Auf der Straße.

[62] Unser Benehmen auf der Straße ist ein Gradmesser unserer Bildung. Viele sind sich über ihr Verhältnis zum Straßenleben nicht klar. Sie schätzen den Charakter der modernen Straße nicht richtig ein, legen ihr teils die Intimität eines Wohnraumes, teils die idyllische Ungebundenheit eines einsamen Wiesenpfades bei. Beides kommt ihr nicht zu.

Die Straße ist für alle die Verbindung zwischen Haus und Beruf, der Weg zwischen Ruhe und Arbeit – ein Verkehrsweg für alle. Wir bilden einen Teil der Allgemeinheit, wenn wir uns auf der Straße bewegen und haben uns ihren Gesetzen zu unterwerfen.

Das Grundgesetz, das die meisten anderen in sich schließt, lautet: Unterlasse alles, was irgendwelche Geringschätzung gegen deine Mitmenschen andeutet! –

Straßenleben ist im gewissen Sinne nur sehr erweitertes Gesellschaftsleben – der Raum hat sich gedehnt – die Teilnehmer haben sich derartig vermehrt, daß wir nur wenige oder auch gar keine persönlich kennen. Aber alle haben wir durch unser Benehmen zu respektieren.

Daher ist es selbstverständlich, daß wir uns nur in einwandfreier vollständiger Kleidung – eben im Straßenkleid zeigen. Man geht nicht ohne Handschuhe, versenkt nicht seine Hände in die Mantel- oder Hosentaschen und schiebt den Hut nicht in den Nacken.[63]

Eine Dame schafft um sich Abstand, wenn sie Schleier trägt. Jeder Mangel, jede Nachlässigkeit in der Kleidung drückt eine Mißachtung gegen unsere Mitmenschen aus. Je tadelloser und vollkommener unser Anzug ist, desto mehr sind wir gefeit gegen Anrempelungen.


Vornehme Menschen haben niemals Eile – wenigstens zeigen sie diese Eile nicht durch Hasten und Rennen, sondern bedienen sich nötigenfalls entsprechender Hilfsmittel. Doch ebenso unfein ist zu langsames, nachlässiges Dahinschlendern. Man schlenkere nicht mit den Armen.

Langes Stehenbleiben auf der Straße, um mit Bekannten zu sprechen, überlasse man den Dienstmädchen ... Damen der guten Gesellschaft stehen nicht übermäßig lange vor Läden und Schaufenstern still, vermeiden es auch möglichst, in ein Gedränge zu kommen und nehmen selbstverständlich nicht als müßige Gaffer an einer Menschenansammlung teil. Herren lassen sich in keine Händel ein.

Zu den primitivsten Kenntnissen des guten Tons gehört es, auf der Straße nicht überlaut zu sprechen und zu lachen, nicht zu pfeifen und zu essen, die Vorübergehenden nicht zu begaffen, niemanden anzurempeln und dreist ins Gesicht zu sehen, nicht auszuspucken und nicht zu den Fenstern der Bekannten hinaufzusprechen.

Drei miteinandergehende Personen haben einer entgegenkommenden den Durchgang zu gewähren, indem sich eine von der Gruppe loslöst. Zwei Personen haben sich nicht zu trennen.[64]

Kutscher und Wagen ruft man mit einer Handbewegung. Feine Damen sitzen nicht beim Kutscher. Schirm nnd Stock trägt man nicht unter dem Arm. Die feine Dame hat nicht übermäßig viele Pakete. Hat man das Unglück jemanden zu stoßen, so entschuldigt man sich. Damen hebt man hinuntergefallene Gegenstände auf.

Ein schöner Gang, vornehme Haltung, beherrschte Mienen und dazu eine tadellose Kleidung müssen in schöner Harmonie zusammenwirken und uns mit jenem undefinierbaren Etwas umgeben, das uns gleichsam unseren Mitmenschen gegenüber unangreifbar macht.

Werden Damen von unbekannten Herren angesprochen, so entgegnen sie kühl: Ich wünsche nicht belästigt zu werden.. oder: Sie irren sich – ich mache keine Straßenbekanntschaften. –


Das Grüßen gehört zu jenen Dingen, die wohl jedem Menschenkind – wenn auch in mehr oder weniger mangelhafter Form – beigebracht werden. Es ist für manche Menschen die ganze »Kinderstube«, die sie genossen haben. Sie wissen wenigstens, daß sie grüßen müssen, wissen auch noch, wen sie grüßen sollen. – Nur das Wie, die Art des Grußes verrät oft, daß ihnen der nötige Schliff fehlt.

Das Grüßen ist, oft die einzige Empfehlung, die wir anfangs für uns sprechen lassen können.

Auf der Straße bedient man sich des stummen Grußes, außer bei Freunden und Bekannten.

Es zeugt von wenig vornehmer Gesinnung, denen den Gruß zu verweigern, die uns nun nicht mehr nützen oder nicht mehr schaden können.[65]

Man beobachte und übe die elegante Art des Grüßens, – falls man es nicht gründlich in der Tanzstunde gelernt haben sollte – damit man nicht in lächerliche Steifheit oder gezierte Unnatürlichkeit verfällt. Herren haben es zu vermeiden, den Hut hoch über dem Kopf schwebend zu führen oder ihn so zu halten, daß man sich gegenseitig nicht sehen kann. Gewöhnlich grüßt man auf zwei Schritte Entfernung, bei Personen, die wir besonders ehren wollen, auch schon etwas eher; dabei bleibt man auch stehen und hält den Hut abgezogen, bis der Betreffende vorbei ist.

Herren grüßen im Stehen, indem sie sich verneigen und dabei den Hut in die rechte Hand nehmen. Sitzen sie, so haben sie sich vor Höhergestellten und Damen zu erheben und stehen zu bleiben, bis die Begrüßung vorbei ist. Nur bei ganz guten Bekannten oder Freunden ist es gestattet, sitzen zu bleiben oder sich nur halb zu erheben und dann gleich wieder zu setzen.

Damen haben das Vorrecht beim Grüßen meist sitzen bleiben zu dürfen. Sie erheben sich nur, wenn sie ältere und im Rang über sich stehende Damen oder Herren von ganz besonderem Range zu begrüßen haben. Ein Herr bietet auch beim Grüßen einer Dame nie zuerst die Hand, er müßte denn sehr viel älter oder von sehr hohem Range sein.

Durch Wegsehen einem Gruße auszuweichen, wird meist so ungeschickt inszeniert, daß es nur als Ungezogenheit aufzufassen ist.

Es müssen sehr gewichtige Gründe sein, die uns veranlassen dürfen, einen Gruß nicht zu erwidern. Wir müssen diese Gründe auch jederzeit vertreten[66] können; deshalb dürfen wir nicht bloßen Launen oder momentaner Verlegenheit nachgeben.

Das Leben zwingt uns zwar manchmal impertinent sein zu müssen. Es gibt einige gesellschaftlich sanktionierte Mittel dies auszudrücken – (man gebrauche sie jedoch nur im äußersten Falle): Ostentativ auf die Füße zu sehen oder ihn mit dem Lorgnon betrachten, gehört zu diesen Impertinenzen.

Späte Abendstunde und Dunkelheit befreien von der Pflicht grüßen zu müssen; es kann da unter Umständen ein Gruß sogar als Taktlosigkeit empfunden werden.

Bei Entschuldigungen nehmen Herren den Hut ab. Als Mangel an Selbstbeherrschung und als Unerzogenheit gilt es, vorübergegangenen Personen nachzusehen oder gar Bemerkungen über sie zu machen. Mag die Versuchung dazu noch so groß sein – ein feiner Mensch tut so etwas nicht.

Wenn er eine Dame nur von der Gesellschaft her kennt, darf sie ein Herr auf der Straße nicht ansprechen. Die Dame müßte sich sonst unter irgend einem Vorwand rasch entfernen. Begleitet man eine Dame nach Hause, so ist es sehr unfein unten am Hause noch stehen zu bleiben.

Bedenken wir immer, daß unser Verhalten auf der Straße der weitesten Kritik ausgesetzt ist. Es sind verhältnismäßig wenig Menschen, die wir in den Kreis unserer Häuslichkeit ziehen und wir können sie uns aussuchen. Hingegen haben wir auf der Straße ungezählte Kritiker, die uns oft entgehen und deren abfälliges Urteil wir in unliebsamen Folgen zu verspüren bekommen.

Quelle:
Gratiolet, K. (d.i. Struppe, Karin): Schliff und vornehme Lebensart. Naumburg a.S. 1918, S. 62-67.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Angelus Silesius

Cherubinischer Wandersmann

Cherubinischer Wandersmann

Nach dem Vorbild von Abraham von Franckenberg und Daniel Czepko schreibt Angelus Silesius seine berühmten Epigramme, die er unter dem Titel »Cherubinischer Wandersmann« zusammenfasst und 1657 veröffentlicht. Das Unsagbare, den mystischen Weg zu Gott, in Worte zu fassen, ist das Anliegen seiner antithetisch pointierten Alexandriner Dichtung. »Ich bin so groß als Gott, er ist als ich so klein. Er kann nicht über mich, ich unter ihm nicht sein.«

242 Seiten, 11.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon