Meine liebe Victorie!

Ich komme in diesen späten Jahren denn doch noch dazu, ein altes Versprechen zu halten, das ich dir einst gegeben habe: dir die Geschichte – nicht sowohl meines ganzen Lebens niederzuschreiben (das ja damals noch im Werden war), aber doch, was das Wesentliche und fast Genügende ist, dir die Geschichte meiner Ausbildung zu erzählen. Es war die Meinung Cellini's (denke ich), daß man zu diesem Geschäfte nicht vor dem vierzigsten Jahre schreiten sollte; ich erinnere mich damals des Sinnes gewesen zu sein, daß man es eigentlich nicht später thun dürfe, damit es in der vollen Kraft des Geistes, möglichst in dem Momente geschehe, wo der Entwurf des eigenen Lebens geschlossen ist. Mit Recht empfand Niebuhr immer Wehmuth dabei, wenn Jemand sein Leben beschrieb, da es gewöhnlich erst geschieht, wenn schon der Abend hereinbricht, da der bloße Entschluß, sich auf die eigne Vergangenheit zu kehren, der Beweis ist, daß man für Gegenwart und Zukunft verloren ist und »mit ganzer Wurzel nicht mehr lebt«. Ich selbst, indem ich Hand an diese Arbeit lege, bin von diesem wehmüthigen Gefühle ganz durchdrungen. Gleichwohl aber liegt die Abneigung, sich der Erinnerung des Vergangenen hinzugeben, so lange man noch das Künftige im größeren Umfang zu erleben hoffen darf, allzusehr in der Natur der Sache, als daß man sich[9] von jenem Gefühle und von dem Bedenken, das ihm zu Grunde liegt, sollte zurückhalten lassen, noch in den schlimmeren Jahren diese autobiographische Aufgabe nachzuhwlen, wenn sie denn in den besseren versäumt worden ist.

Mir im Besonderen, in meinem historischen Amte, hat es immer scheinen wollen, daß mir diese Aufgabe nicht sowohl als eine willkürliche Wahl vor liege, als vielmehr wie eine Art Berufspflicht ob liege. Denn neben jener strengen Lessing'schen Ansicht, daß eigentlich nur der Geschichtschreiber seiner Zeit den Namen des Historikers ansprechen dürfe, dünkte mir von jeher die andere Forderung noch richtiger, daß der Geschichtschreiber seine Befähigung in der Erzählung seines eigenen Lebens bewähre. »Zu Geschichtforschern, sagt Hippel, zu Auslegern des menschlichen Geistes, zu Seelengelehrten, zu Sehern gehört Studium seiner selbst, und schon in dieser Rücksicht ist sich selbst zu kennen eine große Lehre. Nur der Geschichtschreiber, der diese Salbung empfing, weiß die Reihe der Dinge zu übersehen und Ursache und Wirkung unter Einen Hut zu bringen.« Denn wie sollte auch über Geschichte urtheilen können, der nicht selbst an sich selber Geschichte erlebt hat? Und wo wäre in der Geschichtschreibung eine größere Vollkommenheit denkbar, als in der Beschreibung des Eigenlebens, wo der, der die Dinge selber und in ihrem ganzen Umfange erlebt hat, sie selber erzählt? Man sagt zwar, es sei viel schwerer, sich selber als Andere zu beobachten und zu kennen. Davon ist nur wahr, daß man später und unwilliger und gemeinhin gar nicht zur Selbstbeobachtung gelangt, daß es wie für das physische Auge einer Veranstaltung, einer Vermittlung, eines Willens bedarf sich selber zu sehen, wo wir äußere, fremde Dinge ganz unwillkürlich beobachten. Aber hat man einmal den vermittelnden Spiegel ergriffen, und ist es der[10] ungetrübte, der hell geschliffene Spiegel der Wahrheit, in dem wir uns selbst zu erkennen bemühen, so ruht nun auch der Gegenstand ganz nach unserem Willen fest, weit anders als die vorüberfliegenden fremden Dinge, über die wir nicht gebieten können, und es ist uns die Möglichkeit einer weit vollkommeneren Untersuchung gegeben. Die Selbstverständniß müßte unter dieser Voraussetzung selbstverstanden das Leichteste sein, was ein denkender Mensch erreichen kann, die eigne Geschichte die treueste, die allein allverlässige, die ein Geschichtschreiber erzählen kann. Die Wechselbeziehungen der öffentlichen Geschichte im Großen zu irgend einem ihrer Theile darzustellen, wo könnte dies sicherer geschehen, als wo dieser Theil in des Darstellers Persönlichkeit liegt? Idee, Entwurf und Zweck irgend Eines Stückes der Geschichte, wie sollten sie fester und bestimmter zu ergreifen sein, als an dem eignen Stück Geschichte, das man durchlebt hat? Die Verkettung des Eigenwillens und Wirkens mit den unsichtbaren Mächten, die unser Leben überherrschen, die so besonders erkennbar in unserer Jugend bei dem Aufschreiten der Kräfte in wohlthätiger Vorsicht über uns wachen und selbst das Uebelste zum Besten kehren, wo wäre ihren verknoteten Fäden weiter zu folgen als in dem eignen Leben? Jene verborgene Göttin, das Kind der Nacht, die strafende Nemesis, die auf jede unserer Ausschreitungen lauert, wo sollten ihre dunklen Spuren besser erkannt werden können, als in dem eignen Schicksal? Jener Offenbarung, die aus aller Geschichte spricht, die sich zu der prophwilschen wie Gesetz zu Willkür, wie Regel zur Ausnahme verhält, wo wäre ihr besser zu lauschen als in den Prüfungen der eignen Geschicke? Zu den verschlungenen Räthseln irgend Eines Menschenlebens das gewisse Lösungswort zu finden, die Fackel des klaren Bewußtseins in das Dunkel Einer Seelen-, Geistes- und Charakterentwicklung zu tragen, wo[11] könnte es möglich sein, wenn es nicht an der eigensten Erfahrung an uns selber am möglichsten wäre?

Ich kündige, siehst du, übermüthig die stärksten Karten an, und fordere so auf, desto stärker auf mein Spiel zu achten. Auch trage ich mich mit dem Selbstgefühl, daß wenige Menschen zu so genauer Selbsterkenntniß gelangt sind und so frühe auf dem Wege waren wie ich, in einem bewußten Lebenszwecke zu arbeiten. Ich habe wechselnd mit wißbegierigem Auge in die fremde Natur und in die eigne geblickt und so für Beides den Sinn zu schärfen gesucht: nur so ist es mir möglich geworden, in den fremden Geist, in einen so labyrinthischen selbst wie Shakespeare's mit sicherem Faden zuversichtlickh einzugehen wie in den eignen, den eignen aber mit der Unbefangenheit zu betrachten wie den fremdesten.

Ist nun aber (diese selbstbelobenden Worte allein könnten es fürchten machen!) bei dieser Bildaufnahme aus dem Spiegel keine Gefahr der Selbstbespiegelung zu besorgen? Die Aufgabe jeder Biographie ist, den Menschen in seinem Verhältnisse zu der Zeitgeschichte darzustellen, in dem Einklang und Misklang, in dem er sich zu ihr fühlt, in den hemmenden und fördernden Momenten, die sie zu seiner Entwicklung steuerte. In der Betrachtung dieses Verhältnisses behält die Eigenliebe nur wenigen Raum: das Einzelwesen schrumpft gar so sehr zusammen, wenn es an Zeit. und Volk und Menschheit Alles abgegeben hat, was ihnen gehörte. Ein Autobiograph könnte aus Eitelkeit versucht sein, von dem großen Weltleben der Zeitgeschichte mehr, als gerechtfertigt ist, zu seinem Einzelleben heranzuziehwn, um ihm dadurch einen tieferen Hintergrund zu geben; da ich die Geschichte des 19. Jahrhunderts in abgetrennter Behandlung zu bearbeiten beschäftigt bin, so fällt auch diese Gefahr für mich weg. Meine Erzählung braucht auf keine Episoden abzuschweifen, als auf die[12] Schilderung einzelner Persönlichekeiten, die einen vorwiegenden Einfluß auf meine Bildung und Schicksale genabt haben, und auf einzelne Gegenstände, die für die Muße meines häuslichen Lebens von besonderer Bedeutung waren. Und wenn nun dies die Betrachtung wieder ausschließlicher auf meine Person zurückschränkte, so hoffe ich doch den Ton der Bescheidenheit schon durch den bloßen Ernst und den graden historischen Zweck der Erzänlung nicht zu verfehlen. Ich weiß an mir nichts so Schönes, das mich zum Selbstbeäugeln verlocken möchte, und nichts so Häßliches, das mich zu der Eitelkeit der Consessionenschreibwr verführen könnte, mit der Wahrhaftigkeit einer Beichte zu prunken. Meine Lebensbeschreibung wird keine Bekenntnißschrift und kein Roman, und nicht Dichtung und Wahrheit sein, sondern plane, einfache Geschichte.

Der Biograph sei sicher gestellt vor den sittlichen Gefahren, die in seiner Selbstbeschäftigung gelegen sind: ist es dann aber, der äußeren Welt gegenüber, geratiwn, das Geheimste und Heiligste unseres Lebens, das nur Gott und wir zu kennen brauchen, hinaus und jedem Teuren Preis zu geben? Aber dem Menschen, der einmal in irgend einer Weise doch an die Oeffentlichkeit gezogen ward, geht die engherzige Sprödigkeit mit den Geheimnissen seiner Personalien nur allzubald verloren. Es ist verzeinlich, wenn er lieber ganz als halb gekannt sein möchte. Ein einziges Heiligtimm gibt es, meine Victorie, in dieser Lebensbeschreibung: die Geschichte unserer Verbindung, die Erzählung jener innersten Herzensgeheimnisse, die nur von Seele zu Seele gelebt sein sollten, was mir schwer wird, mit dem Anderen auf die Straße zu werfen, wo man nicht weiß, wer es aufhebt. Und doch gehört es so wesentlich zu dem Gemälde dieser seltsamen Persönlichkeit, die dem Einen als ein gelehrter Pedant und dem[13] Anderen als ein leidenschaftlicher, neuerungssüchtiger Mann des Umsturzes gilt, zu zeigen, daß er weit edlere Güter kannte als Bücher, daß ihm Friede lieber als Krieg war, und daß er einen Herd besaß, an dem er der Stürme des öffentlichen Lebens lachen konnte. Wenn ich übrigens bis dahin vorgedrungen bin, so wirst dn diese Handschrift, die dein gehört, wohl im stummen Verschlusse des Pultes halten, bis nus Beide der Verschluß der Erde birgt. Dann mag es mit dem Uebrigen Eines Weges wandern, und es wird da und dort vielleicht eine Stätte finden, wo es uns in guten Herzen ein freundliches Andenken gründet.


Heidelberg. Zu Weihnachten 1860.

Dein G.
[14]

Quelle:
G. G. Gervinus Leben. Von ihm selbst. 1860, Leipzig 1893, S. 7-15.
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