Warum gute Formen dazu nötig sind

[14] Die mit Sicherheit beherrschte Form des geselligen Lebens hat ein Denker des vorigen Jahrhunderts den guten Ton genannt, »verbunden mit den Ergebnissen eines geschulten Geistes und gütigen Herzens.«

Ihn zu erringen, sieht leicht aus und ist auch leicht, aber man muß dabei des Goetheschen Wortes gedenken: »Zwar ist es leicht, doch ist das Leichte schwer.« In dieser Hinsicht zeigt sich vonnöten, beim ersten Anfang, also in der Kinderstube zu beginnen.

Doch vorher sei der Begriff noch sprachlich und philosophisch fest umrissen. Die Bezeichnung »der gute Ton« ist der Musik entnommen, sie klingt aus dem Wunderreich der Töne in das Reich des menschlichen Verkehrs und des Alltags. Wie in der Musik der einzelne Ton nur dann gesetzmäßig schön wirkt, also gut klingt, wenn er in die Harmonie des Ganzen eingestimmt ist, so geht es auch im Leben. In der Musik muß sich der einzelne Ton an der richtigen Stelle einfinden und im richtigen Rhythmus mitschwingen. Er darf weder ausfallen, noch zu schwach tönen, wo ihn die Melodie braucht, noch soll er als Einzelstimme herausklingen, wo es ihm nicht zukommt. Dies Herausklingen ist im Tonstück wie im Leben nur dann geboten, wenn dem[14] Ton oder dem betreffenden Menschen die führende Stimme anvertraut ist.

Da aber in der Tonkunst nicht alle Töne brauchbar sind [wenn auch modernste Musik versucht das Heterogenste zu verwenden], sondern nur jene, welche ein Zusammenstimmen möglich machen, hat man die musikalischen Töne in ein System gebracht, das den Inbegriff der brauchbaren Klänge in abgemessener Ordnung darstellt. Diese abgemessene Ordnung, und mithin das Tonsystem selbst, ist eine Erfindung kultivierter Zeiten genau wie die Gesellschaftsordnung, und von beiden setzt Kunstgebot wie Lebensgebot den »guten Ton«, den richtigen Zusammenklang voraus.

We man mit den sieben Tönen der Oktave die Musik zum Tonbild formt und die Welt der klanglichen Erscheinung ausfüllt, so läßt sich der Verkehr in der menschlichen Gesellschaft durch sieben kurze Regeln in ein geordnetes System bringen. Wer es beherrscht fühlt sich sicher und findet als selbstverständlichen Ausdruck seines Lebens, die best geeigneten Formen für die wechselnden Verhältnisse im geschäftlichen, geselligen und verwandtschaftlichen Verkehr der Menschen untereinander.

Diese Formen entstanden durch Erfahrung und wurden im Laufe der Jahrhunderte von führenden Kreisen zum Gesetz erhoben, das jeder Gebildete für bindend hält und befolgt. Nicht willkürlich und oberflächlich ausgedacht sind die Regeln des guten Tons, die sich immer[15] wandelten und den Forderungen des wechselnden Lebens anpaßten, mit jeder Erfindung und Veränderung der äußeren Kulturgestaltung neuen Problemen sich anpassen mußten, Ergänzungen forderten und obsolet Gewordenes abwarfen.

Nichts ist unwichtig an diesen Regeln, wenn es im rechten Sinn verstanden und richtig angewandt wird.

Wie sehr die Form ein Ausdruck des Inhalts ist, die Schale ein Produkt des Kerns, die Haut sich aus dem tiefsten des Wesens bildet, das wissen wir Zeitgenossen einer lebendig schauenden, der Natur wieder näherkommenden Generation, ohne daß es uns in jedem Augenblick bewußt wird. Die Form, das äußere Gehabe eines Menschen ist viel mehr als ein Symbol seines Wesens, wie es der Glaube des Psychologen bisher meist angenommen hat.

Das Leben würde wohl recht unliebsam verlaufen, wenn den Wünschen mancher Feinde alles Förmlichen Rechnung getragen würde.

Weit höher als die Form steht zwar das eigentliche Wesen, der Charakter des Menschen, aber die Form ist der sichtbare Ausdruck dieses unsichtbaren Wesens.[16]

Quelle:
Gleichen-Russwurm, Alexander von. Der gute Ton. Leipzig [o. J.], S. 14-17.
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