Meine Kindheit

[11] Ich wurde am 18. Mai 1830 in Keszthely in Ungarn geboren. Mein Vater war Kantor und Notär der Gemeinde. Meine Erinnerung reicht bis in mein zweites Lebensjahr. Ein Stadtwachmann (Heiduck) kam ins Haus und trug mich auf seinen Armen ins Komitatshaus zur Impfung. Es scheint damals wenigstens in diesem Orte Impfzwang geherrscht zu haben. Noch seh ich deutlich das Gesicht des Mannes, das Zimmer, das mit grünem Tuch überzogene Doppelpult, darüber freischwebend ein gesticktes Glockenband mit Messinggriff; ich sah den Arzt, den Messerstich – damals wurde noch gestochen. Ich denke, einen strammen Jungen von drei Jahren läßt man schon nebenher laufen. Da ich aber getragen und auf dem Arm des Heiducken geimpft wurde, dürfte ich kaum älter als zwei Jahre gewesen sein.


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Von Keszthely übersiedelten meine Eltern nach einem Dorfe Táb, wo wir ein Jahr verblieben. So wie den Schafen vom Besitzer ein Zeichen eingebrannt wird, so erhielt auch ich eine ungarische Marke zeitlebens. Bei der unpassierbaren Dorfstraße – den Straßenkot eines ungarischen Dorfes im Winter vor 70 Jahren kann man sich nicht genug großartig vorstellen – wurde ich rittlings auf dem Rücken eines Hausgenossen von irgendwo nach Hause getragen, als ich plötzlich einen heftigen Schlag auf den Kopf fühlte, den ein Bub des Nachbars (Konaz, Schafhirt, vulgo Räuber) mit gut gezieltem, spitzem Steine ausführte. Ich hatte eine große, tiefe Wunde und noch heute ist die große Narbe sichtbar.[11]

In meinem vierten Lebensjahr zogen wir nach Deutsch-Kreutz, einem Dorfe bei Ödenburg. Dort verblieb ich bis zu meinem 14. Jahr. Mein Vater hatte in seinen beiden Eigenschaften als Kantor und Notär, wie man es damals nannte, ein Gehalt von 200 fl. jährlich und 12 lebende Kinder um sich, mit den verstorbenen 21 oder 24, ich bin darüber nicht genau informiert. Selbstverständlich gab es da weder französische Bonnen noch Hofmeister. Das ältere mußte das jüngere erziehen, das heißt des Morgens waschen, kämmen usw. Dann wurde die kleine Herde ins Freie gelassen, die auf Feld und Wiesen tollte – bis zur nächsten Fütterung, die kärglich genug ausfiel.

Quelle:
Goldmark, Karl: Erinnerungen aus meinem Leben. Wien, Berlin, Leipzig, München 1922, S. 11-12.
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