Kriegserlebnis

[27] Am 13. März 1848 in den Abendstunden ging ich mit meinem Geigenkasten ahnungslos aus der Leopoldstadt, wo ich[27] wohnte, ins Konservatorium unter den Tuchlauben zum Geigenunterricht des Professors Böhm. Als ich auf den Hohen Markt einbog, konnte ich kaum weiter; der Platz war dicht gefüllt, vor dem Schrannengebäude (Polizeihaus) am dichtesten. Ich sah, wie einer an der Front hinaufkletterte und der daselbst angebrachten Justitia die Wage herunterbrach. Ich hatte keine Ahnung davon, was vorging und ging ruhigen Gemütes weiter in die Tuchlauben zum Konservatorium (jetzt Mattoni-Haus). Da höre ich plötzlich schießen und sehe einen Trupp Soldaten von der Burg herab mir entgegen marschieren. Ich bog in ein nur angelehntes Haustor ein. Unter der Einfahrt fand ich einen an die Wand hingelegten Toten; er hielt beide Hände kreuzweis an die Seiten gepreßt. Ich eilte fort zur Schule. Geschlossen. Da ich außerhalb aller gesellschaftlichen oder studentischen Verbindungen still und einsam lebte, hatte ich keine Ahnung von den Vorgängen und deren Ursachen. Ich hörte nur: »Es ist Revolution.«

Anderen Morgens (14. März) ging ich zu meinem Bruder Josef, der erster Sekundararzt im Allgemeinen Krankenhause war. Der habe gar nicht zu Hause geschlafen, sagte man mir dort. Von anderen jungen Ärzten erfuhr ich, daß er sich in der Aufstandsbewegung befinde. Mittlerweile wurde viel geschossen. Die Arbeiter hatten eine Fabrik in Fünfhaus angezündet. Die Studenten, die sich formierten, wurden zur Hälfte hinausgeschickt, mein Bruder sollte ihr Führer sein. Am 15. März früh ging ich wieder in seine Wohnung – er war noch immer nicht zurück. Niemand wußte Bescheid über ihn. Am Abend dieses Tages kam die Konstitution. Allgemeiner Jubel. Donnerstag, am 16. suchte ich abermals meinen Bruder auf. Vergebens – noch nicht zurückgekehrt. Nun wurde mir angst und bange. Ich suchte und fragte, schließlich ging ich in die Totenkammer (im Allgemeinen Krankenhaus), ob ich ihn vielleicht unter den Toten fände. Es[28] lagen etwa zwanzig erschossene Menschen da. Er war glücklicherweise nicht darunter. Am Abend desselben Tages ging ich über den sehr belebten Stephansplatz. Da höre ich dicht hinter mir eine gänzlich tonlose, heisere Stimme »halt« rufen. Ich drehe mich um, mein Bruder als Führer einer Schar Studenten steht vor mir, einen alten, rostigen Türkensäbel in der Hand (die Scheide fehlte). Bekanntlich bewaffnete sich die Menge aus dem Zeughause. Ich erinnere mich, selbst eine alte Steinslinie längere Zeit in meinem Zimmer gehabt zu haben, ohne mehr zu wissen, woher ich sie hatte; denn im Zeughause war ich nicht. Ich ging nun mit meinem Bruder und den jungen Studenten ins Gasthaus (»Schnecke«) auf dem Petersplatz. Mein Bruder blieb an der Spitze der Bewegung beteiligt. Er war leidenschaftlich-heftigen Gemütes, aber herzensgut, begeistert für Recht und Freiheit, unfähig eines unedlen Gedankens.

Am 26. Mai wäre er bald von der wild aufgeregten Menge gelyncht worden, weil er abriet, Barrikaden zu bauen, denn es sei keine Gefahr vorhanden. Er hatte Recht behalten, das Vertrauen in seine freiheitliche Gesinnung hatte noch zugenommen. Später wurde er in den Reichstag gewählt.

Nach dem 26. Mai schickte er mich nach Hause zu den Eltern nach Deutsch-Kreutz.

Die Lage Wiens wurde immer kritischer; Windisch-Grätz schickte sich an, Wien zu belagern und Jelacié zog mit einem kroatischen Hilfskorps (»Grenzer«) heran, um sich ihm anzuschließen. Er ging, an Ödenburg vorbei, über die steirische Grenze nach Wien. Ungarn stand schon im Kriege gegen Österreich. Da kam eines Tages von Ödenburg eine Kundmachung, daß die ganze männliche Bevölkerung bis zum 60. Lebensjahre, alles was Waffen tragen könne, dem Feinde – das ist Jelacié – entgegenzugehen habe, um ihm den Weg zu verlegen. In dieser[29] Kundmachung hieß es: »Es werden von nun an alle Glocken schweigen; läuten sie aber, dann bedeutet das Sturm und alles muß marschieren.« Es war Landsturmaufgebot. Und also geschah es. Das liebliche Mittag- und Abendgeläute war verstummt. Wu erhielten aus Ödenburg senkrecht aufgepflanzte Sensen als einzige Waffe. Solcherart wurde das ganze Komitat aufgerufen. Drei Tage hörten wir keine Glocken. Ich benützte diese Zeit, um mich im Gebrauch der ungewohnten Waffe, der Sense, zu üben – Disteln und Gesträuche waren die Feinde, denen es schlecht erging.

Am dritten Tage abends erschien endlich ein Tambour aus Ödenburg, Sturm trommelnd und die Aufforderung rufend: »Alles soll sich innerhalb einer Stunde vor der Kirche sammeln und zum Abmarsch bereit halten.« Sturm trommelnd und rufend ging er durch das aufgeregte Dorf und alle Glocken läuteten Sturm.

Ich bereitete mich vor. Meine gute Schwester mußte mir noch schnell die blaue Feiertagskrawatte ausbügeln, von meiner Mutter nahm ich das große, scharf geschliffene Küchenmesser – es schien mir für den Nahkampf ausreichend. Ein Stück Brot in den Rucksack, das war die Verpflegung, die Sense in die Hand und los ging's! – Die gesamte Männlichkeit des Dorfes marschierte unter Anführung des Tambours. Alle Dörfer, die wir berührten, schlossen sich dem Zuge an. Wir zogen abends aus und marschierten bis Mitternacht. Da wurde in einem Dorfe haltgemacht und jeder legte sich zur Ruhe hin, wo er eben stand.

Anderen Morgens zeitlich früh ging's weiter, immer neue Anschlüsse aufnehmend. So marschierten wir bis Mittag, durchzogen ein schmales Tal und machten in einem am Ende desselben gelegenen Dorfe Mittagsrast. Jeder griff in seinen Sack, um zu essen, was er eben bei sich hatte – es war so ziemlich das gleiche Menü – von einer Verpflegung war weiter keine Rede.[30]

Wir waren in dieser angenehmen Beschäftigung noch nicht weit vorgerückt, da hieß es auf einmal: »Auf, vorwärts, der Feind ist da!« Und wir zogen direkt gegen den Feind.

Die Situation war nun folgende: Zwei ziemlich gleich hohe Berglehnen befanden sich knapp gegenüber, deren beider Fuß ein Bächlein bespülte, neben welchem die schmale Straße einherlief. Diesem schmalen Tal – ungefähr eine halbe Stunde lang – war an beiden Enden je ein Dorf, Nemeskér und Schützen, vorgelagert. Wir hatten das erste Dorf passiert, das Tal durchzogen und im zweiten die vorher erwähnte Mittagsrast gemacht. Über den beiden Berglehnen erstreckte sich beiderseits ein ziemlich ebener Wald, rechts und links. In diesem, von unserem Rastorte rechts gelegenen Walde war der Feind. Wir mußten also zurück in das schmale Tal und die rechte Berglehne hinauf, um den Feind anzugreifen, der sich in diesem Walde wohlgedeckt befand.

Wir, einige tausend Leute, ein zügelloser Hause ohne jegliche Ordnung und Gliederung, ohne Führung und Kommando, sollten ein wohldiszipliniertes und gut ausgerüstetes Korps, Infanterie, Kavallerie, Artillerie aufhalten. Wir wurden von Ödenburger Wachleuten (Heiducken) und Bürgergardisten zu Pferd von rückwärts in die beträchtliche Höhe gegen den Wald getrieben. Am äußersten, hintersten Rande schrie man fortwährend: »Elöre! Elöre!« Das ist »vorwärts«! Und wir gingen vorwärts. Die ganze Berglehne von einem bis zum andern Ende war vollbedeckt von den Unsrigen. Vom Feinde war nichts zu sehen und zu hören. Ich sah keine Veranlassung, meine Tapferkeit zu zügeln, und mit jugendlich-tollkühnem Mute stürmte ich vor gegen den Feind. Ich kam bis an den Waldesrand. Hier fand ich in einem Abzugsgraben, der den Wald knapp begrenzte, einige Kompagnien ungarischen Militärs postiert. Diese begannen alsbald in den[31] Wald zu schießen. An der linken Seite, hart am Walde, befand sich ein ziegelgedeckter Meierhof. Nach wenigen Minuten krachte der erste Kanonenschuß aus dem Walde. Es war nicht der gewöhnliche Kanonenbum, es war ein mörderischer, erschütternder Knall, als ob klirrende Ketten durch die Luft flögen. Es dürften Schrapnells oder Granaten oder sonst was Zündendes gewesen sein. Meine Tapferkeit erlitt einen harten Stoß – ich suchte Deckung an der Mauer des Hauses. Aber schon im nächsten Augenblicke stand dieses in Flammen.

Nun folgte Schuß auf Schuß. Da die Schüsse aber vom ebenen Waldboden kamen, die Menge aber auf der stark abfallenden Böschung stand, gingen die Kugeln glücklich über sie hinweg, ohne zu schaden. Da plötzlich – ohne weitere Ursache – nach kaum fünfzehn Minuten, begann die wogende Menge nach rückwärts zu strömen, immer stärker fluchtartig davonzulagen. Da ich allein den Feind doch nicht aufhalten konnte, folgte ich dem allgemeinen Beispiele und stürzte bergab. Tote fand ich keine, aber weggeworfene Sensen überall. Die Masse wälzte sich durch die Dörfer rechts und links, aber da gab es Schlägerei, denn die Dorfbewohner wollten sie nicht durchlassen. Die Flüchtenden, so meinten diese biederen Dörfler, sollten zurück, um sich nochmals dem Feinde zu stellen, da sie von diesem alles zu fürchten hatten. Und so lief ich den gegenüberliegenden Bergabhang hinaus. Dort im Walde angelangt, machte ich halt und sah zurück. Die beiden Bergabhänge waren total leer. Kein Mensch mehr sichtbar, auch das Militär nicht, das sich offenbar infolge unserer Flucht nach rechts oder links zurückgezogen hatte. Ich besah mir die Situation; sie entbehrte nicht der komischen Seite, denn von den fünftausend oder zehntausend Helden war in einer Viertelstunde keine Spur mehr vorhanden. Die Reiterei war aus dem Walde geritten und stand nun in Front: Sereschauer Rotmäntel, offenbar[32] zu unserer Verfolgung vorgeschoben, aber der Feind zog sich rechtzeitig zurück, es gab nichts zu verfolgen.

Und doch, die Sache hätte furchtbar ernst werden können, unser Glück war, daß wir in tiefer Böschung standen, daß die Kanonen durch die in den Wald schießende Infanterie gezwungen waren, aus der Tiefe des Waldes zu feuern, so daß keine Kugel traf, die alle über unsere Köpfe in den gegenüberliegenden Wald flogen. Wären wir auf den Feind zufällig in einer Ebene getroffen, es hätte ein furchtbares Blutbad gegeben; denn die Kugeln wären in die dichtmassierten Haufen gegangen. Was noch übrig geblieben wäre, hätte die Reiterei niedergemacht. Zur Flucht wäre uns wenig Zeit geblieben. Das Terrain schützte uns nicht nur vor Verlusten, es begünstigte auch die Flucht. Wohl kamen auch Verwundungen vor, denn so mancher schoß seine Jagdflinte von hinten über uns hinweg in den Wald und traf die eigenen Leute. Ich suchte nun meinen Weg heimwärts. In allen Dörfern, die ich, einer der wenigen noch mit meiner Sense zur Seite, passierte, wurde ich von weinenden Weibern umringt und um Mitteilungen über den Ausgang des Kampfes bestürmt. Denn die zu allererst geflohene berittene Bürgergarde aus Ödenburg, die den Ausgang nicht kannte, hatte überall in den Dörfern die Mär verbreitet: »Was nicht erschlagen ist, ist gefangen.« Mitternacht traf ich im Heimatdorfe ein – auch hier Jammer und Verzweiflung. In der Straße wurde ich umringt, denn ich kam vom Feldzug – direkt aus der »Schlacht«. Nachdem ich über unsere Heldentaten ausführlich berichtet, alle über ihre Angehörigen beruhigt, nahm mich die Mutter – stolz auf ihren Heldensohn – in ihre Arme, und verhungert und todmüde, wie ich war, ließ ich mich laben und – legte die Waffen nieder. Die brennenden Dörfer in unserer Nähe bezeichneten uns den Weg des vorüberziehenden Korps Jelacié.


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[33]

In Wien folgten die Oktobertage, die Stadt wurde belagert und eingenommen. Mein Bruder, der mittlerweile Reichstagsabgeordneter wurde, ging mit dem nach Kremsier verlegten Reichstag dahin. Dieser Reichstag wurde bald aufgelöst, die radikale Linke, darunter auch mein Bruder, flüchtete zumeist nach Amerika. Für mich gab es nun in Wien nichts mehr zu suchen. Die Schulen waren geschlossen, und wenn auch nicht – ich hätte mich dort nicht mehr halten können. Und so trat ich am 1. Oktober 1848 zur er sten Geige des Theaterorchesters in Ödenburg (Direktor Kottan) mit einer Monatsgage von 8 fl. ein. Um gelegentlich öffentlich spielen zu können, brauchte ich einen Frack, zahlte dafür 3 fl. monatlich, 3 fl. Zimmermiete. Von den restlichen 2 fl. mußte ich alles übrige bestreiten; ich hungerte und fror – aber ich hatte einen Frack und tatsächlich sollte er bald sein Debüt machen. Der Ballettmeister forderte mich auf, in seinem Benefiz ein Konzert auf der Bühne zu spielen und ich spielte. (D-Dur-Konzert von Bériot). Das verschaffte mir bedeutendes Ansehen bei meinen Kollegen. Nur mein Nachbar, der Konzertmeister (wir waren im ganzen nur zwei erste Violinen) war verstimmt und rächte sich. In der Oper »Zampa« sollte auf Wunsch des Sängers in einer Probe eine schwere Geigenstelle um eine Terz transponiert werden. Mein Kollege macht sich mit den Saiten zu schaffen und läßt mich die Stelle allein spielen. Ich hatte die Oper nie gespielt (es war mein erstes Theaterengagement) und ich scheiterte kläglich. Aber man merkte die Bosheit gegen den jungen Unerfahrenen und es schadete weiter nicht.


*


Im Sommer 1849 ging die ganze Theatergesellschaft nach Raab. Von unserem Orchester ging ein einfaches Streichquartett,[34] unserer Viere, in fester Gage mit. Meine Wenigkeit als Primarius mit 12 fl. Gage. Das übrige wurde für Gesangspossen dort ergänzt und täglich bezahlt. Im Schauspiel besorgte ich mit meinen drei Quartettgenossen die Vor- und Zwischenspiele allein. Ich führte Quartette von Onslow und Reissiger auf, für das Publikum einer kleinen ungarischen Stadt wohl kaum das richtige Programm. Der Vorhang erhob sich und ich mußte mitten im Takt abbrechen. Alles in allem ein mäßiger Genuß.

Quelle:
Goldmark, Karl: Erinnerungen aus meinem Leben. Wien, Berlin, Leipzig, München 1922, S. 27-35.
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