Ueber den Wert guter gesellschaftlicher Formen.

Es ist zweifellos eine bedeutungsschwere Lücke in der Erziehung vieler Menschen, daß man sie ins Leben hinaus entläßt, ohne ihnen die nötige Unterweisung in guten Lebensformen gegeben zu haben. Sie müssen sich in diesem Punkt mit den oft sehr mangelhaften Kenntnissen bescheiden, die ihnen eine mehr oder weniger mangelhafte Erziehung gelegentlich zukommen ließ und sich im übrigen darauf verlassen, was ihnen das Leben später meist gegen hohes Lehrgeld beibringt.

Sonderbar – Haus und Schule setzten ihren Ehrgeiz darein, ein junges Menschenkind in körperlicher und geistiger und sittlicher Beziehung möglichst gut auszurüsten, damit es den Kampf ums Dasein, die Konkurrenz im Beruf erfolgreich bestehe. Man vermittelt ihm Kenntnisse, man stählt seinen Körper durch Gymnastik und Sport und prägt ihm sittliche und religiöse Grundsätze ein – aber auf eine systematische Erziehung zu gesellschaftlichen Formen glaubt man verzichten zu können, begnügt sich mit gelegentlichen Hinweisen und verläßt sich im allgemeinen auf die Abschleife-Arbeit des Lebens.

Und doch rügen und verurteilen die Menschen nichts mehr als einen groben Fehler auf diesem Gebiet. Man verzeiht uns leichter eine Lücke in unserm[7] beruflichen Wissen und auch einen Mangel an Tugend, schwer aber eine Taktlosigkeit und einen groben gesellschaftlichen Verstoß.

Die Menschen verlangen die Bildung auf diesem Gebiet, ohne sich eigentlich darum zu kümmern, woher sie uns wird – ja ohne sie vielleicht selbst in ausreichendem Maße zu besitzen. Und während sie uns bei allen andern Schwächen hilfsbereit beispringen und unsere Mängel zu beheben helfen, strafen sie unsern gesellschaftlichen Bildungsmangel nur zu oft mit Boykott.

Es könnten einem Menschen viel Lehrgeld, viel unangenehme Situationen und viel beruflicher und gesellschaftlicher Mißerfolg erspart werden, wenn man ihm über gute Lebensart etwas lückenlosere Kenntnisse vermitteln wollte.

Verlangt man doch auch nicht von einem schlechten Schwimmer, daß er ins Meer hinaus schwimme und von einem waffenlosen Soldaten nicht, daß er den Kampf aufnehme.

Nur in die Flut des gesellschaftlichen Lebens und in den Kampf ums Dasein schickt man die Menschen mit mangelhafter Ausrüstung und sieht mitleidslos zu, wie sie sich durchschlagen.

Mit ein wenig Lebensart wäre einem Menschen in wichtigen Augenblicken oft mehr gedient, als mit verstaubten Schulweisheiten, für die er zeitlebens keine Verwendung hat. Wenn die Examensnöte vorbei sind, fragt ihn niemand mehr nach den Punischen Kriegen oder nach dem Linnéschen System, aber alle kreiden es ihm an, wenn er mit dem Messer ißt oder bei einer Vorstellung den Namen der Dame vor dem des Herren nennt.[8]

Die Beherrschung der gesellschaftlichen Formen ist natürlich auch für unsern beruflichen Erfolg von großer Bedeutung. Nur zu oft geht aus der geschäftlichen Konkurrenz, z.B. bei Bewerbung um eine Stellung, nicht der als Sieger hervor, der die meisten Kenntnisse hat, sondern derjenige, der sich und sein Können am besten zur Geltung zu bringen weiß, der den besten Brief schreibt und durch angenehme Umgangsformen und gewandtes Auftreten imponiert. Doch auch im außerberuflichen Leben wird jeder, der über Schliff verfügt, viel besser auf seine Rechnung kommen als einer, der seine vielleicht hervorragenden Qualitäten hinter einem ungefälligen Wesen, schlechten Manieren und unbeholfenem Benehmen verbirgt.

Nicht zuletzt erhöht es doch auch die Freude an uns selbst und bedeutet somit eine Steigerung unseres Lebensgefühles, wenn wir das Bewußtsein haben, überall leicht und sicher aufzutreten und durch äußere und innere Gewandtheit unsere Person angenehm auf unsere Mitwelt wirken zu lassen.

Alles das gelingt uns nur, wenn wir Lebensart haben.

Quelle:
Gratiolet, K. (d.i. Struppe, Karin): Schliff und vornehme Lebensart. Naumburg a.S. 1918, S. 7-9.
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