Auf Reisen

[168] Wollte man eine Kulturgeschichte des Reisens schreiben, würde man die Reisen wohl einteilen in Geschäfts- und Studienreisen, in Forschungs- und Vergnügungsreisen iu sogenannte Touren und Wanderungen. Die Reise von einst, die als Erziehungsreise wichtig war, kommt weniger mehr in Betracht. Früher war es unumgänglich für einen jungen Herrn von Stand, mit seinem Hofmeister eine Bildungsreise vorzunehmen. Die Sitte erhielt eine Art letztes Wort in den »Fliegenden Blättern« durch Eisele und Beissele, die im Reich damaliger Kleinstaaterei eine solche Reise humoristisch karikierten. Auch der Kaufmannssohn machte seine Bildungsreise von Geschäftsfreund zu Geschäftsfreund, und es galt dafür, daß junge Leute den nötigen Schliff und guten Ton von der Reise mit nach Hause brachten.

Jetzt gehört es weniger mehr zur Reise, guten Ton zu gewinnen, und doch bleibt jede Reise wertvoll zur Erziehung und namentlich zur Selbsterziehung. Zu den besten Errungenschaften des Reisens gehörte einst die Reisebekanntschaft, aus der sich oft eine Freundschaft entwickelte. Ermöglicht wird eine solche nur durch guten Ton, durch die Imponderabilien von Rücksicht und Gefälligkeit, endlich von irgend einer gemeinsamen Bewunderung und Andacht, Kunstübung und Kunstfreude.[168]

Auf der Reise zeigt sich der Mensch recht eigentlich so, wie er in seinem innersten Wesen ist. Der Zwang, den die gewohnte Umgebung auf jeden übt, fällt fort, und mit ihm verschwinden leider oft Rücksichtnahme, Güte und feines Benehmen.

Den Anzug für die Reise wähle man praktisch, aber gut aussehend.

Für Damen kommt nur das Straßenkostüm in Frage, das durch einen der Jahreszeit entsprechenden Reisehut und Reisemantel, gute Stiefel und zum Anzug passende Handschuhe vervollständigt wird.

Herren wählen am besten gute, mittelfarbige Anzüge, die nicht empfindlich gegen Staub und Flecken sind; gute Stiefel und Handschuhe, dunkelfarbige Kravatten.

Zu viel Handgepäck verrät den Reiseneuling und ist außerdem rücksichtslos gegen Mitreisende.

Wenn bekannte Damen und Herren gemeinsam eine Reise unternehmen, führt einer der Herren alle nötigen Besorgungen aus.

Beim Eintritt in ein Abteil begrüßt man die darin befindlichen Reisenden. Dann belegt man seinen Platz – jeder hat für Gepäckstücke nur den Raum über seinem Sitzplatz zu beanspruchen – und richtet sich ein.

Das Fenster nach dem Bahnsteig vor der Abfahrt oder bei Ankunft des Zuges für sich allein in Anspruch[169] nehmen zu wollen, wäre unpassend, denn alle Reisenden haben gleiche Rechte.

Daß bei vielen Reisenden beliebte, unwahre »Alles besetzt!«, das jedem Sichnähernden entgegen gerufen wird, ist krasse Selbstsucht.

Zärtliches Abschiednehmen und Begrüßen wird richtiger zu Hause vorgenommen. Für das Abteil und den Bahnsteig begnügen sich fein empfindende Menschen mit einem Händedruck und vermeiden auch während der Fahrt vertraute Gespräche und Liebkosungen, wenn sie nicht ganz allein sind.

Bei der Ankunft im Hotel, im Fremdenheim, in der Sommerfrische usw. trete man ruhig und sicher, aber niemals überanspruchsvoll und anmaßend auf – so wie »zu Hause« kann man die Wohnung in der Fremde nirgends erwarten.

Bezüglich der Preise für Kost und Wohnung ist es ratsam, sich vorher zuunterrichten und seine Abmachungen mit dem Wirt zu treffen. Ist dies nicht geschehen und der verlangte Preis erscheint zu hoch, so bleibt dem Reisenden nur die Frage, ob billigere Räume vorhanden sind oder – zu verzichten und weiter zu suchen; jedes Feilschen ist unstatthaft.

In den meisten großen Gasthäusern und Fremdenheimen bleiben die Gäste bis zum Mittagessen im Straßenkostüm und machen erst zur zweiten Hauptmahlzeit elegante Toilette.[170]

Die nervösen Menschen unserer Zeit suchen Ruhe und manche lärmende Freude früherer Jahre darf sich heute nur gemäßigt zeigen. So gilt auch das laute Knallen der Champagnerkorken nicht mehr als fein, und die Flaschen werden so geräuschlos wie möglich geöffnet.

Im eigenen Zimmer Hotel oder im Fremdenheim sei jedem die größte Rücksichtnahme auf seine Zimmernachbarn empfohlen. Decken, Wände und Fußböden sind meist so dünn gebaut, daß sie jedes Geräusch durchlassen und jeder sollte bedenken, daß Ruhestörungen allen anderen Menschen genau so unangenehm sind, wie er selbst sie empfindet. Es ist daher gut, »lautes Sprechen, Singen oder Pfeifen« zu vermeiden, die Zimmertür recht leise zu schließen, abends und morgens leichte Hausschuhe anzuziehen, die Stiefel geräuschlos vor die Türe zu stellen, kurz in allem so zu verfahren, daß empfindsame Nachbarn nicht belästigt werden.

Handelt es sich um einen Logierbesuch bei Freunden, so ist hinzuzufügen, daß jede Hausfrau nur den »gern kommen, ungern scheiden sieht«, der sich in die Hausordnung fügt.

Es ist Pflicht des Gastgebers, sein Haus dem Gaste so angenehm wie möglich zu machen und Pflicht des Gastes, das Gebotene dankbar entgegen zu nehmen.[171]

Quelle:
Gleichen-Russwurm, Alexander von. Der gute Ton. Leipzig [o. J.], S. 168-172.
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