Meine einzige Begegnung mit Wagner

[80] Das erstemal sah ich Richard Wagner in einer Konzertprobe. Er studierte die »Tannhäuser«-Ouvertüre, verlangte gleich eingangs vom ersten Hornisten die ersten Takte des Chorals mehr gebunden. Nach zwei-bis dreimal vergeblichen Probierens sagte der erste Hornist: »Ich bitte, Herr Meister – diese Stelle ist auf dem Horne nicht zu binden.« Hierauf Wagner: »Ja, mein Lieber, wofür wären wir denn Künstler?« Und die Stelle kam gebunden.

Richard Wagner kam bekanntlich anfangs der Sechzigerjahre nach Wien, um seine Konzerte zu leiten, wohnte, wie[80] ebenfalls bekannt, in dem nahen Penzing bei Wien – ich in dem benachbarten Unter-St. Veit.

Eines Abends ging ich lesend übers Feld, es war bereits starke Dämmerung. Da hörte ich in der Ferne schreien und sah zwei Männer auf mich zukommen. Ich dachte, sie wären ein bißchen angeheitert und setzte mich auf einen Stein, um sie vorüberzulassen. Als sie näher kamen, erkannte ich Richard Wagner mit einem meiner Bekannten. Wagner war es, der so schrie; er klagte über das zu schnelle Tempo eines Chores im »Lohengrin« in der Wiener Aufführung und sang eben die Stelle, wie sie sein sollte. – Nach dem ich vorgestellt war, begleiteten wir ihn zu seiner Villa und da klagte er sehr über seine damaligen materiellen Verhältnisse. Ich kannte bereits »Tannhäuser«, »Lohengrin« und aus seinen letzten Konzerten Fragmente aus »Meistersinger«, »Walküre«, »Siegfried« und war voll Enthusiasmus. Es war mir ein überaus schmerzliches Gefühl, es schnitt mir ins Herz, diesen Mann so klagen zu hören. Obwohl ein Feind jeder sentimentalen Pose, entfuhr mir doch mit einer gewissen Herzenswärme die Bemerkung: »Aber, verehrter Meister, finden Sie keinen Trost in dem Bewußtsein Ihrer Größe, Ihrer Unsterblichkeit?« »Ach was, lassen Sie mich,« sagte er, »was hat's damit! Cherubini lag im Sterben – und das war ihm unangenehm, er wollte nicht sterben und wehrte sich und jammerte über sein nahes Ende. Als nun Berlioz den Sterbenden an seine Unsterblichkeit erinnerte, wendete er sich mißmutig ab mit den Worten: ›Machen Sie keine schlechten Scherze!‹«

Seither bin ich dem Meister nicht mehr gegenübergestanden. Wenige Wochen nachher kam ja das Wunderbare zu ihm – König Ludwigs Botschaft! Wagner ist dann nur noch ein- oder zweimal nach Wien gekommen; aber allerlei Zufälligkeiten haben eine neuerliche Begegnung verhindert.[81]

Quelle:
Goldmark, Karl: Erinnerungen aus meinem Leben. Wien, Berlin, Leipzig, München 1922, S. 80-82.
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