Takt.

[12] Seine Wurzeln sind tief in unserem Wesen verankert, ja man kann sie gar nicht davon loslösen – Takt ist schlechthin nicht erlernbar.

Takt ist ein angeborenes Gefühl für das Schickliche, eine immerwährende, unbewußte und selbstverständliche Rücksichtnahme auf die Rechte und Gefühle anderer Menschen.

Takt äußert sich als die Fähigkeit andere nicht in Verlegenheit zu bringen, nicht zu verletzen, nicht Lügen zu strafen, nie zu stören und über peinliche Situationen hinwegzugleiten. Takt ist nicht aufdringlich; in seinem Wesen liegt es, daß sein Fehlen mehr in die Erscheinung tritt als sein Vorhandensein und daß wir Taktlosigkeiten sofort empfinden, während uns taktvolles Benehmen als schöne Selbstverständlichkeit vorkommt.

Takt ist auch edler Stolz und Würde uns selbst gegenüber und eine Richtschnur für Entschlüsse heikler Art.

Takt ist dem seelischen Schamgefühl verwandt, das nicht erlernbar und auch nicht empfindbar ist, wenn man es nicht hat.. Aus diesem Grunde werden es z.B. manche Menschen nie begreifen, daß öffentliche Liebkosungen, auch wenn sie legitimster[12] Art sind, von feinen Naturen als peinliche Geschmacklosigkeit empfunden werden. Takt gebietet, nach außen immer Haltung zu bewahren und dadurch unanfechtbar dazustehen. Wenn unsere Privatangelegenheiten nicht immer die Kritik der Oeffentlichheit vertragen, so ist das eine Sache für sich, und derjenige begeht eine Taktlosigkeit, der sich in Dinge mischt, die ihn nichts angehen. Es ist keine Heuchelei, sondern nur Takt und Haltung, wenn man die Oeffentlichkeit mit intimen Angelegenheiten verschont und sie nicht herausfordert. Man halte also schon aus diesem Grunde gewisse Beziehungen und Verhältnisse geheim und nehme sich nicht jene Kreise der Bohème als Vorbild, die platte Schamlosigkeiten der sogenannten Heuchelei vorziehen zu müssen glauben.

Takt ist die Atmosphäre, die uns das gesellschaftliche Leben möglich und angenehm macht. Nicht aufzuzählen sind alle jene Taktlosigkeiten, die bei dem Mangel dieses Gefühls begangen würden.

Ein taktvoller Mensch wird alles Leidenschaftliche, alle zu stark ausgeprägten Sympathien und Antipathien als seine eigenste Angelegenheit betrachten und die Gesellschaft nicht zwingen, dazu Stellung zu nehmen. Er wird sein Temperament stets seinem Taktgefühl unterordnen. Ein einzelner gesellschaftlicher Taktfehler kann mehr Schaden anrichten, als berufliche Tüchtigkeit je wieder gut machen kann. In jeder Lage ist Takt eine unschätzbare Waffe; immer wird der Taktlose dem Taktvollen gegenüber im Nachteil sein.

Takt kann man nicht anlernen und andrillen wie äußere Manieren und gute Formen. Er gründet sich[13] nicht allein auf Herzensgüte, sondern auch auf Intelligenz und rasches Auffassungs- und Ueberlegungsvermögen, das jede Lage schnell und richtig überschaut, um dann aus der Fülle einer reichen Natur die richtige Gabe auszuwählen.

Takt ist die sublimste Blüte eines kultivierten Seelen- und Gemütslebens. Nur wenn wir an unserer tiefsten Selbstveredelung arbeiten, schaffen wir dieser zarten Pflanze gute Lebensmöglichkeiten. Doch angebornes Taktgefühl kann auch überwuchert werden durch Disziplinlosigkeit: in der Zerstreutheit und Impulsitivität können auch einem feinfühligen Menschen manchmal Taktlosigkeiten unterlaufen. Aber er wird dann auch das einzig passende und versöhnende Gegenmittel finden.

Quelle:
Gratiolet, K. (d.i. Struppe, Karin): Schliff und vornehme Lebensart. Naumburg a.S. 1918, S. 12-14.
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