einst erhielt der König einen eiligen Brief in der Hofloge, den er rasch erbrach und las. Vinzenz, der mit einem Mitspieler auf der Szene eben in der Aktion war, bemerkt es, unterbricht die Handlung und stellt sich, den König fixierend, unter dessen Loge. Die Stille fällt dem hohen Herrn auf, er blickt hinab auf die Bühne und sieht in das dummlächelnde Gesicht von Vinzenz, der ihm ganz gemütlich zuruft: »Genieren sich Ew. Majestät nicht! Wir brauchen uns hier unten nicht zu übereilen und können warten!« Der König lachte von ganzem Herzen über seinen Spaßmacher und schickte ihm nach der Vorstellung ein Dutzend Flaschen Wein und 10 Gulden. Vinzenz war in seinem Fach sehr bedeutend, aber als Württemberger Kind hatte er einen geringen Gehalt, von dem er mit seiner Familie nur knapp leben konnte; aus diesem Grunde stellte er sich bei Jahrmärkten in die Bude seiner Frau, die Putzmacherin war, und pries mit allerhand Witz und Späßen deren Waren an.

Zu jener Zeit kam die Catalani nach Stuttgart und sang zunächst in einem Konzert bei Hof, dann gab sie ein gleiches im Theater, wo die Einnahme, die ihr unverkürzt gelassen wurde, 1000 Gulden betragen haben soll; außerdem erhielt sie vom König 400 Dukaten. In dem Hofkonzert spielte zum erstenmal auch Hummel, der als Kapellmeister engagiert[138] worden war. Da hatte ich das Glück, die zwei größten musikalischen Zelebritäten von ganz Europa zu hören. Mein Lehrer, der in dem Konzert nicht beschäftigt war, stand neben mir und äußerte sich ungefähr folgendermaßen: »Siehst du, das ist nun die weltberühmte Sängerin, die von der Natur dreizehn mächtige klangvolle Töne erhalten hat, vom unteren gestrichenen h bis zum g, denn was darüber hinausgeht, steht in keiner regelrechten Verbindung mit den Mittelregistern. Ihre Koloratur ist nicht perlenartig, sondern sie überstürzt dieselbe, wie man mit einem Stäbchen über eine Strohfidel fährt; ihr Triller gleicht einer Vibration zwischen zwei halben Tönen, wovon der eine viel stärker hervortritt als der andere, oder er artet in kleine Terzen aus; ihre chromatische Tonleiter ist unsauber, denn sie überspringt öfters in einer Oktave ein bis zwei Intervalle, dafür aber schlägt sie in einer rasenden Schnelligkeit jeden Ton zweimal an, was ihr schwerlich eine andere nachmachen wird. Dieses Manöver, womit sie den Laien verblüfft, hat einen klugen Rezensenten verführt, den Ausspruch zu tun, die Catalani mache die chromatische Skala in Vierteltönen. Was man an ihr bewundern muß, sind die dreizehn Töne, die sie in höchster Vollendung zu einer ungeheuren Kraft, ohne den Wohllaut zu verlieren, ausgebildet hat. Sie steht in ihrer Kunst bei weitem nicht so hoch wie Hummel in der seinen. Das ist ein Meister auf seinem Instrument, wie es in Europa keinen zweiten gibt! Der weiß das Herz zu erwärmen!«

Mein Lehrer hatte recht. Ich war ebenfalls entzückt über Hummels Spiel, während ich die eminente Stimme der Cualani bewundern mußte, die beispiellose Fertigkeit aber nur anstaunen konnte. In dem Theaterkonzert trug sie zum Schluß God save the king vor und übertönte mit ihrer gewaltigen Stimme einen Chor von fünfzig Personen.

Meine Stuttgarter Theaterfreuden sollten leider bald[139] ein Ende haben. Friedrich I. von Württemberg starb; mit seinem Tode hörten alle Kunstgenüsse und Lustbarkeiten auf. Da durch Schließung des Theaters aber mein Lehrer von allen Geschäften bei demselben befreit war, widmete er mir täglich mehrere Stunden. Die Beweglichkeit meiner Stimme hatte so erfreuliche Fortschritte gemacht, daß ich jede beliebige Koloratur, wie Triller und Läufe, schulgerecht ausführen konnte, und Partien, wie Don Juan, Figaro und andere wurden neu einstudiert.

Die Zeit meiner Rückreise nach Weimar kam nun auch heran, und obwohl ich mich namenlos freute, Vater und Mutter wiederzusehen, so tat es mir doch innig weh, von meinem lieben guten Häser und seiner trefflichen Familie zu scheiden. Der Abschied war sehr betrübt, und reichliche Tränen flossen auf beiden Seiten.

Ich nahm meinen Weg über Frankfurt a. M., weil Goethe mir für dort einen Empfehlungsbrief an den Geheimrat Willemer geschickt hatte. Im Theater sollte ich bei diesem Aufenthalt gelegentlich einer »Tell«-Aufführung Zeuge einer Szene werden, wie sie in den Theaterannalen noch nicht dagewesen ist und gewiß auch nie wiederkommen wird.

Im vierten Akt, als Attinghausen eben verschieden war und Rudenz nach dem Glockenläuten mit den Worten »Lebt er?« hereinstürzen sollte, erschien dieser nicht. Die Schauspieler sahen sich verlegen um und an; hinter den Kulissen hörte man rufen; das Publikum wurde unruhig und fing an zu murren und zu lachen; endlich nach einer Pause von drei bis vier Minuten stürzte der sehnlichst Erwartete herein und wurde natürlich mit Pfeifen und Pochen empfangen. Er trat vor und entschuldigte sich mit der Bemerkung, daß ihm das Stichwort nicht gebracht worden sei, Madame Werdy aber, welche die Hedwig spielte, behauptete das Gegenteil, und nun entspann sich ein Streit zwischen beiden, der von[140] dem Publikum mit Lachen, Pfeifen und Pochen begleitet wurde. Als der Skandal seinen Höhepunkt erreicht hatte, stand Weidner (Attinghausen) von den Toten wieder auf, schritt gravitätisch bis nahe an die Lampen vor und sagte im großartigsten Pathos: »Ich will das verehrte Publikum über diesen Fall aufklären. Das kommt daher, weil die Proben mit der größten Unordnung und Nachlässigkeit zur Schmach unserer Kunstanstalt abgehalten werden! Unsere beiden Regisseure (Otto und Werdy) haben weder die Kenntnisse noch den Fleiß für solch ein Amt!« – »Herr!« schrie Werdy, »wie können Sie sich unterstehen, se« – »Lassen Sie mich ausreden, Herr Werdy!« unterbrach ihn Weidner. Ganz laut sagte eine Frau von Busch, die in der Proszeniumsloge im zweiten Rang saß: »Nein! das ist doch ein wahrer Skandal!« – »Madame!« donnerte Weidner hinauf, »Sie haben hier gar nicht mitzureden. Damit das verehrte Publikum sich überzeuge, an wem die Schuld dieser Störung gelegen hat, werde ich noch einmal sterben!« Und richtig! Er trat zurück und rezitierte seine letzte Rede ebenso meisterhaft wie vorher, so daß das Publikum abermals in einen Sturm von Applaus ausbrach. Weidner gehörte gewiß zu den genialsten Schauspielern jener Zeit. Die Vorstellung endigte ohne weitere Unterbrechung.

Mit Jubel stürmte ich im Jahre 1817 in das väterliche Haus; mir war, als hätte ich jahrelang die liebevolle Umarmung von Vater und Mutter und Schwester entbehren müssen, und doch war mir das Ganze wie ein Traum, allerdings der lieblichsten Art, denn ich hatte etwas gelernt, und Zeit und Geld waren nicht vergeudet, manche ehrenwerte Bekanntschaft geschlossen worden. Ich wurde von vielen Seiten mit großer Herzlichkeit empfangen; nur manche Achselträger, die mich früher mit Liebe und Freundschaft überhäuft hatten, begrüßten mich mit kühler Zurückhaltung; bald sollte mir der Grund davon klar werden.[141]

Meines Vaters letzte Briefe, die ich in Stuttgart erhalten hatte, berührten die Verhältnisse des Weimarschen Theaters gar nicht mehr, und doch hatte er mir in allen früheren jede Neuigkeit davon mitgeteilt; erst mehrere Tage nach meiner Rückkehr erzählte er mir von den Veränderungen beim Theater.

Der längst gehegte Plan der Frau von Heygendorf (Jagemann), die Verwaltung des Hoftheaters in anderen Händen zu sehen, war endlich zur Reise gekommen, und um ihn auszuführen, mußte zunächst mein Vater von der Regie entfernt werden. Ein Reskript ernannte Goethe zum Intendanten, seinen Sohn zum Direktor des großherzoglichen Hoftheaters und den Schauspieler Oels zum interimistischen Regisseur an Stelle meines Vaters.

Was Wolffs Intriguen vergebens erstrebt hatten, war einer Mächtigeren gelungen.

Eitelkeit, künftig Intendant statt Direktor genannt zu werden, konnte Goethe zur Einwilligung in diese Veränderung natürlich nicht vermocht haben. Mein Vater behauptete, und wohl mit Recht, daß Goethes Interesse am Theater seit Wolffs Abgang sehr geschwunden sei; doch konnte auch wohl die Ernennung seines Sohnes zum Direktor, den man dadurch zu seinem Nachfolger zu bestimmen schien, nicht ohne Einfluß gewesen sein; genug, er war mit allem einverstanden.

In dem Reskript war weiter ausgesprochen, daß mein Vater bei der Bühne als Schauspieler verbleiben solle; da er aber all seine guten und dankbaren Rollen an jüngere tüchtige Talente abgetreten und stets nur die Pflichten des Regisseurs im Auge gehabt, so hätte er als Schauspieler eine ganz untergeordnete Stellung einnehmen müssen. Er ging demzufolge zum Großherzog und bat um eine Audienz; als er sein Gesuch seinem Herrn eröffnet hatte, sagte dieser zu ihm: »Ich vermisse Sie ungern als Schauspieler; wo soll ich so einen trefflichen Kapuziner wieder herbekommen? Doch[142] Ihre Verdienste, die Sie sich seit langen Jahren um mein Theater erworben haben, bestimmen mich, Ihr Gesuch zu bewilligen!« Huldvoll, wie immer, entließ er meinen Vater und befahl, daß dessen Pension um die Hälfte erhöht werde.

Mein Vater stand Oels in seinem neuen Amte bis zum 1. April treulich bei und machte ihn mit allen Regiegeschäften vertraut. Seine letzte Rolle war der Farbenreiber in »Je toller, je besser«; hiermit sagte er der Bühne Valet.

Eine schmerzliche Stunde stand ihm noch bevor, der Abschied von Goethe, mit dem er länger als zwanzig Jahre gearbeitet und viele trübe, aber auch heitere und genußreiche Stunden verlebt hatte. Er wußte, daß ihm Goethe stets gewogen bleiben würde, jedoch der fast tägliche Verkehr zwischen beiden hörte nun auf, und nur der Gedanke, daß beim Theater bald noch ganz andere Veränderungen vergehen würden, tröstete ihn.

Goethe empfing ihn mit den Worten: »Alter Freund, es tut mir leid, daß sich die Sache so gestaltet hat und wir in geschäftlicher Beziehung scheiden sollen; doch Ihr selbst seid ja damit einverstanden. Wo ich Eures Rats bedarf, werde ich ihn nach wie vor in Anspruch nehmen.« Mein Vater erwiderte: »Ew. Exzellenz wissen, wie treu ich Ihnen ergeben bin, darum brauche ich Ihnen nicht erst die Versicherung auszusprechen, wie schmerzlich mir es ist, nicht ferner in Ihrer Nähe weilen zu dürfen. Aber was meine Stellung beim Theater anlangt, so kann ich nur sagen, daß ich mich herzlich darüber freue, dieser nun enthoben zu sein, denn nur Ew. Exzellenz Wohlwollen und freundliche Nachsicht haben mir in den letzten Jahren meine Last erleichtert, die man mir von anderer Seite her möglichst erschwert hat. Meine Entlassung, fürchte ich, ist nur die Exposition des Ganzen, was man vorhat, und wenn mich meine Beobachtungen nicht ganz trügen, so werden mir Ew. Exzellenz bald[143] nachfolgen.« Goethe sah den kühnen Sprecher mit einem stolzen Blick an und erwiderte: »Glaubt Ihr nicht, daß der Kapitän, der die Kraft seines Schiffes kennt, es ohne seinen alten Steuermann regieren wird?« »Ganz gewiß, Ew. Exzellenz,« war die Antwort meines Vaters, »aber man wird Ihnen das Steuerruder aus der Hand zu winden wissen.« Ohne ein Wort hierauf zu erwidern, entließ Goethe mit einem kurzen Kopfnicken meinen Vater, der sehr betrübt nach Hause kam und mir sofort sein Gespräch mit Goethe erzählte. »Er zürnt mir, daß ich so ohne Rückhalt meine Überzeugung ausgesprochen habe,« sagte er, »aber er wird sehen und vielleicht bald, daß die Jagemann nicht ruht, bis sie ihren längst entworfenen Plan zur Ausführung gebracht!«

Mit meinem ferneren Bleiben in Weimar war es nun auch vorbei, und ich kam nach dieser Katastrophe um meine Entlassung ein, welche mir, da mein Kontrakt zu Ostern zu Ende war, nicht vorenthalten werden konnte.

Mein Vater, der eine ausgebreitete Bekanntschaft unter den Direktoren der deutschen Bühnen hatte, schrieb nach Hamburg, Bremen, Hannover, Dresden und Leipzig, und nur vom letztgenannten Ort erhielt er eine abschlägige Antwort; von allen anderen Bühnen wurde mir ein Gastspiel auf Engagement zugesichert.

Goethe weilte seit Anfang März in Jena, und da die Mißstimmung zwischen ihm und meinem Vater längst verschwunden war, fuhren wir hin, um ihm Lebewohl zu sagen. Beim Abschied stürzten mir die Tränen unwillkürlich aus den Augen, obgleich ich wußte, daß er solche sentimentale Szenen gar nicht liebte; aber auch er wurde warm. Indem er mich in seinen Arm nahm und mir seine liebe Hand reichte, die ich mit Küssen bedeckte, sagte er: »Gott behüte dich, Eduard, bleibe stets auf der Bahn des Rechten, sowohl im Leben wie in der Kunst, so wird sich deine Zukunft gut gestalten!«[144] Hierauf nahm er ein Buch von seinem Schreibtisch und übergab es mir als Andenken. Wie ich zur Tür hinausgekommen bin, weiß ich nicht mehr, so hatte das herzliche Lebewohl alle meine Sinne befangen; erst im Wagen fand ich mich wieder zurecht. Das Buch, das er mir übergeben, waren seine Gedichte, erster und zweiter Band, bei Cotta 1815 erschienen. In dasselbe aber hatte er mit eigener Hand folgendes geschrieben:


Eduard Genast,

von der Natur

begünstigt,

durch Fleiß und Übung

gefördert,

nehme die besten Wünsche

zum Geleit

auf seine Kunstreise.

Jena den 25. März 1817.

Goethe.


Überglücklich machte mich dieses teure Andenken, und auf dem Rückweg nach Weimar beschäftigten mich ausschließlich die mich ehrenden Zeilen und Goethes Gedichte.

Als Pygmalion trat ich zum letztenmal auf; am andern Tag reiste ich mit meinem Vater nach Dresden.

Wir waren kaum drei Wochen dort; ich hatte mit Glück debütiert und war bereits engagiert, da bekam mein Vater von dem alten bewährten Freunde, dem Geheimen Hofrat Kirms, einen Brief, dessen Inhalt ungefähr so lautete: »Goethe hat die Intendanz niedergelegt, ein Hund hat ihn weggebissen. Sie sind ein guter Prophet! Er ist Ihnen schneller gefolgt, als Sie und ich voraussehen konnten.«

Goethes Theatergesetze bestanden aus zehn Paragraphen, deren letzter lautete: »Auch dürfen keine Hunde auf der Bühne erscheinen.« Auf diesen Paragraphen berief sich[145] Goethe, als man ihm die Zumutung machte, die Aufführung des »Hund des Aubry« zu genehmigen. Trotz seiner Weigerung fand die Vorstellung statt, worauf Goethe seine Entlassung einreichte und erhielt.

So hatte denn die Allvermögende ihr Ziel erreicht, der große Wurf war gefallen und gelungen. Doch dies war nur der erste Akt des Intriguenspiels, das in ganz Deutschland Aufsehen erregte.

Ein kleines Intermezzo wurde eingeschoben, in welchem Graf E. und Herr von V. die Rollen der Intendanten übernahmen; erst nach einigen Jahren wurde der zweite Akt aufgeführt, worin des Pudels Kern zum Vorschein kam. Der Kammersänger Stromeyer ward zum Oberdirektor des großherzoglichen Hoftheaters ernannt. Das kleine Intermezzo hatte nur als Übergang gedient, und so wurde ein Mann, dessen alleiniges Verdienst in einer schönen Stimme bestand, der Nachfolger Goethes, der Leiter jener Kunstanstalt, die durch Goethe und Schiller zur ersten ihrer Zeit erhoben worden war.

Als mein Vater von Dresden nach Weimar zurückgekehrt war und Goethe seine Aufwartung machte, überreichte ihm dieser zwei Handzeichnungen eigener Komposition mit den Worten: »Nehmt das, alter Getreuer, zum Andenken für Euch und Eure Kinder. Es möge Ihnen besonders ein Erinnerungszeichen sein, in welchem Verhältnis wir beide zu einander gestanden.«

Die Landschaften sind getuschte Federzeichnungen. Die erste stellt eine Campanella vor, die mit Bäumen und Buschwerk umgeben ist. Nicht weit von ihr steht eine Grotte, welche einen Springbrunnen umfaßt. Die Unterschrift, von Goethes eigener Hand beigefügt, lautet:


Zum Erinnern schöner Stunden,

Wo das Rechte war gefunden.[146]


Die zweite ist eine Fernsicht mit Felsen, Wald und Ruinen. Unter dieser steht:


Zur Erinnrung trüber Tage,

Voll Bemühen, voller Plage.

Genast.

Goethe.

Quelle:
Genast, Eduard: Aus Weimars klassischer und nachklassischer Zeit. Erinnerungen eines alten Schauspielers. Stuttgart 1919, S. 131-147.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Aus Weimars klassischer und nachklassischer Zeit
Aus Weimars Klassischer Und Nachklassischer Zeit: Erinnerungen Eines Alten Schauspielers (German Edition)

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