In der Familie

[52] Jedes Mitglied der Familie findet im häuslichen Leben Gelegenheit zur Entfaltung seiner guten, wie seiner schlechten Eigenschaften. Das Benehmen zu Hause ist ein Prüfstein für Lebensart und guten Ton. Die Eltern tragen die Verantwortung dafür, wie die Familienmitglieder sich geben und welcher Ton im Hause herrscht.

Die Beobachtung der Außenstehenden fällt fort; mit ihr der Zwang, sich zu beherrschen und der Wunsch, Fremde günstig zu beeinflussen. Da liegt die Gefahr nahe, daß im intimsten, häuslichen Kreise die Rücksichten der Hausgenossen zueinander allmählich einschlafen, daß Nachlässigkeit im Benehmen und in der Kleidung zur unschönen Regel wird.

Man kann vom ermüdeten Hausherrn, von der oft überbürdeten Hausfrau im eigenen Heim nicht die Förmlichkeiten verlangen, die sie gesellschaftlichem Verkehr als selbstverständlich zugestehen. Aber Formlosigkeit und Häßlichkeit dürften sich nie im Hause einnisten, und kein Mitglied der Familie sollte sich je zu Worten und Taten hinreißen lassen, deren es sich vor den Augen Fremder schämen müßte.

In der Familie sind die Eltern die tonangebenden Herrscher.[52]

Von ihrem Verhalten zueinander und zu den Angehörigen ihres Hauses sind Glück und Frieden des kleinen Staates abhängig.

Der Hausherr, dessen Arbeit den Haushalt erhält, hat naturgemäß die erste Stimme bei allen wichtigen Entscheidungen des häuslichen Lebens. Ein kluger Mann wird dieses Vorrecht nicht mißbrauchen; er wird es vielmehr mit seiner Gattin teilen, ihre Meinung anhören und mit ihr gemeinsam die nötigen Beschlüsse fassen. Er wird in seiner Frau die gleichwertige Gefährtin sehen, sie an seinen Interessen teilnehmen lassen, ihr stets höflich und aufmerksam begegnen und der treueste Freund ihrer Freuden und Sorgen sein.

Ein guter Ehegatte hütet sich wohl, seine Frau durch Heftigkeit, Eifersucht, Launenhaftigkeit oder mürrisches Wesen zu verletzen, denn er weiß, wie leicht hingebendes Vertrauen zerstört werden kann. Er wird auch vermeiden, durch Vernachlässigung seines äußeren Menschen bei seiner Gattin den Argwohn zu erwecken, ihr Urteil über ihn sei ihm gleichgültig geworden.

Geschäftlicher Verdruß sollte nie den Frieden des Hauses stören; ist er ernsterer Art, so gehört er in eine stille Stunde, wo er in vertraulicher Aussprache zwischen Mann und Frau am besten erledigt wird.

Der Abend soll als Schluß des Tages und seiner Arbeit die von allen Familiengliedern freudig begrüßte Feierstunde sein; sie ist es nur dann, wenn auch der Hausherr sich oft und gern den Seinen widmet. Geschäftliche[53] und private Interessen veranlassen die meisten Herren, über einige Abende der Woche für sich allein zu verfügen. Daran ist an sich nichts auszusetzen. Wenn aber die Ausnahme zur Regel wird, macht sich der Hausherr durch eigene Schuld zum Fremdling in seiner Familie und darf sich nicht wundern, wenn ihm die Seinen scheue Kälte statt liebenden Vertrauens entgegenbringen.

Das größte gegenseitige Einverständnis zwischen Eheleuten sollte vor allem in bezug auf Geldverhältnisse herrschen. Der Ehemann verheimliche seiner Frau niemals seine finanzielle Lage und vereinbare mit ihr das festzustellende Haushaltsgeld. Nichts ist für eine fein empfindende Frau kränkender und demütigender, als beständig um Geld bitten zu sollen. Es ist ihr gutes Recht, die notwendigen Beträge zur Führung des Haushaltes und für ihre Privatausgaben an festen Daten als selbst verständliche Zahlung zu erhalten, denn nur mit bestimmten Einkünften kann sie rationell wirtschaften.

Die Hausfrau hat als Stellvertreterin ihres Mannes im Hause die Hauptaufgabe, die Einnahme des Gatten zweckentsprechend anzuwenden, um ihm und den sonstigen Familienangehörigen ein schönes, behagliches Heim zu schaffen. Ihre Tätigkeit hierbei kann – je nach Lage der Verhältnisse – die denkbar verschiedenste sein;[54] von ihrem Wesen sind Umsicht, Sparsamkeit, Festigkeit, Arbeitslust und selbstlose Güte untrennbar.

Meinungsverschiedenheiten der Ehegatten sollten nie vor Zeugen ausgefochten werden. Besonders sorgsames Geheimhalten jeder Uneinigkeit ist geboten, wo es sich um verschiedene Ansichten über die Erziehung der Kinder handelt. Kinder beobachten ungemein scharf und nichts schädigt die Autorität der Eltern mehr, als wenn die Kleinen merken, daß von einem der Eltern gebilligt wird, was der andere tadelt.

Das Haus mit allen inneren Angelegenheiten ist die Domäne der Frau, und wenn sie nicht unüberwindlichem, böswilligem Widerstande begegnet, so hängt es von ihr ab, ob darin ein leiser, seiner Ton herrscht oder lautes, polterndes Wesen. Türenwerfen, unnötig lautes Sprechen, Rufen und Streiten, lärmendes Hantieren in den Zimmern und der Küche, lange Unterhaltungen im Treppenhause und dgl. mehr sind Zeichen mangelhafter Erziehung.[55]

Quelle:
Gleichen-Russwurm, Alexander von. Der gute Ton. Leipzig [o. J.], S. 52-56.
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