Kindheit und schwere Lehrjahre.

(1786–1804.)

Seit Jahren schon wurde mir nicht nur im Familienkreise, nicht nur von Freunden und Bekannten, sondern auch in Zeitschriften gesagt: ich solle meine Erlebnisse der Lesewelt mitteilen. Fast immer hörte und las ich dies schweigend, innen aber sagte ich mir: ja, wäre das in erster Hälfte meiner Vergangenheit mir glaubhaft oder auch nur mutmaßlich gewesen, dann könnte mir die Aufgabe durch mehr schriftliche Hilfsmittel sehr erleichtert sein; jetzt hätt' ich zu wünschen, das Sprichwort: »wer Anfang macht, hat halb vollbracht«, beweise sich diesmal als gründlich wahr. – Mir wollte es nicht so scheinen, wenn ich jenem Anmahnen zu folgen mir vornahm; denn frühzeitig in mich hineinlebend, ohne sonderliche Aufsicht und Leitung stillem Betrachten überlassen,[17] scheint's mir, ich hätte vom Kindeswesen und seinem Glück weithin mehr geträumt als erfahren. So unklar hinsichtlich meines Einschreitens in das Wirkliche des Lebens, finde ich mich bald in seltsamer Abtrennung, in einsamer Selbständigkeit, auch mitten unter Anderen, wobei mir aber Begriff und Absicht mangelten; denn in meinem Empfinden war ich überschwenglich und schwärmend, wie dies gegen das Ende des achtzehnten Jahrhunderts noch in der geistigen und gemütlichen Nahrungslust des deutschen Volkes lag. Bei dem Rückblick auf damalige Verbindung meiner gradaus strebenden Gedanken mit der Zerfahrenheit des Gefühls sehe ich ein, es sei ratsam, von der durch Entbehrnisse bedrückten Jugend vor den Jahren, ehe mein Name öffentlich genannt wurde, nicht viel mehr als das Unerläßliche zu erwähnen – soweit man selbst zu beurteilen vermag, was etwa hierin unerläßlich ist, oder mindestens irgendeine Bezüglichkeit hat für den Zweck dessen, was geschildert oder berichtet werden soll.

Wie schon angedeutet, hatte ich bis über die Hälfte meiner Jahre keine Ahnung davon, daß man jemals mich selbst mitbetreffende Gedenkblätter für die Öffentlichkeit von mir begehren würde; ich erließ mir also bei stets hinlänglichster, nicht selten kaum zu überwindender Beschäftigung fast alles Aufzeichnen von Begebnissen und Einwirkungen. Da ist mir mein Anton, mein noch im ersten Mannesalter (am 3. Dezember 1857) gestorbener zweiter Sohn zu Hilfe gekommen. In seinem Nachlaß fand ich eine kurze Geschichte meiner Erlebnisse, wie er sie Familiengesprächen und öffentlich Zerstreutem entnahm. Seine handschriftlichen Umrisse will ich zuerst benutzen und so ausführlicher entwickeln aus[18] meinem Gedächtnis, das nur ärmlich unterstützt wird von auffindbaren Hinweisungen, die allmählich mir ergiebiger werden müssen durch Briefe, Hand- und Druckschriften. – Voraus sei aber bemerkt – mit der Bitte, es nicht zu vergessen – daß ich diese Aufzeichnungen im Jahre 1864 begonnen habe, und sie wegen anderweitig verwickelter Geschäftstätigkeit nur allmählich fortsetzen konnte.

Leipzig ist meine Geburtsstadt, der 27. Februar 1786 mein Geburtstag. Getauft bin ich lutherisch, mag hierzu den Beisatz »protestantisch« nicht entbehren, aber zugleich hege ich Achtung und Duldsamkeit für jede auf diese Eigenschaften begründete, das Edle fördernde Glaubenslehre.

Mein Vater, Johann Christoph, war zur Zeit meiner Geburt in Leipzig Schriftsetzer in der Buchdruckerei des durch mannigfache Tätigkeit nach Verdienst sehr geschätzten Johann Gottlob Immanuel Breitkopf. Dieser beschäftigte ihn meist bei Werken in fremder Sprache, weil er zum erwählten Beruf mehr als gewöhnliche Vorkenntnisse mit brachte.

Es sei mir erlaubt, vorweg hier des Vaters zu gedenken, überhaupt der Herkunft unserer Familie einen kurzen Bericht zu gönnen. – Erst seit dem dreißigjährigen Kriege lebten unsere Vorfahren in Deutschland; nach der ältesten Überlieferung hatte sich ein schwedischer Offizier Gubitsteenin eine schöne und wohlhabende Schneiderstochter aus Gotha verliebt, sie wider Willen seiner Eltern geheiratet, und sei enterbt worden. Er studierte dann die Rechte in Jena, wohnte als Advokat in Schleusingen; seinen Namen hatte er in Gubitz abgekürzt. Zu Anfang des 18. Jahrhunderts beweisen vorhandene Druckschriften[19] die Verwandlung in Gubitz. Mein Ururgroßvater war Rentamtmann im Weimarschen, in der Nähe von Capellendorf, mein Urgroßvater Pfarrer in Goldlauter, zugleich Schriftsteller. Die Familie besitzt nur ein Buch von ihm: »Emblematischer Zeitvertreiber« (der vollständige Titel ist: »Emblematischer Zeitvertreiber, das ist: auserlesene Sinnbilder, mit Sprüchen, Historien, Gleichnissen und anderen Realien, sowohl aus heiliger Schrift als Profanskribenten; erkläret, mit Kupfern gezieret und zu nützlichem Gebrauch und Übung im Christentum zum Druck befördert von Caspar Christoph Gubitz, Pfarrer in Goldlauter. – Schleusingen 1726«) mit einer geharnischten Vorrede gegen »des Momi Geschlecht«, gegen die »Rezensenten«. Davon darf ich in der Folge mir selbst etwas widmen als Strafpredigt, wenn ich zu erwähnen habe, daß ich, trotz der scharfen mit biblischen Zeugnissen bewaffneten Warnung meines Vorfahren, mich doch »des Momi Geschlecht« beigesellte – beigesellen mußte. – Mein Großvater war Arzt und Kreisphysikus im Hennebergschen, wohnhaft in Suhl. Er hatte in Jena studiert, und ich erfuhr während meiner dortigen Studentenzeit im Anfange jetzigen Jahrhunderts, daß er als einst »bemoostes Haupt« und geschickter Schläger sogar noch einen Nachhall burschenschaftlichen Russ vererbte, weil er höchst willfährig die Waffe ergriff für jeden beleidigten Freund, daneben auch dienstbereiter Fechtmeister war. Er starb, wenig über vierzig Jahr alt, ohne Vermögen zu hinterlassen; meine Großmutter, eine kraftmächtige, heißblütige Thüringerin, die den Reichtum des in der Nähe belegenen Weinhändlerdorfes Benshausen anstaunte, entschloß sich, Mittel zur Pflegung ihrer drei Kinder ebenfalls durch den Weinhandel[20] zu erzielen, »en gros«, wie man zu sagen beliebte, obwohl fast nur Frankenweine lagerten in den geräumigen Kellern des Hauses, das sie sich später, um es den Benshäusern nachzutun, in dem Marktflecken Heinrichs bei Suhl stattlich genug mit selbsterworbenem Gelde erbauen ließ. Ihren ältesten Sohn Christoph brachte sie in Zucht und Belehrung nach Coburg zu dem Herzoglichen Pagenhofmeister Martini, mit dessen Zöglingen zugleich empfing er denselben Unterricht, und dadurch jene Befähigung, die ihn als Schriftsetzer in der Folge auszeichnete. In seinem fünfzehnten Jahre mußte er sich des Weinhandels annehmen, wozu er keine Neigung in sich spürte und da er das Unglück hatte, während des Geschäftsbetriebs durch einen Sturz mit dem der zeit für Reisen sehr gebräuchlichen Pferde einen Kniescheibenbruch zu erleiden, wollte er eine andere Lebensbahn erwählen. Da die Mutter mit ihrer starren, vielleicht durch den kostspieligen Bau von ihren Zuständen verstärkten Strenge sich dem Entschluß widersetzte, flüchtete er nach Schleusingen, und der nun Sechzehnjährige ward Lehrling in der dortigen Buchdruckerei. Seine Selbsthilfe bewirkte bei der Mutter eine so unüberwindliche Aufregung, daß sie sich fast gar nicht mehr um diesen Sohn bekümmerte, ihn auch nicht wiedergesehen hat, obwohl sie bei manchem widrigen Schicksal ein hohes Alter erreichte, das endlich doch eine briefliche Versöhnung herbeileitete.

Begreiflich ging nun der Sohn mühevoller Zukunft entgegen, leicht und gern täuscht aber darüber der jugendliche Mut, der ihn auch hinwegtrug über zagende Betrachtung, als er schon im Anfange seiner zwanziger Jahre sich verheiratete mit der ebenso schönen, als[21] wackeren Agathe Goll, Tochter eines armen Webermeisters in Schleiz. Mein Vater lernte sie kennen in der Häuslichkeit des Schleusinger Lehrherrn und erzählte oft, sie habe in den durch wütende Hungersnot berüchtigten Jahren 1770 und 1771 die Woche hindurch alle Brosamen gesammelt, sie dann Sonnabends in der Nacht von Schleusingen nach Schleiz zu ihren Eltern getragen, und Montag morgens sei sie doch stets wieder bei der Wirtschaftsarbeit gewesen. Dies und desgleichen ist auch gar nicht zu bezweifeln, denn meine durch sparsamste Wirtschaftlichkeit sich auszeichnende, jedes Hilfsmittel emsig benutzende Mutter war nach kampfes- und mühereichem Leben noch in ihren achtziger Jahren voll herzhaftester Kräftigkeit. – Von Schleusingen wandten sich die Verheirateten nach Leipzig; der junge Ehemann fand schnell seinen Platz als Schriftsetzer, mietete jedoch anfangs in Naundorf eine ländliche Wohnung, der Wohlfeilheit wegen, was um so notgedrungener war, weil meine bedürftigten Großeltern mütterlicherseits nachfolgten.

Bei meinem ersten Bewußtsein schon etwas vom Kümmerlichen fühlend in einer mit nicht hinlänglichem Erwerb zu ernährenden alljährlich zahlreicher werdenden Familie, habe ich wenig Genaues von ihren Verhältnissen auf dem Dorf und in Leipzig erfahren, weiß darüber nicht viel mehr, als was mich selbst betrifft, und da ich schon im fünften Altersjahre meiner Geburtsstadt fern war, knüpft sich auch dies nur an geringe Erinnerungen. Die eine führt es in mein Gedächtnis, wie zwei ältere Brüder, um vor unserer Leipziger, an der Endtiefe eines Hofes belegenen, durch einen offenen Wagenschuppen verdunkelten Wohnung eine Rasenbank[22] zu haben, das dazu Erforderliche von einer Wiese holten. Damit unbekannt, daß dies verboten war, wurden uns die Rasenstücke am Tor unter allerlei Bedrohungen abgenommen. Auch ich trug etwas von der sündlichen Beute auf dem Kopf, und der heftig scheltende Torbewacher stieß mich an zu der Rede: »Un Er, kleener Knirps, schmeiß' Er nur ooch weg, un weeß Er was, Er soll zur Strafe Querpfeifer wer'n!« Das war mir ein unbekanntes Wort, und lange habe ich mir unter »Querpfeifer« das Entsetzlichste gedacht. – Eine andere Erinnerung leitet mich hin nach dem mir lieben Kirchhof, wo ich Gellerts Denkstein sah, jedes Grabgewölbe hinter eisernem Gitter mich schauerlich geheimnisvoll anwehte. Weinend verließ ich ihn im Herbst 1790, da mein Vater mit der Mutter, mehreren Kindern und jenen Großeltern nach Berlin übersiedelte. Stetigen Fleißes hatte sich der Vater, von Breitkopf angeregt, versuchsweise in Sonntags- und Sommerabendstunden mit dem Holzschnitt, dann mehr mit dem Stahlschnitt beschäftigt, und dieser wurde begünstigt durch einen Zeitzweck. – Bald nach der Mitte des vorigen Jahrhunderts verehrten Schulgelehrte die lateinischen Buchstabenzeichen so sehr, daß sie mit zäher Ausdauer in öffentlichen, mit vielen Fremdwörtern verputzten Erklärungen verlangten, man solle auch das Deutsche nur mit lateinischen, nicht mit den »abnormen und abominablen« deutschen Buchstaben drucken. Breitkopf widerriet dies eifrigst, bemühte sich aber, weil der Streit durch die Verlateinerten ein hitzig hartnäckiger wurde, um tatsächliche Ausgleichung, indem er durch Abrunden die deutschen Buchstaben den lateinischen nähern ließ, was jedoch rechts und links nur befremdlich wirkte. Nun[23] mischte sich der Berliner Buchhändler und Buchdruckereibesitzer Johann Friedrich Unger ein. Er hatte sich für den damaligen völlig gesunkenen Zustand der Holzschneidekunst in ihrer altherkömmlichen Weise andern Beteiligten gegenüber hervorgetan und befand sich im Jahre 1789 während der Ostermesse in Leipzig. In ähnlicher Weise wie Breitkopf beabsichtigte er, die deutsche Druckschrift annehmlicher zu ändern; da er sich aber mit dem Stahlschnitt, oder, um den eigentlichen Ausdruck zu gebrauchen, mit dem Stempelschneiden erfolglos plagte, beredete er meinen Vater, der bei dem hohen Alter Breitkopfs – er starb 1794 – Einschränkung im Geschäft befürchtete, nach Berlin zu kommen, wo er wöchentlich fünf Taler empfing. Die ersten neuen Schriften entstanden nach Ungers Angaben: sie waren in ihrer halb bauchigen, halb gereckten Gestalt weder lateinisch noch deutsch, nur gesucht seltsam, mißfielen auch allgemein, und nun übertrug es Unger meinem Vater, nach eigenem Ermessen zu arbeiten. Die dann brauchbar und vielen beliebt gewordenen, nachmals aber doch durch gesteigerten Veränderungstrieb anders umgestalteten sogenannten »Ungerschen Schriften« müßten also nach billigem Recht mit dem Namen meines Vaters bezeichnet sein, was ich noch bei dessen Lebzeiten schon vor mehr als fünfzig Jahren öffentlich auszusprechen für Sohnespflicht erachtete.

Mit vier Geschwistern, die sich mehrten, durch frühzeitiges Hinsterben aber wieder verminderten – sonst wären wir zusammen dreizehn gewesen – war ich nah am Ende meines fünften Jahres in Berlin, wo bei der Mutter regsamsten Aushilfsmitteln das geringe Einkommen nicht zureichte. Der älteste Bruder wurde Setzerlehrling in der Langhoffschen Buchdruckerei, die[24] andern Kinder waren allmählich erwerbsmäßig beschäftigt, die Großeltern machten sich nützlich durch Spinnen für das Lagerhaus, und weil viele Sorgen sich doch meist überwinden ließen, überwand man sie selber zuweilen durch Sorglosigkeit. Mir hatten anfangs sehr enge Hofwohnungen, dann aber eine der besseren in Ungers Hause, und da war dem Vater noch eine abgetrennte Werkstätte eingeräumt.

In meinem sechsten Jahre wurde ich Freischüler in einer Bürgerschule, auch ein Bruder und eine Schwester fanden dort unentgeltliche Annahme, und für den Vorsteher, Michaelis, werden Dank und Liebe in mir nie enden. Denn nicht nur nahm er sich bald im Vorzuge meines Unterrichts an, uns drei Geschwistern erwies er auch manche Wohltat. Da unsere Eltern weitab wohnten, wir mittags in der Schule blieben, täglich nur neun Pfennige empfingen, jedem von uns zu einem Dreierbrote bestimmt, stillte er uns oft mit Speiseresten den Hunger, und wenn nach damaligem Übereinkommen in den Jahrmarkstagen Süßigkeiten, zum erlaubten Vorteil des Schullehrers doppelt bezahlt, den Schülern und Schülerinnen gereicht wurden, konnte sein gutes Herz nicht zulassen, daß wir leer ausgingen: wir erhielten umsonst dasselbe, was die andern für erhöhten Preis erkauften. – Er war ehedem Schneidergesell, hatte sich aber durch Lerndrang und umsichtige Bestrebsamkeit für die Leitung einer damaligen Bürgerschule zu einem tüchtig wissensreichen, sehr geschätzten Lehrer erhoben, und es hat mich im Jahr 1862 innigst gefreut, daß bei einer in der »Spenerschen Zeitung« enthaltenen »Geschichte des Berliner Schulwesens« meines ersten kenntnisvoll und gemütlich wirkenden Lehrers mit Auszeichnung gedacht ist.[25]

Der biedere, mir offenbar allzu wohlgeneigte Michaelis stellte mich, wenn er einmal seinerseits eine Versäumnis nicht vermeiden konnte, in meinem neunten Jahr bei der Abteilung für Mädchen an, um im Verein mit seiner Tochter die Übung der untersten Grundlagen des Lesens, Schreibens und Rechnens zu beaufsichtigen. Das waren aber böse Stunden; dem weiblichen Anwuchs schien mein Einschieben mutmaßlich – ich meine: nicht ganz ohne Recht – beleidigend, und ich kleines Bürschchen hatte manchen Schabernack auszustehen. – Um diese Zeit sagte Michaelis meinem Vater mehrmals, ich sei befähigt, zu einer höheren Schule überzugehen, sogar die niederste Klasse zu überspringen; dazu wollte sich aber keine Möglichkeit zeigen: es war Erwerb und Vermeiden von Ausgaben nötig. – Deshalb wurde ich schon früher, und nun angelegentlicher, um auch etwas zum Unterhalt der Familie dienstlich zu werden, mit dem Gußabbrechen, Schleifen und Aufsetzen der Buchstaben in der Ungerschen Schriftgießerei beschäftigt. In dessen Druckerei war eben mein älterer Bruder als Schriftsetzer angenommen worden, und daß ich Sonntags seine Arbeit etwas weiter förderte, verschaffte mir hierin ebenfalls einen Anflug von Verständnis. – Ich sollte die Schriftgießerei erlernen, meine Neigung war streitend dawider. Ich las viel, las ohne Fähigkeit zur Auswahl alles, was ich erlangen konnte. Einen alten Buchbindermeister Kniep hab' ich nicht selten unerlösbar geplagt mit den Bitten, mir Bücher zu borgen; meist wurde er nachgiebig, gab mir dann Werke, die er zu binden hatte, ehe ihnen der äußere Schmuck angetan war. Jeden Band mußte ich aber am andern Tage zurückbringen, so daß ich manches teils nur im Überhasten, teils gar[26] nicht bis zum Abschluß lesen konnte, und nun mein Sinnen zu Rat zwang, um mit irgendeinem Ausgang mich zu beruhigen. In solchem Bezuge marterte mich am ärgsten Goethes »Wilhelm Meister«, der eben nur ersten Teils erschienen war, weshalb trotz alles Fragens Kniep und andere, die ich zur Buchbeisteuer preßte, mich vor dem Irrdenken nicht zu schûtzen vermochten. Wegen gänzlichen Geldmangels blieben Leihbibliotheken mir unzugängliche Schätze, ich mußte mir überall für meine Leselust den Beiweg suchen. Er führte mich hauptsächlich zu Druckereigehilfen, deren Besserungs- und sogenannte Aushängebogen ich aufmerksam nachspürte, sie auch in Fülle für kurze Frist erlangte, wobei mir besonders ein als »gelehrt« bezeichneter Schriftsetzer, Namens Fulda, zuwendlich, auch zurechtweisend nützte, was ihm unvergessen ist. – Damals war aber noch haupteinwirkend auf mich die vorherrschend idyllische Richtung in der Schriftwelt und dem Volkstrachten; meine traumhaften Gedanken schufen sich ein »dörfliches Paradies«, und da ich vermöge des Angelesenen allerlei sprach, was meiner Umgebung ungewöhnlich schien, entstand die im Familienkreise durch Selbstschmeichelei sich leicht einwurzelnde Meinung, ich sei zur Kanzel auserwählt. So gründete und steigerte sich in mir die Sehnsucht, Landprediger zu werden; bei unsern kargen, durch Krankheiten mehrmals drückender gewordenen Verhältnissen verschloß sich aber jede Aussicht zu Gymnasium und Universität. Doch fand ich Gelegenheit, etwas von alten Sprachen zu erhaschen, anfangs durch einen der Beschäftigung bedürftigen, vordem Student gewesenen, nun verabschiedeten Artillerie-Unteroffizier Schmidt, der infolge von Abenteuern während des siebenjährigen Krieges[27] preußischer Soldat geworden war, dann durch den Primaner und nachmaligen Kollaborator Bartsch, dem ich dafür allerlei abschrieb.

Ost dachte ich nun an meine Großmutter in Heinrichs; sie wurde als reich geschildert, war aber gegen sonst bereits minder wohlhabend, was sich später offenbarte. Hinlänglich wußte ich, daß sie Jahre hindurch meines Vaters Briefe kaum beachtete, dennoch wagte ich, demütig bittend, an die »Frau Doktorin, meine verehrte und barmherzige Großmutter« zu schreiben, ihr meine Wünsche und Hoffnungen aussprechend, erhielt auch Antwort. Die bei ihrer altthüringischen Hartköpfigkeit im tiefsten Wohlgesinnte, durch empfindlich verwickelte Umstände in vielfachem Verlust, bewilligte mir jährlich vierzig Taler, jedoch mit der unbequemen Anordnung, daß ich unter Aufsicht und Sorge eines ihr Befreundeten »in Wittenberg, in der Lutherstadt, Prediger studieren, und auf diesem Himmelspfade beflissen und treu verharren solle«. Zu der Reise waren vier Laubtaler dem Schreiben beigelegt. Mein Vater sah eine Näherung zu seiner Mutter in ihrer Willfährigkeit, er überwand nach mehrseitigem Zureden und Bitten seine schweren Bedenken, und weil ein mit unserer Familie bekannter Fuhrmann Lappe, der von Suhl Stahlwaren nach Berlin gebracht hatte, mit anderer Ladung zurückfuhr, wurde ich ihm anvertraut, um mich in Wittenberg abzuliefern, was bald nach Weihnachten 1795 geschah. Daß ich unterwegs fast immer dem Wagen nebenher zu laufen hatte, lieber aber voraus lief, war mir schon recht. Ohne Mißbehagen ertrug ich das Fahren nie bis in mein hohes Alter, und obwohl wir zum Erreichen meines Ziels, zu dreizehn oder vierzehn Meilen, drei[28] Tage brauchten, – nachts wurde eingekehrt – hat mich doch des Winters Frost verschont; mutmaßlich an sich mild, ward er mir vielleicht noch milder durch innen erwärmendes Frühlingshoffen für die gewünschte Zukunft.

Vergnügt kam ich mit meinem Geleitskasten voll nicht wertreicher Habe in Wittenberg an, fand aber den Befreundeten der Großmutter durch mein Erscheinen sehr unvergnügt. – Geborener Böhme, Namens Bedacz, hatte er einen Glashandel betrieben, auch für den Weinhandel der »Frau Doktorin« Flaschen geliefert, sich dann angeblich »zur Ruhe gesetzt«, haderte jedoch nun als grämlicher und kranker Witwer oder Hagestolz – ich blieb darüber im Dunkeln – mit seiner mich sehr mürrisch empfangenden Wirtschafterin Josephe. Für mich blieb er gleich nach dem ersten Tage meiner Beherbergung unzugänglich, immer nur hörbar durch sein Schelten und Husten, so daß ich, schauerlich märchenhaft befangen, still in dem mir angewiesenen Kämmerchen verweilte, wenn die gefürchtete Wirtschafterin mir nicht erlauben wollte, die Stadt und Gegend zu durchstreifen. Nach mehreren von ihr bevormundeten Tagen war ich froh, als die Unfügsame meine Verweisung in einen hinterbaulichen Bodenraum des einstöckigen, nur noch mit einer kleinen Erkerwohnung erhöhten Hauses bewirkt hatte. Denn daß meine Eltern und ich uns eingebildet hatten, die »Sorge des Befreundeten« im Briefe der Großmutter bedeute auch Wohnstätte und Nahrung, ergab sich aus den unverhüllten Reden Josephens während der ersten Woche, in der man mich genügend gastfrei behandelte, als empfindlicher Selbstbetrug. Die vierzig Taler hatte Bedacz in monatlichen Beträgen zu zahlen, weiteres solle und wolle er nichts tun, bekräftigte mit[29] heftiger Geberde die Gebieterin ihres Herrn, und folglich hatte ich den Bodenraum noch als Wohltat zu betrachten, obgleich ich mich mit dem Frieren sehr bekannt machte. Ich besaß noch ein Restchen der vier Laubtaler, erhielt von Bedacz den ersten Monatsbetrag: für einen, dem jeder Anspruch an ein Verbleiben fehlte, war einstweiliges Unterkommen, wo mir bei dem Allernotwendigsten zu einem Nachtlager volle Freiheit gelassen war, jedenfalls auch annehmlich. In meinem jugendlichen Glauben schien ich mir außer Not, sie hätte mich aber unzweifelhaft rasch überfallen, wenn nicht des Himmels Macht eingriff.

Gesegnet sei jener Bodenraum, er wurde wahrhaft zur Wohltat! – In dem Erkerbau nach der Straße hinaus, nur aus zwei Stübchen, Kammer und Küche bestehend, wohnte der »emeritierte« Lehrer Leest, nah an siebzig Jahr alt, mit seiner auchschon bejahrten Tochter, die man gelehrt nennen konnte. Wenige Tage nur hatte ich in jenem Bodengehege überstanden, da rief mich Christine Leestzu sich und dem Vater; zaghaft trat ich ein, wurde über meinen sehr treffend als »absonderlich« bezeichneten Zustand befragt, in so zutulicher Weise, daß ich mit aller Offenheit, endlich nicht ohne Tränen erzählte, wie und weshalb ich nach Wittenberg gekommen sei. Die beiden herzlich Gutmütigen überboten sich nun, ebenfalls nicht ohne Tränen, in freundlicher Verheißung zu jeder Hilfe, die mit ihren allerdings beschränkten Verhältnissen beschafflich sei. Sie haben ihre Zusage vollauf bewährt, haben mich ausdauernd unterstützt, ob auch mehr mit dem Geistigen als Leiblichen; doch taten sie zugleich hierin, was ein spärliches Einkommen vermochte, bis sich, was sehr bald[30] geschah, an derer Beirat dienlich machte. – Leest hatte ein Büchergestell; da standen altklassische und in Auswahl neue Werke, die ich sämtlich las, angeleitet von der Tochter, die mich lange Zeit hindurch mit ihren von mir angestaunten Kenntnissen förderte, nachdem Vater Le est mich geprüft hatte, und mit meinem Gelern mäßig zufrieden war. Er vermittelte nächstdem meinen beeilten Eingang in die höhere Bildungsschule, und obgleich mir nicht vergönnt wurde, die unterste Klasse überspringen zu dürfen, erlaubte man doch meine erste Versetzung schon zu Ostern 1796. – Dies Jahr machte sich bedeutsam in der europäischen Geschichte, und da Leest Mitempfänger des »Hamburger Korrespondent«, ich bald nebenher Mitleser war, gewann ich dadurch, und aus seinen bezüglichen Gesprächen mit der Tochter, einen ersten Halt für den Standpunkt zur Betrachtung der, seitdem wechselvoll vor- und rückwärts getriebenen Staatsumwälzungen. Überwiegend hatte sich damals die Teilnahme auf Bonaparte hingewendet, der im Siegeszuge glänzte und für den die Entflammtheit im Steigen war. Wenn der alte Leest betrübt äußerte: daß sich dabei sein deutsches Vaterlandsgefühl unwohl befinde, so begriff ich dies damals nicht, später aber in demselben Unwohlsein sehr gründlich, und ich habe mich oft damit trösten müssen, daß eine Allmacht die Gedankenlosigkeit einer leiden schaftlichen Volksmenge immer wieder zum Denken zwingt, aber auch immer erst nach der Strafe.

Mein Gedächtnis rühmten Leest und Christine als ein schnell sammelndes und bewahrendes; man nennt es noch jetzt zuweilen bemerkenswert, während ich bestimmt weiß, daß es gegen sonst sehr geschwächt ist. Bestens[31] bereitwillig muß es aber gewesen sein, weil ich bei vielem, im Weiterbericht zwischendurch anzudeutenden fremdartigen Bestreben und ungeahnten Hindernis innerhalb nicht voller fünf Jahre mich dennoch bis an die Prüfung zur Universität hineilte. Dazu half in jener Zeit, wo die Prüfenden sich an begrenzte und bekannte Anordnung hielten, vorweg und unermüdlich Christine Leest, die befähigt war, vom Cornelius Nepos bis Cicero, von einer »Chrestomathie« des Griechischen bis zum Homer – der eben durch sich dehnende Streitigkeiten der Sprachforscher den Amtsgelehrten mehr als je im Sinne lag – mich erklärend zu läutern. Verschwiegen sei aber nicht, daß bei den Schülern geheim zuweilen Übersetzungen als solche Brücke dienten, der man einen anrüchigen Vornamen gegeben hat; Vater Leest nahm aber dergleichen sehr übel. Wollte man sich jedoch etwa über eines Weibes Kenntnisse des Lateinischen und Griechischen verwundern, ist zu bedenken, daß im achtzehnten Jahrhundert gelehrte Töchter gelehrter Väter nicht selten waren, was dann auch andere Mädchen zur Nacheiferung reizte. Ohne dies erfahren zu haben, fühlte ich um so mehr oft mich beschämt und gebeugt von dem viel umfassenden Sprachvermögen Christinens. Da lachte sie mich einmal herzhaft aus und sagte: »Wär' ich so jung und wüßte mehr als du, ließ ich's gelten; bei mir alten Jungfer, die zum Lernen übermäßige Muße und tägliche Gelegenheit hatte, ist's kein Wunder, wenn sie mehr weiß als ein eigentlich noch kindisch alberner Junge!« Da war ich derb genug abgefertigt, und bin zweifelhaft, ob ich geziemend ebenfalls darüber lachte oder mich verletzt meinte; denn bei mancher Erinnerung stärkerer Bezüglichkeit muß ich mir gestehen, daß die Einsicht, gern[32] untertänig zu sein, wo es hingehört, keine Eigenschaft der Jugend ist, auch der meinigen nicht immer war, obgleich ich des billig Fügsamen mich befleißigte, wie dies meine allseitige Bedürftigkeit gebot. Christine Leest aber, obwohl ich ihr nicht nur bei dem Unterricht, sondern in allem, dessen sie sich annahm, fast unbedingt gehorchen mußte, lebt dennoch in meinem Empfinden, als wäre sie meine erste Liebe, und ihre bündige Entschiedenheit war von gesundem Eindruck, zumal für einen, der stets zum Zweck trieb, ohne zulänglich bare Mittel zu haben, und ohne den Weg messen zu können.

Aus meinem Bodenraum war ich durch Bemühung der Erkernachbarn bald entführt. Leest, der in Wittenberg studiert hatte und als Nachhelfer für Studenten das karge Ruhegehalt ausreichend zu machen suchte, war in seinem friedfertigen Sinn weit entfernt von der Entschlossenheit seiner Tochter: Beide ergänzten oder glichen sich gegenseitig aus in ihren Eigentümlichkeiten. Er hegte anfangs Furcht, sich den Nachbar Bedacz zu verschlimmern, wenn er sich einmischte; Josephe aber ließ wahrnehmen, daß ihr mein Weichen nicht unangenehm sei. Alsbald verschaffte mir Leest ein heizbares, aber etwas verdunkeltes Kämmerchen bei einem nicht sehr begüterten Böttchermeister, wofür ich nur sein Söhnchen, das seit ein paar Wochen in einer sogenannten Klippschule vorläufig das Festsitzen einübte, bequemer aus dem ABC-zum Lesebuch befördern sollte. Das tat ich nach des Meisters Urteil so löblich, daß er, obwohl ich ihm schon Mittwochs für ein Freiessen zu danken hatte, mich noch Sonntags vom Morgen bis zum Abend beköstigte. Seine Empfehlung veranlaßte einen ähnlichen Auftrag, der mir wöchentlich sechs Groschen eintrug, und da mir [33] Michaelis eine deutliche Handschrift, die man schön nannte, angebildet hatte, war ich zuweilen sehr mäßig bezahlter Abschreiber bei dem Universitätsprofessor Johann Jakob Ebert, der neben seinem Lehrfach der Mathematik für einen Buchhändler in Leipzig Erzählungen und Fabeln schrieb, nächstdem allerlei aus dem Englischen übersetzte. Bei dem Weihnachts- und Neujahrssingen der Schüler vor den Häusern erbeutete ich auch mein Teil an Zehrgroschen, so daß ich, des Entbehrens gewohnt, mich ohne Fernblick von Tag zu Tag durchwand, indem ich neben den zwei Freiessen und Brot mich mit Obst nährte, bis dies nicht mehr zu haben war. Jene Unvermeidlichkeit einfacher und sparmäßiger Sättigung halte ich gewiß mit Recht für den Urquell der mir zuteil gewordenen – Gott sei Dank! – beinahe niemals erschütterten Gesundheit, bin also dem Mangel unendlich verpflichtet.

Mein sonderbar waltendes Verhängnis tummelte sich und mich in nicht wesentlich verwandelter Art drei Jahre hindurch auf dem Lebenswege, und mit den Spuren der Erfahrung vereinten sich die der Unabsehbarkeit einer gesicherten Zukunft. Im Zerteilen der Zeit wurde ich natürlich bei regsamstem Eifer und stetigem Hinblick auf die Dorfpfarre der förderlichsten Bestrebungen nicht genugsam mächtig; mich beklemmte nun ein rastloses, ein unauflösliches Grübeln. Wie plötzlich war es mir aufgefallen, daß die Leute manchmal sagten: es wäre zu bewundern, so jung bereits unabhängig und selbständig zu sein in meinem Tun und Willen; in mir dämmerte die Ansicht: man könne eher abgetrennt sagen nach mehrseitigem Begriff. Das Wort »Selbständigkeit« prägte sich aber innen unentkommlich fest, doch plagte[34] ich vergebens meine wahnvoll lebhafte Phantasie mit Plänen und Entwürfen zur Erreichung des in meine Gedanken eingewachsenen Ziels, bei dem meine Unerfahrenheit voraussetzte, daß der Landprediger amtlich unabhängig sei.

Wie bereits im Jahre 1798 geschehen, eilte ich bei Anfang der Schulferien auch 1799 nach Berlin, traf bei Müdigkeit, die mich sehr geübten Läufer doch zuweilen überfiel, oft mitleidige Fuhrwerksinhaber, die mir eine Strecke des Weges erleichterten, und die erbetene Güte war mir willkommen, ob auch schon eine Meile des Fahrens meinen Körperzustand aufrührerisch machte. – Die Familie sah ich aus der Bedränglichkeit nicht erlöst; des Vaters Einnahme war wöchentlich mit einem Taler vermehrt, seine oft wiederkehrende Kränklichkeit aber im Zunehmen; recht gesund habe ich ihn eigentlich nie gekannt, dennoch erreichte er ein hohes Alter. Im Jahre 1799 weilten noch drei jüngere Geschwister zu Hause, zwei ältere Brüder befanden sich nicht in der Lage, zu den Bedürfnissen beisteuern zu können: als der Nächste hatte ich danach zu trachten, aber wie sollte es möglich werden?! – Das einzige, was mir in Berlin diesmal wieder als vorteilhaft begegnete, war des Kupferstechers Laurens freundliche Teilnahme. Er unterrichtete bei Michaelis im Zeichnen, seine schwarze Kreide schrieb auf meine gestümperten Blättchen zuweilen »Ziemlich«, und auch jetzt ließ er mich unter seiner Aufsicht zeichnen. Das fügte sich immer, wenn ich nach Berlin gelaufen war, wozu ich die Weihnachtszeit ebenfalls benutzte. – Laurens hatte noch manche Nebenarbeit, unter anderem für den Hofkonditor Eckstein eine Art Malerei, die mir nachher niemals wieder ansichtig wurde. Zum Tafelschmuck[35] bei vornehmen Personen malte er auf meist ovale Holzplatten, die zuerst mit Gummi bestrichen, dann mit weißem Marmorsand bestreut waren, allerlei Zieraten; das Bildwerk schien dann wie durch mannigfach gefärbten Zucker gefertigt. Da stets Eile bedingt war, half ich emsig an dem Untergeordneten, und Laurens dankte mir dafür mit Unterricht im Zeichnen und Radieren. Ihm gefiel meine Luft an jeder Tätigkeit, ein so gewohnter Selbstantrieb, daß ich von jeher und lebenslang mich am wohlsten befand, wenn ich überviel zu tun hatte.

Als ich nun im Jahre 1799 auf der Rückkehr nach Wittenberg war und von Berlin die Bekümmernis mitnahm, dem Vater drohe Erblindung, fielen mir im Hin- und Hersinnen längst geübte Spielereien ein. Am Schultisch hatte ich während kurzem Stillstande des Unterrichts in Stücke von zerbrochenen Schiefertafeln mit einem scharf gespitzten Nagel öfters die Zeichnung von Blumen und Häusern so eingegraben, daß sich die erhöht gebliebenen Striche mit Tinte abdrucken ließen zu großer Freude meiner Mitschüler; aus der Druckerei hatte ich auch eigene, freilich nur unklare Gedanken über den Holzschnitt mitgebracht, und mir ward zumut, er könne mich vielleicht der Zersplitterung meiner Zeit entziehen. Aber – vorweg war mir eben freiere Zeit notwendig, und zugleich Mehrerwerb: wie sollte ich dies vereinigen? Trüberen Wesens als sonst schritt ich in Wittenberg ein, wurde von meinem wirtlichen Böttchermeister, dessen Söhnchen nun schon mit der »Regula de tri« kämpfte, herzlich begrüßt; ach, in mir mußte ich klagen, nach außen tat ich es nicht. Fern blieb mir die Ahnung, daß ein Glückszug sich nahe, und doch war es so, es[36] war für den Augenblick ein rettender. – Etwa drei Meilen fern in der Umgegend bewirtschaftete ein Herr von Leipziger ein Landgut, seinen achtjährigen Sohn ließ er, der Schule wegen, bei einer Witwe Pavel, die Zöglinge in Pflege und Kost nahm, einwohnen, und suchte jemand, der bei den mäßigsten Ansprüchen dem Junkerchen zum Nachhelfer, mitunter als Begleiter dienen könne. Professor Ebert, den man fragte, brachte mich in Vorschlag, und ich wurde angenommen. Da erhielt ich erstens bei der Witwe Pavel ein hübsches Zimmerchen und sehr wohlfeile Beköstigung, zweitens monatlich drei Taler. Das war für mich bei dem, was ich schon hatte, und mir in Unermüdlichkeit meist bewahrte, zureichend. In jenem Zimmerchen sind während der Frühlings- und Sommermonate 1800 meine ersten Holzschnitte entstanden mit einem einzigen Messerchen und zwei kleinen Werkzeugen für die Vertiefungsräume. Während dieses Jahres nutzte mir noch besonders für die Schule der Philolog und Universitätsprofessor Zeune, indem er vermittelte, daß ich nur fünf Wochen der zweiten, im Lehrwesen schwachen Klasse angehören, dann auf Grund einer außergewöhnlichen Prüfung sogleich nach der ersten Klasse vorrücken durfte. Dies wurde der Anlaß zu der lebenslang treuen und tätig bewährten Freundschaft mit seinem Sohne August Zeune, dem nachmaligen Begründer und Vorsteher der Blindenanstalt in Berlin.

Etwas angegriffen von meiner sehr verwickelten Rastlosigkeit in zwölf bis vierzehn täglichen Arbeitsstunden, wanderte ich in den Sommerferien, die das Junkerchen bei seinem Vater durchlebte, wieder zu den Eltern, begleitet von zweifelhafter Hoffnung auf den Erfolg meiner[37] Versuche im Holzschnitt. Nur schlechte Abdrücke hatte ich mir machen können mit handlichem Abreiben, in Berlin schaffte ich mir mit einer kleinen Schraubenpresse bessere; sie wurden über Verdienst belobt. Bei Laurens zeichnete ich wieder, half ihm diesmal zum Dank seine Wohnstube malen, vermehrte auch meine sechs Holzschnittchen mit einem siebenten, das mir etwas gelungener schien, und welch eine Aufmunterung! – ich erhielt auch ein paar Bestellungen. Da eben eine akademische Kunstausstellung nahe war, wurde mir zugeredet, meine Erzeugnisse dort sehen zu lassen. Unbekannt mit dem vorschriftlichen Ordnungswege, brachte ich, in einem ärmlichen Anzuge von dunkelblau gefärbter Leinwand, die eingerahmten Blättchen zu Frisch, dem Maler und derzeitigen Vizedirektor der Akademie, der nah am Schlößchen Monbijou ein Haus mit großem Garten bewohnte. »Mein Jüngelchen, du bist hier unrecht«, sagte er zu mir, dem nicht hochgewachsenen Burschen; »das muß an den Inspektor oder Kastellan der Akademie abgeliefert werden.« Bei diesem Bescheide hatte er jedoch den Rahmen ergriffen und fragte: »Was ist das?« Meiner leisen Antwort: »Holzschnitt, es steht da auch auf dem eingesteckten Zettel«, folgte von ihm die Wiederholung des Wortes »Holzschnitt« und kurzes Schweigen, dann der Zusatz: »Wer hat das gemacht?« Nach der schüchternen Entgegnung »Ich« rief er aus: »Ei, solchen Holzschnitt habe ich noch nicht gesehen; – aber, mein Gott, wie alt bist Du denn?« Als er nun hörte: »Fünfzehn Jahr«, äußerte er lebhaft: »Das muß im Katalog angemerkt werden, laß nur den Rahmen hier, ich werde den Zettel dazu berichtigen.« – So ist im Ausstellungskatalog vom Jahr 1800 zu lesen:
[38]

»Von Herrn Friedr. Wilh. Gubitz.

Formschneider (15 Jahr alt).

162. Sieben Vignetten in einem Rahm. 17 Z.B. 13 Z.H.«


Der Ausdruck »Formschneider« war damals gewöhnlich, von mir aber nicht angenommen; ich habe weiterhin meine Überschrift »Holzschnitte« gelten lassen. – Frisch erkundigte sich in Fortsetzung des Gesprächs mit zutraulich gesteigerter Teilnahme hinsichtlich meiner Zustände, wurde fühl- und sichtbar wohlwollender, endlich nahm er von einem Marmortischchen unter dem Spiegel einen Teller voll Birnen und schüttete sie zu einem geneigten Abschied in meine Jackentaschen. – Dies Ereignis, an sich geringfügig, wirkte dennoch ermutigend, und den Heimgang begleitete das Hoffen auf die Zukunft in erhobener Stimmung. –

Jene sieben Anfangsversuche, sinnbildlichen Gedankens, aber künstlerisch unbedeutend, bei ihrem Unwert jedoch etwas zierlicher als die sogenannten Buchdruckerstöcke, die damals in Gebrauch waren für Bücher und Gelegenheitsgedichte, machten fortschrittlichen Eindruck. Von den Platten wurden für Buchdruckereien Abgüsse verlangt, die mein Vater in seinen Freistunden freudig anfertigte; noch vor dem Schlusse des Jahres 1800 hatten wir davon einen Erwerb von über hundert Taler, und obenein kamen sogleich Aufträge zu bestimmten Zwecken, namentlich zu bildlichen Erläuterungen für Lehrbücher. Ein so schneller Erfolg wird nur dadurch erklärlich, daß ich in Selbstbetrachtung mir sagte: die zum Holzschnitt bereitete Platte an sich würde bei dem Abdruck ein Massendunkel erzeugen, aus diesem ist das Bild zu lichten und hervorzuheben. Meine Unbehilflichkeit ward nun durch die[39] Wirkung verdeckt, indem ich von dem ursprünglich vorhandenen Tiefdunkel her möglichst Tonabstufungen zu erreichen suchte, die mit der einen Farbe eine Spur zum Malerischen andeuteten. Wie vorschreitend die Wirkung im Anblick und Erfolg war, erhellt – zum Beispiel – daraus, daß von meinen vier, auch noch nicht sonderlich gelungenen Platten zu »E.M. Arndts Reisen« der Buchhändler Heinrich Gräff in Leipzig in kurzer Zeit neben zwei Auflagen von dem durch eigene Tüchtigkeit geschätzten Werk, noch 4000 Einzelabdrücke der Holzschnitte bei dem hohen Preise von 2 Taler (für Kunst- und Buchhändler 1 1/2 Taler), verkaufte. Die Abdrücke wurden auf einer kleinen verbesserten Schraubenpresse besorgt von meiner geschickten, tatmutig unermüdlichen Schwester Wilhelmine, die dann auch die ebenfalls berührige jüngere Schwester Friederike dazu anlernte, wodurch beide zu gemächlicherem Zustande der Familie beitrugen bis zu ihrer Verheiratung, auch noch weiter hinaus, namentlich bei dem streng zu überwachenden Druck von Geldpapieren für verschiedene Bankgeschäfte. – Aus dem Jahre 1800 kann ich übrigens auch noch berichten, daß ich im Dezember bereits an einem beabsichtigten Papiergeld für Preußen arbeiten half. Ich besaß den wahrscheinlich einzigen noch dafür zeugenden, dem Hofrat Borck auf seinen Wunsch für das Königliche Kabinett überlassenen Abdruck zweier »Tresorscheine« zu fünf und einem Taler, deren Schriftinhalt von den Ministern Blumenthal, Schulenburg und Struensee unterzeichnet ist. König Friedrich Wilhelm III. verweigerte dann seine Bewilligung, und in Preußen entstand bekanntlich erst 1806 unter dem Minister v. Stein Papiergeld, von dem ich später zu erzählen habe.[40]

Nach Wittenberg nochmals zurückgekehrt – mehrere Tage über die Ferien hinaus, was mir aber in Betracht der Ursachen verziehen wurde –, behielt ich mein Zimmerchen, erlöste mich aber von allem, was meine eigene Bestrebungen erschwerte. Mit leidenschaftlichem Fleiß arbeitete ich vom frühesten Morgen an; der Bestellungen im Holzschnitt kamen von Berlin, dann zunächst von Leipzig so viele, und sie lohnten so gut, daß die drückenden Nahrungssorgen überwunden waren, bei meiner Genügsamkeit auch die Familie mit mir teilen konnte. Es war ja noch haushälterische Sitte, daß der Erwerb des Sohnes den Eltern zukomme, und ich habe, als ich schon ordentliches Mitglied und Professor der königlich-preußischen Akademie war, mich mit einem halben Taler wöchentlichen Taschengeldes beholfen, was sich tun ließ; denn ich hatte von je an weder Zeit noch Trieb, mir anzugewöhnen, was nur Mode oder lüsterne Gewohnheit unentbehrlich macht. Ohnedem drängte sich das strenge Haushälterische bald wieder in erhöhtem Grade ein durch neues Unheil.

Von dem durch meine Holzschnitte erregten, vermöge meiner öffentlich besprochenen Jugendlichkeit gesteigerten Aufsehen, fand sich auch Unger bewogen, mich nur für seine Vorhaben dauernd verpflichten zu wollen; ich ging aber auf seine ohnehin wenig ergiebigen Anerbietungen nicht ein, denn ich behielt noch immer den Landprediger im Sinn. Unger wollte ein »Orbis-pictus« herausgeben, und ich habe dazu etwa zwanzig, mir sehr mäßig bezahlte Platten gefertigt, von denen ich nicht einmal weiß, was aus ihnen geworden ist, weil das Werk nicht zustande kam. Im Gange der Unterhandlung erhöhte Unger meinem Vater den Wochenlohn, er blieb aber[41] oft aus und wurde endlich gar nicht gezahlt. Unger starb (1804); infolge des verschuldeten Nachlasses, an den auch der Vater nichtig werdende Forderungen hatte, zerfiel dies Verhältnis in sich selbst, und der Gram über das Vernichten seiner Stellung mag die Abnahme der Sehkraft bei dem Vater beschleunigt haben. Das Übel wuchs bis zur Erblindung, und die Ärzte konnten nach mancherlei Versuchen nur das eine geschwächte Auge retten. –

Doch ich bin den Ereignissen voraus, was zuweilen nicht anders sein kann, und muß einlenken zu dem, wodurch sich mir abermals Hindernisse entgegenwarfen. Kurz vor Ostern 1801 überstand ich, nach unvermeidlicher Beklemmung vorher, meine Abgangsprüfung an der Oberschule mit erleichtertem Atem; bei den Prüfenden sämtlich herrschte fühlbare Zuneigung für mich. Nun war ich willens, die preußische Universität Halle zu beziehen, das Schicksal drehte mich anders. – Die Großmutter war auch von dem, ein getrenntes Geschäft sich aneignenden jüngeren Bruder meines Vaters verlassen worden, dieser sollte nun einen der Söhne schicken, ihr im Alter beizustehen. Der älteste war in der Fremde, man wußte nicht wo; der zweite noch nicht völlig am Ende seiner Lehrzeit in Ungers Schriftgießerei, mir hatte die Großmutter Gutes getan: es blieb kein anderer Rat, ich mußte nach Heinrichs. Dort angekommen, sollte ich mit dem Weinhandel mich vertraut machen, wozu in mir weder Luft noch kaufmännisches Verständnis war; mich überfiel peinliche Verlegenheit. Der siebzigjährigen Großmutter legte ich ans Herz, daß sie selber meinen Trieb zur Kanzel unterstützt habe; infolge von mancherlei Reden und Zureden gedieh nun eine Ausgleichung, wonach ich[42] ihr nur kurze Zeit behilflich sein, dann doch jener zweite Bruder eintreten, ich aber nach Jena solle, um im Notfalle rasch herbeikommen zu können. Fürerst mußte ich Fuhrleute, die leeres Gefäß fortschafften und gefüllte Fässer heimbrachten, als Beauftragter und Inachtnehmer bis Heidelberg und zurück begleiten; dies ist das einzige, was ich im Weinhandel geleistet habe. Der viermonatliche Aufenthalt bei der Großmutter, wo ich den Holzschnitt nicht vergaß, hat aber Seltsames in sich, und ich muß darüber etwas ausführlich berichten, weil in meinem Lebensgange die Nachwirkung jener Tage erkenntlich wird.

Im Holzschnitt arbeitete ich auch bei der Großmutter fleißig; selten fehlte es an Bestellung, dann mehrte ich die Verzierungen für Buchdruckereien, die von Berlin aus in Abgüssen verkauft wurden. Solches Anwenden erster Versuche ließ die Absicht entstehen, hierhin mit meinen schwachen Kräften eine Verbesserung auszubreiten, was bei fortgesetztem Betrieb nachher durch die »Sammlung von Verzierungen für die Buchdruckerpresse« mit vielem Schmuckbildlichen zur Erscheinung kam. Während des Aufenthaltes in Jena hatte ich es schon bis zu sechzig kleinen Platten gebracht. Drang der Nahrungsnot machte sie aber, an Zahl verstärkt, im Jahre 1807 zum Eigentum der Deckerschen Hofbuchdruckerei. Das war Verlust für meinen Zweck, ich gab ihm jedoch allmählich seine einträgliche Zukunft. – Nebenher sei noch erwähnt, daß im Jahre 1801 mein Vater Abdrücke meiner Holzschnitte dem König Friedrich Wilhelm III. zusendete, und da dies für nachherige Zeit vielleicht Miteinfluß war, sei die Antwort eingeschaltet:

»Seine Königliche Majestät von Preußen haben aus der Eingabe des p. Gubitz vom 29. v.M., und den denselben[43] beygefügten Probe-Abdrücken ersehen, daß sein Sohn ganz gute Fortschritte in der Holzschneide-Kunst gemacht hat, und danken ihm nicht allein für die mitgeteilten Stücke, sondern wollen ihm auch dafür beigehende Zwei Stück Friedrichsd'or zum Geschenk übersenden.

Charlottenburg, den 6. Juni 1801.


Friedrich Wilhelm.«


Am Ende des Jahres 1801 war ich in Jena, wollte mich dort zurechtfinden; schweren Herzens sah ich ein, es könne nicht leicht gelingen, meine Zeit zu ordnen für die verschiedene Beschäftigung: möglich wer den mußte es jedoch, da der Landprediger im Gemütsplan hartnäckig feststand. Martini war mir Rat und Führer nicht ohne Kopfschütteln; ich blieb beharrlich, bekenne aber voraus, daß ich nicht selten mit den Heften älterer Studenten die Lücken der meinigen füllte, was übrigens andern ebenfalls kein Verstoß gegen den »Komment« war.

Im Januar 1802, nach dem Maße meiner nicht weitschichtigen Fähigkeit mit den Verhältnissen in Jena etwas vertraut, wandte ich mich ausschließlich zu dem, was auf Glaubens- und Denklehre zielte. Ich vermeide die Bezeichnung »Vernunftlehre«, denn ich lernte erst im Lebensverkehr, nur von ihm sei die Vernunft zu lehren, und man habe den Gesamtschulen schon sehr zu danken bei solcher Mitgabe der Zurechtweisung, die verhindert, sich in die Irre zu verlaufen, sich wohl gar in ihr zu gefallen. – Noch im Jahre 1802 waren die mehrseitigen Zerwürfnisse mit dem von der Universität Jena entlassenen Fichte lebhafter Zwiespalt der Gespräche; man pries oder verdammte seine anscheinend als unwiderleglich aufgestellten[44] Sätze und Schlüsse in das Übersinnliche hinein; man pries ein Mehrdurchleuchten, man verdammte ein Mehrvernichten des Übersinnlichen, je nach der Stellung, die man sich gab aus Glauben, Zweifel und Unglauben. Spinoza tauchte wieder auf, sein Geist sollte Waffen bringen für und gegen Kant; nach Fichte lehrte der jugendliche Schelling – meine Beurteilungskraft war zu unreif, um aus solchen Bewegungen in forschend zugespitzten und grübelnd verdunkelten Wortgeweben für mich den Leitstern zu finden. Es dünkte mir unerläßlich geboten, die streitkundigen Schriften im Dafür und Dawider zu lesen, um den Standpunkt derzeitiger Gegenwartskämpfe zu entdecken; bald aber wußte ich nicht, ob die »Wissenschaft des Wissens« mich zur Enge drängte oder in bodenlos Unbegrenztes hinriß. Eifrig aufmerksam hörte ich vor dem Lehrstuhl zu, emsig schrieb die geübte Hand nach; wenn ich aber in meinem Hofstübchen das Geschriebene las, ermittelte sich kein Pfad zu klaren Gedanken. Unter Ängsten und Tränen begann ich mein siebzehntes Jahr, und ward plötzlich mit mir einig, aus Furcht des Mißverstehens manches einstweilen gar nicht verstehen zu wollen, selbständig gradaus den einfachsten Weg zu erspähen. – Zu bestätigen habe ich nun allerdings: was ich von der Spinoza-Fichte-Schellingschen Lehre heimtrug, blieb mir fremd, mehr eine geschlossene als geöffnete Pforte zum Lebenswege, und als ich Jahre nachher in Berlin Fichtes Zuhörer war bei seinen Vorträgen, meinte ich auch, offenbar einen andern zu entdecken als jenen, den ich mir einst angelesen hatte. Zu beweisen ist auch wohl in bezug auf Jena und Berlin, daß hier der allzeit redlich tief- und aufstrebsame Fichte wirklich nicht derselbe war als dort, völlig[45] unbeschadet seiner Ehrenhaftigkeit. – Bin ich indes noch jetzt, nachdem ich in Berlin bis zu Hegel Gastzuhörer war, von Erkenntnis und Anerkenntnis eines »Absoluten« der Wissenschaft sehr entfernt, glaube ich doch mich nicht berechtigt, da zu urteilen, wo ich der Dinge nicht Meister werden konnte. Wer ein Etwas oder Vieles nicht verstanden hat, darf deshalb gewiß nicht bestreiten, daß nützliches Verstehen andern gelinge, obschon darüber die Einbildung manchem Weisheitsschüler die Einsicht nur vorspiegelt. Wie dem sei, hier habe ich es mit meiner Eigentümlichkeit zu tun, und die ging frühzeitig gern aus dem Wege, wenn es schien, man werde da oder dort eigentlich nur Lastträger zu einem Babelsturm. Zunächst brauchte ich bei meinem Doppelstreben unzweifelhaft mehr Stunden zum Vorwärtskommen im anwendbar Tätigen als ein forschendes Untersuchen über das mir bedingt Unwesentliche; ich schritt also in Jena und überall der sachlichen und gemütlichen Theologie entgegen, nahm daneben in mir nur auf, was an Verbindung des Wissens die künftige Prüfung voraus verlangte. –

Der Bibel war ich oberflächlich kundig durch wiederholtes Lesen, den Lerninhalt übereinkömmlicher Glaubenssätze brachte ich im Gedächtnis mit nach der Universität. Paulus half allmählich zu tieferer Eindringlichkeit, überwiegend vermöge seiner auf umfassender Kenntnis des Morgenlandes und der Geburtsstätten des Christentums gegründeten Erläuterungen. Von ihm, Griesbach undNiethammer war mehr zu empfangen, als sich in einer Dreijahrszeit – meinerseits nicht ohne unvermeidliche Verlängerung der Freiwochen – erschöpfend mir aneignen ließ. Ich sammelte geistig ein, soviel ich nach innen und auf dem Papier zu erwerben vermochte, folgte[46] der Umsicht nach den Richtungen gesunder Aufklärung, entfernt von einer anmaßlichen, wodurch vermöge öffentlicher Stimmen der überspannten Wohlmeinenden und dünkelhaften Erleuchter aus heißen Kämpfen fieberhaftes Aufregen im Volk ansteckend war. Niethammer gab im Geistigen dem Übersinnlichen sein Recht, ebenso dem Irdischen, zum Lebensgenuß Erreichbaren, ohne dem seelischen das sachliche Besitztum voranzustellen, geschichtlich warnend sogar einer Zukunft gedenkend, die in Vorteilssucht der Gemütswelt zerstörend sein könne, und er ist nachher im Zeitenlauf meiner Erinnerung zuweilen wie ein Verkündiger erschienen. – Auf demselben Wege, jedoch etwas abgeschränkter, wandelte auch der schon fast sechzigjährige Griesbach, dessen Mut, unerhitzt vom Weisheitshader um sich her glaubenstreu zu bleiben, mitunter Zaghaftigkeit genannt wurde, was mir aber seine grundklare Strenge im Rechtlichen bei vorherrschender Gutmütigkeit widerlegte. Griesbach war nicht nur in dem von ihm vielseitig durchforschten neuen Testament gelehrt fest, es war, als ob man bei seinen Vorträgen empfände, er lebe und schaffe, ohne innerhalb des Offenbarungsglaubens abergläubig zu sein, völlig im ursprünglichen Christentum. In meiner eigenwesigen Entwicklung erfaßte ich aber, was dem Geistigen angehört, oft heller mit dem immer wachen Gefühl als mit dem bis zum Ermüden nachgrabenden Denken, und wo beides eins wurde, fand ich mich am wohlsten geschützt und gestützt. – Die damals kreisende Folgerung: »Jeder wird ein Gegebenes des Denkens anders denken und anders denken müssen, um es selbst zu denken,« hatte für mich zwar die Wahrheit: was nicht durch Selbsterkenntnis bestätigt ist, hat man nicht,[47] aber das Gegebene war manchmal derart, um zu fürchten, es gleiche in der Lösung dem Auffinden des genauen Vierecks im Rund. – Soviel Anschau der Weltverhältnisse, als mir in solcher Jugend genügend sein mußte, sollte nicht die Zerfahrenheit einen Eingang gewinnen, empfing ich von jenen drei auch in ihrem Tun entschieden pflichtwackeren Männern, ohne mich auf eine Spaltung einzulassen dadurch, gleich vom Lehrstuhl aus ein Sicherungsgeleit zur Weisheit haben zu wollen vor der Erfahrung, die es auch dem schlußfertigsten Denkgelehrten beibringt, daß sie zuweilen eine härtere Lehrmeisterin ist als die Not. – Nach dem, was mir noch in hohem Alter aus Kopf und Herzen hervorklingt als Überzeugung von Sonst und Jetzt, wird ersichtlich, wie leid es mir war, daß Paulus und Niethammer Jena verließen und als Berufene nach Würzburg zogen, ehe ich mich von der Universität losbinden konnte.

Neben dem Wissenschaftlichen verwendete ich jede ihm abzumühende Zeit zum Holzschnitt, war täglich bis zu vierzehn Stunden, nicht selten noch länger in Tätigkeit. Die Großmutter gab ihre Unterstützung nur noch auf zwei Jahre; meine Arbeiten lohnten jedoch, namentlich durch Abgüsse von den Holzschnittplatten, soweit, daß ich die Lernerfordernisse, den Zins für mein Hofstübchen und das Mittagsessen bei dem Hauswirt, auch die andern geringen Bedürfnisse bezahlen, der Familie manchen Erwerb überlassen konnte. Um burschenschaftliche Ordensverbindungen – zwar verboten, aber nachsichtig geduldet – bekümmerte ich mich nicht, und zu Gasthausbesuchen taugte ich nicht, weil ich bis zum achtzehnten Jahr weder Bier noch Wein trank. Einzelne Lerngenossen, denen die kargen Geldmittel ebenfalls Zügel anlegten, wurden mir vertraut,[48] zum Teil mit überströmender Zuneigung in schwärmerischer Freundschaft, als ob der Göttinger Hainbund in Jena nachwirke, und besonders begünstigte einer, Johann Böschel, sechs Jahre älter und schulfester als ich, mit allem Genaueren mein Vorwärtseilen. – Spaziergänge in Spätabenden, vorzugsweise bei Mondschein, wenn fast aus jedem Gebüsch nach derzeitigem Gemütsdrang das Waldhorn, von jedem Strome die Flöte in einfachen Tönen sich vernehmen ließ, wurden zu labender Erholung in unterstützend erläuternden Gesprächen. Inneres Genießen ohne äußeren Aufwand, schon mit einem Grad von Gleichmut verstärkt, machte auch schlechtes Wetter zum guten, winterliches mild, enges Gemach zur Freistätte, das derzeit nur dämmernde Lampenlicht zur Sonne. – O wie empfänglich für den Zauberschein sind die täuschenden und dennoch beglückenden Träume und Wünsche auch der an Entsagung gewöhnten Jugend!

Mit Händeln blieb ich verschont, eine einzige Verwickelung kurz nach meiner Ankunft in Jena ausgenommen. Es befand sich eben eine junge Harfenistin dort mit ihrem die Flöte blasenden Bruder, dem man diese Verwandtschaft wegen anderer Bezüglichkeiten streitig machte, was ich nicht wußte, mir außerdem gleichgültig sein konnte. Bei ihrem Zusammenspiel war auch ich Zuhörer; ein paar Studenten behandelten das ihnen vielleicht schon bekanntere Mädchen unanständig, das reizte mein für Frauenwert anhängliches Gefühl zur Abwehr, zur Heftigkeit, und mir entfuhr ein derbes Wort. Wütig Geschrei erhob sich, es hieß, ich solle und müsse mich schlagen, oder – nun, das Entgegengesetzte, eine vorgeschriebene mich beschimpfende Abbitte, war mir unerfüllbar. Nie hatte ich bis dahin eine Waffe in der Hand gehabt, wollte ich aber[49] nicht Verruf kommen, war ich zum Bereitsein gezwungen. Gnädigst bewilligte man mir eine Übungsfrist von sechs Wochen, ich führte aber dann den Schläger noch immer sehr unbeholfen, empfing einen leichten Hieb rechts über die Stirn, der Gegner in demselben Augenblick über die linke Hand, und die Genugtuung war fertig. Das Urteil lautete: wir hätten uns beide stümperlich geschlagen; damit befriedigte sich mein Ehrtrieb vollkommen, der andere wurde grimmig, was zwischen einem Dritten und Vierten aus dem Wort- wieder ein Degengefecht in freudige Aussicht stellte, zur gefälligen Abwechselung auf den Stoß. Diesen auch schlecht einzuüben, dazu hatte meine mißratene Fechtkunst niemals Gelegenheit, trotzdem, daß ich im Jahre 1812 Landsturm-Leutnant wurde. – Übersichtlich herrschte, nebenher gesagt, im Burschenleben der Jenenser nur ausnahmlich Roheit, und dann gewahrte man die Rädelsführer bei derselben Verbrüderung.

Mit den Professoren und Personen höheren Standes wurde ich in ihren Familienkreisen nicht bekannt; hier eingeführt zu werden bedurfte man Empfehlungen, die mir fehlten, und stattliche Kleider, für die ich den Aufwand scheuen mußte. Doch habe ich, freilich nur im Hin- und Herschreiten über die Straße, und ohne die mir nachmals gewordene Näherung zu ahnen, Goethe und Schiller gesehen. Schon hatte dieser seine Wohnung in Weimar, besuchte aber mehrmals den von Eutin nach Jena gekommenen alten Voß, den ich auch sah, ebenfalls seine achtungswürdige Hausfrau Ernestine, die ich erst lange nach ihrem Hinscheiden durch Bücherkunde sehr liebgewann. Goethe war, wie man mir einflüsterte, dem vielen Grüßen abhold, ich lüftete bei dem Begegnen aber stets meine Mütze, und er dankte mir in vornehmer Haltung[50] mit anmutiger Handbewegung. Unbekannt war es mir geblieben, daß er in einem Bericht über die Weimarer Kunstausstellung meine Holzschnitte bereits 1802 freundlichst erwähnt hatte, infolge der ihm durch Zelter eingehändigten Abdrücke, die mit zur Ansicht kamen bei jener Ausstellung. – Nach dem mir einst nicht erreichbaren Schluß von »Wilhelm Meister« brauchte ich Goethe nicht zu fragen, über diese von Berlin mitgenommene Unruhe las ich in Wittenberg mich hinweg.

Während meines Aufenthalts in Jena ergriff ich zum erstenmal die Feder für die Öffentlichkeit. Die »Allgemeine Zeitung Nr. 235 vom 23. August 1802« enthält in dem Bericht: »Blicke auf die Leipziger Jubilatemesse« die Mitteilung:

»Unger bildete einen Schüler, dessen Fortschritte man schon jetzt den Triumph der wiedererweckten Holzschneidekunst nennen kann. Der gewinnvolle Gubitz hat seinen Künstlerruf durch einen Holzschnitt, eine Mondnacht vorstellend, trefflich beurkundet. Im Maistück des ›Brennus‹, einer sehr empfehlungswürdigen Berlinischen Monatsschrift, ist dies Probestück, worin man den glücklichen Nebenbuhler der Hewits und Andersons erkennt, als Titelkupfer gegeben worden.«

Ohne die haltlosen Angaben umständlich zu behandeln, entgegnete ich auf Grund der Wahrheit und seltener Anwesenheit in Berlin, daß ich nie Schüler Ungers war, noch sein, nur von meinem Vater haben könne, was mich neben allgemeinem Betrachten zu meinen Kunstversuchen geleitet habe.

Die Beschäftigung im Holzschnitt steigerte sich im Jahr 1803 besonders durch den alten Kunstkenner Christian von Mecheln, die Buchhändler Cotta, Gräff und [51] Vieweg, und nächstdem knüpften sich die ersten Geschäftsverbindungen an mit Firmin Didot in Paris und Ackermann in London. Vermochte ich nicht, meiner Arbeitszeit alle Anträge einzuschalten, immer war es mir Freude, die aber verleidet wurde durch zeitschriftliche Angriffe aus dem Bereich mehrerer verbündeten Kupferstecher. Nun mußte ich öfter schriftstellern, um mich zu wehren gegen die Behauptung, daß der Holzschnitt sich überlebt habe, jetzt fast völlig unnütz sei. Die ersten öffentlichen Angriffe berühren schmerzlich, doch mag dieser, in verschiedene Tagesblätter eingedrungene, seitens der Widersacher mit wachsender Erbitterung ausgestattete Streit den Eindruck meiner Arbeiten eher verstärkt als geschwächt haben, indem sich dafür die Aufmerksamkeit eifriger und rascher ausbreitete. Mir aber waren die Selbstverteidigungen ebenso lästig als mißstimmend, und so dienten diese Anfechtungen nur dem Entschluß, in meinem Zukunftsplan den Landprediger nicht wegzustreichen.

Gegen Michaelis 1803 wanderte ich wieder nach Berlin, und war durch die von Krankheit des Vaters und geschwisterliche Mißgriffe vervielfachten Anforderungen noch immer in bedrängter Lage; für mich allein wäre mein Erwerb mehr als hinlänglich gewesen. – Da saß ich eines Tages emsig vor einer Platte, als mich im reinlich dürftigen Stübchen ein Besuch überraschte. Es war der Erzieher des Prinzen Friedrich von Preußen, der nachmalige Geheime Rat Julius Reimann, und der Prinz kam mit ihm. Jener sammelte Abdrücke meiner Holzschnitte, wollte nun auch deren Entstehen seinem fürstlichen Zögling anschaulich machen und hatte nicht geglaubt, einen Siebzehnjährigen zu sehen. Er bat mich,[52] weiterzuarbeiten, ich erklärte, was zu erklären war; auf Befragen gab ich dann Bescheid über mein Bestreben und Ziel. Gemütlich forschend belebte Reimann das Gespräch, mir aber stockte die Rede in ängstlicher Verlegenheit bei der Einladung zu einem Abendessen, denn ich besaß kein Kleid für solche Gesellschaft: stumm mich verbeugen, das war alles, was ich in der Bestürzung zu tun vermochte. Unzweifelhaft erkannte Reimann mein beengtes Verhältnis, mir im Mitempfinden die Hand reichend, wünschte er für ein paar Tage mein Musterbuch, um es den höchsten Personen vorlegen zu können. Ich erhielt es zurück mit einem Geschenk von zehn Friedrichsdor, verbesserte ohne Erschöpfung des unerwarteten Schatzes meinen Anzug, war auch vor dem abermaligen Scheiden von Berlin im Prinzenpalais, bei Mitanwesenheit des damals neunjährigen Fürstensohnes, noch Gast Reimanns, der mir ein treuer Freund wurde, sich als treuer Freund bewährte bis zu seinem Tode, und meine vollste Dankbarkeit feiert sein Andenken. – Vor meiner Rückreise nach Jena, zum Schluß meiner Universitätszeit, sagte er mir: der König wünsche Abdrücke meiner neuesten Arbeiten im Holzschnitt zu besitzen; da fand ich zur Sendung mich verpflichtet. Sie konnte anfangs Dezember 1803 geschehen, und ich hatte bald nach den Weihnachtstagen die Freude, in einem Päckchen aus der elterlichen Heimat das folgende erste Kabinettsschreiben zu empfangen:

»Seine Königliche Majestät von Preußen lassen dem Fleiße des p. Gubitz gern auch Deroseits das Zeugniß widerfahren, daß diese Arbeiten schön ausgefallen sind, und wünschen dabey, daß der p. Gubitz in den beikommenden Zehn Stück Friedr-d'or eben so sehr eine Aufmunterung[53] für seinen Fleiß, wie eine Bestätigung jener Allerhöchsten Zufriedenheit in Empfang nehmen möge.

Berlin, den 22. Dezember 1803.


Friedrich Wilhelm.«


Bei jenem Aufenthalt in Berlin überwältigte mich zuweilen ein Leidgefühl: es war mir, als müsse ich Abschied nehmen von dem Wenigen, was ich kindliche Unbefangenheit nennen konnte, und dies Empfinden erregte sich hauptsächlich durch Blicke aus dem Fenster, wo ich arbeitete. Die elterliche Wohnung war, da jene in Ungers Hause andere Bestimmung erhielt, seitdem »am Bauhof«, an einem in jener Zeit vernachlässigten, ungepflasterten, nur mit wenigen Häusern bebauten Stadtteil, wo im Winter kaum ein Fußsteig zu finden war. Nebenan stand das sogenannte »Spukhaus«, mit seinen zertrümmerten Fensterscheiben und verwitterten Gestein im Eindruck schauerlich genug. Den gespenstischen Verruf empfing es, der Sage nach, weil dort ein Diener gewohnt habe, der in nicht unbegründetem Außersichsein im Eigentum seines Herrn Feuer anlegte. Zwar verlor durch den Brand kein Mensch das Leben, der Verbrecher aber war nach dem Gesetz zum Scheiterhaufen verurteilt, vom Kammergericht dann ein Gnadengesuch eingereicht bei Friedrich II. wenige Wochen vor dessen Hinscheiden; der König bestand jedoch darauf, das Gesetz müsse sein volles Recht haben. Der Verurteilte wurde verbrannt, sein Herr, den der sich forterbende Volksglaube an der Veranlassung zu der Freveltat beteiligte, verließ in Erschütterung sein Besitztum, und soll dies Haus verwünscht haben. Diese Hindeutung auf das nachbarliche »Spukhaus« mag nebenher beitragen zu dem Bilde jener Gegend in verschollenen Tagen. –[54] Gegenüber unserer Wohnung bot sich die Aussicht auf den mit einer hohen, auch schon altersmürben Mauer umschirmten Garten, der zum Schloßgebäude des Prinzen Heinrich, Bruder Friedrich des Großen, gehörte. Das sehr weitläufige Bauwerk war nur von des Prinzen, bald nach der Vermählung verlassenen Gemahlin, Prinzessin Wilhelmine von Hessen-Kassel, und ihrer aus wenigen Personen bestehenden Umgebung bewohnt: dort und im Garten machte sich Ode auffallend. Nur selten schlich die greise Herrin, begleitet von einer Hofdame und drei Hündchen, unter den kräftigschönen, köstlichen Bäumen fast lautlos umher: dann durfte niemand sich nahen. In anderer Zeit gönnte man den untergeordneten Dienstleuten ziemliche Freiheit im Garten, wohin mich der Enkel des Kastellans, Heinrich Kran, gern mit hineinnahm zu seinen, mir an Jahren überlegenen Bekannten, wenn ich wieder Berlin besuchte. Dort wurde nun in einem Rundteil allerlei vorgelesen; einmal abends bei reinstem Vollmondslicht erkühnte man sich auch zu einer Darstellung von »Schillers Räuber«. Des Schlosses, vom Garten aus linker Flügel, der verwahrloste, diente zum Turm für den »alten Moor« und »Franz«; die »Amalia« spielte der mädchenscheinige und feinstimmige Kastellansenkel, dessen Zukunft ihn zum Steuerrat erhob, und die ganze sehr andächtige Zuhörerschaft bestand aus der Familie des Großvaters und der sämtlichen Schloßdienerschaft bis zur Küchenmagd. – Der Prinz Heinrich kam alljährlich von seinem Rheinsberg nur für einige Tage, wenn Soldatenmusterung anbefohlen war, nach Berlin; dann stand sein Regiment im Schloßvorhofe nach der Straßenseite, der Prinz, von Offizieren umringt, zeigte sich oben auf dem Gittervortritt, und jeder Soldat[55] empfing ein Dreierbrötchen und ein Glas des besten Branntweins, man nannte ihn Zitronenlikör. Den Offizieren gab der Prinz ein Festmahl, das, laut Aussage des Kastellanenkels, vor Mitternacht nicht ende. Da hatte ich nun einmal im Vorhofe die Brötchen austeilen helfen, und gegen Abend spielten wir in einem völlig gerätlosen Saal des verwahrlosten Schloßflügels Kegel. Plötzlich öffnete sich eine der Türen – der Saal hatte deren vier – und rasch trat der Prinz herein. Erschrocken wollten wir entwischen, die nächste Tür war aber verschlossen, und wir vernahmen den Zuruf: »Halt da, keine Desertion! Ich hörte Spektakel, was macht ihr?« – Wir mußten stehen, zitternd berichtete der Kastellansenkel das Nötige, und der Prinz erwiderte lachend: »Poltrons ihr, kegelt weiter, ich werde Sozietär. Wie hoch?« – »Um Geld spielen wir nicht, Majestät!« antwortete ich etwa Dreizehnjähriger. Er lachte ärger, mir unbewußt lachte er natürlich mich aus, weil ich in meiner Unkenntnis der Titelei mit dem Zueignungsworte ihn erhöht hatte, und entgegnete nun: »Eh bien! Ich spiele gewiß miserabel, ihr könnt's riskieren!« – Mir mußten uns fügen; dem berühmten Feldherrn gehorchte die Kegelkugel in Wahrheit »miserabel«, und nachdem er eine Weile den Spaß mit Geduld versuchte, sagte er heiter: »Ich kaufe mich los, da teilt's!« Er warf zwei Taler auf ein Fensterbrett. Im August 1802 war Prinz Heinrich gestorben, 1803 das Schloß noch mehr verödet; von den damaligen Bekannten sah ich keinen, einer von ihnen hatte sich erschossen, ich erfuhr den Grund nicht. Mit Unheimlichkeit durchschritt ich ein paarmal die noch einsameren Baumgänge und dachte traurig des Vergangenen. – Jetzt ist der Garten nicht mehr ummauert; »Kastanienwäldchen« genannt,[56] wurde er zu freiem Wege, und das einst wüste Schloß zum ausgezeichnet schönen Universitätsgebäude, worin man hoffentlich allem Wüsten den Einlaß verwehrt.

Im Oktober 1803 zog der Trieb zur Kanzel die Hälfte meiner Tätigkeit zurück nach Jena, wo ich nun allmählich strichweise mich vorbereitete zur Prüfung. Böschel hatte sie überstanden, nachholend und vorschiebend blieb er mir kerngetreu, damit ich unaufgehalten den Universitätslauf beschließen könne. Fast peinlich besorgt plagte er mich, »um bei dem Examen nicht exanimiert zu sein«, wie er sich ausdrückte, rück- und vorwärts mit Interpretation, Exegese und Hermeneutik mehr als die Prüfung selber; jedenfalls habe ich jedoch seinen weitsichtigen Beistand gebührend herzlich zu achten. Für den März nächsten Jahres war mir die Prüfung verheißen, aber die Krankheit meiner Großmutter, dann wieder die meines Vaters, rief mich erst nach Heinrichs und von dort nach Berlin in dem harten Winter von 1803 zu 1804. Aufgetürmt lag Schnee im Wege, ich konnte nicht durch, mußte mich zum Postwagen wenden, was nicht durchgängig zu überwinden war: mein Leibliches empörte sich greulich. Hinfällig erreichte ich Berlin, und ward nicht sogleich meiner Kräfte mächtig. Eben war der Leipziger Buchhändler Gräff in Preußens Residenz, erkundschaftete die Wohnung meiner Eltern, und fand mich sehr angegriffen. Der mir Wohlwollende sagte: »Ihres Vaters Zustand hat sich gebessert, und Sie haben sich überarbeitet, mir auch zum Nutzen; ich halte mich verpflichtet, Ihnen eine Nachzahlung zu machen, dann sind Sie besser bei Kasse, kommen aber zu Ihrer Erholung mit mir nach Leipzig, wohnen bei mir so, daß Sie dort auch arbeiten können. Ich nehme hier ein Mietsgespann,[57] unterwegs kehren wir ein, so oft Sie wollen, und hoffentlich gewöhnen Sie sich bei solcher Reiseart an den Wagen.« – Der Vorschlag war allseitig annehmlich; wir brauchten fünf Tage bis Leipzig, übernachteten ein paarmal im Dorfkrug, namentlich auch in Krobstädt, wo Gräff mir einen noch sehr lebenslustigen, hundertjährigen Greis vorstellte. Der wollte wissen, wer ich sei, und nach Gräffs Antwort: »Ein Künstler«, fragte jener: »Herrje, wird heut schon gespielt?« Er kannte als Künstler nur Puppenspieler, und obschon ich bei meinem Fahrübel zum Lachen nicht geneigt war, es brach doch durch. Die Holprigkeit, die Schmutz- und Sandtiefen derzeitiger Landstraßen im Winter, nebst dem Ärmlichen der Wirtshäuser, würde jetzt gewiß mancher in der Beschreibung für fabelhaft halten. Wo wir hinkamen, war fast nichts zu haben als Kohlrüben und Eier; hinsichtlich der Wege sei aber nur erwähnt, daß wir vor dem Tor der Pleißestadt noch das Unheil hatten, bei Tauwetter mit dem Wagen umgeworfen zu werden. Mehr durchnäßt als Gräff fuhr ich dort ein; das so bedächtig angeordnete Fahren hatte aber doch das Widerstreben meines aufrührerischen Blutes nicht überwunden.

Gräff bewohnte ein ganzes, hohes, nur dreifenstriges Haus bei den anmutigen Gängen zwischen Bäumen und Gebüsch vor der Stadt; mir wurde, nur eine Treppe hinauf, das beste Geräum zugeteilt, wo ich, an gewöhnlichem Tischchen, mit meinem wenigen Werkzeug an einer Holzschnittplatte für Gräff, zu dem neuesten Roman der Christiane Sophie Ludwig, mich beschäftigte. Abends hatte er Gäste, oder wir waren es außerhalb: so wurde ich, immer wohlwollend begrüßt, mit mehreren Schriftstellern bekannt, nenne jedoch nur Mahlmannund Roch-[58] litz, weil dies erste Zusammenkommen der Anlaß einer dauernden Verbindung wurde. Bei Rochlitz war ich gastlicher Zuhörer einer Gesangsausführung; dann saß als Tischnachbar neben mir ein Weimaraner, ein auch noch junger, zufolge meiner nachträglichen Auffassung etwas irrlichterisch leicht auflodernder Herr v. Lynker. Im allgemeinen Gespräch war daran erinnert worden, daß Goethe schon über mich geschrieben habe – ich erfuhr es erst hier – und Rochlitz meinte: man müsse mir raten, auf dem Wege nach Jena zuvor im geistigen Glanzpunkt Weimar einzukehren. Herr v. Lynker war erbötig, mich in seinem Wagen mitzunehmen, blieb auch dabei, als ich ihn mit meinen Fahrfährlichkeiten warnte. Die mir erweckte Hoffnung, unsere Lieblingsdichter in ihrem heimischen Selbstwesen kennenzulernen, mischte sich mit dem Zureden, von Rochlitz und Mahlmann wurde ich mit Empfehlungsbriefen ausgestattet, und ein paar Tage später folgte ich meinem gefälligen, aber unzweifelhaft der Seltsamkeit anhänglichen Entführer. Die Landstraße war minder schlimm, abwechselnd ließ sich laufen; Herr v. Lynker tat es mit mir, so daß ich ungeschwächt in das damals durch Geistespflege bevorzugte sogenannte Ilm-Athen eintrat. Unterwegs bedauerte mein freigebiger Beschützer, daß ich Herder nicht mehr sehen würde – er schilderte ihn als tödlich krank – versprach, mich mit Wieland und Schiller in Näherung zu bringen; in bezug auf Goethe sei ihm dies aus Familienrücksichten schwierig, man müsse abwarten, wie es sich einfädeln lasse. Ich berief mich auf die Empfehlungsbriefe, er meinte: sie würden, weil der, immer in mannigfachen Verwickelungen tätige Goethe durch die Faschingstage noch mehr »im reißenden Strom der Anforderungen sei«, höchstens zu viertelstündigem[59] Empfang bei dem Staatsmann nutzen. Schon damit er klärte ich mich einigermaßen zufrieden, Lynker äußerte aber, auch ein solcher Erfolg wäre noch zu bezweifeln, man müsse versuchen, ihn irgendwie zu überraschen. – Meinerseits wurde auch noch unterweges erzählt, daß ich in Jena Goethe und Schiller gesehen, doch auch nur gesehen, hinsichtlich Schillers jedoch selbstverknüpft im Juni 1803 ein Lauchstädter Abenteuerchen mit erlebt habe. Dies wurde von einem Hallenser Studenten Ludwig Krahn, der im Jahre 1849 als Prediger starb, aufgezeichnet und die Handschrift mir, dem Jugendbekannten vom prinzlichen Schloßgarten her, geschenkt. Seine getreue Schilderung macht jede andere entbehrlich, und ihm zum Weihandenken werde sie hier erneuert eingefügt nach der Vorbemerkung, daß von der ersten Darstellung des Trauerspiels »Die Braut von Messina«, also auch von der ersten Begeisterung dafür die Rede ist.

»Im großen Zuge waren wir Hallenser Studenten nach Lauchstädt gekommen, um auf dem dortigen Theater in Gegenwart Schillers dessen ›Braut von Messina‹ aufführen zu sehen. Voll Erwartung des hohen geistigen Genusses war in uns viel Unruhe, und der kleine Badeort, wo die Steifheit sich sehr spreizte und die Schranken eitlen Weltlebens unter den Gästen schroff aufstiegen, machte sich uns viel zu enge. Glücklicherweise dachte keiner der Burschen an das Hasardspiel, wir schwärmten umher. – – Abends waren wir frühzeitig im Theater, und empfingen in schmetterndem Ruf bei Hand- und Fußgetöse den Dichter, der uns mit allen Gedanken und Gefühlen ›weg hatte‹, wie es in unserer damaligen Redeweise hieß. Das war eine Vorstellung, wie ich nie wieder erlebte und auch wohl nie wieder erleben werde, denn der Himmel sorgte für eine ungeheure[60] Steigerung des Eindrucks. Die gewaltige Tragödie rückte unter der aufmerksamsten und gespanntesten Stille der gedrängten Zuschauer noch nicht bis zur Mitte vor, da erschütterte ein mächtiger Donnerschlag das nur aus dünnen Mauern bestehende Schauspielhaus, und der wie ein Wolkenbruch niederstürzende Regen verbreitete bei rasch sich folgendem fast unaufhörlichem Donnergekrach ein solches Rauschen, daß man oft die Schauspieler gar nicht mehr hörte. Ein Teil der Zuschauer flüchtete, die Frauen mit Angstgeschrei, aus dem Hause, ich weiß nicht wohin. Die Schauspieler, anfangs äußerst bestürzt, faßten wieder Mut, aber sie bebten doch auch merkbar bei bezugreichen Stellen, so namentlich der ›Chor-Anführer‹, als er während des wirklichen Donnergerolles zu sprechen hatte:


›Wenn Wolken sich türmend den Himmel schwärzen,

Wenn dumpftosend der Donner hallt,

Da, da fühlen sich alle Herzen

In des furchtbaren Schicksals Gewalt.‹


Das Grausen steigerte sich bei dem bald darauf folgenden Mutterfluch der ›Isabella‹, und es erreichte den höchsten Grad, als ihr Schmerz sich wider die Himmelsmächte selbst empört, Gottheit und Natur ihr sinnlos scheinen und der Chor ihr zuruft:


›Halt' ein, Unglückliche! – die Götter leben,

Erkenne sie, die dich furchtbar umgeben!‹


Wer von da an in dem Werke nachliest, der mag's versuchen, sich einen Begriff zu machen von dem Entsetzen, das bei dem fortdauernden Gewittertosen durch alle Herzen zog; rings totenbleiche Gesichter, jedem stockte der Atem: auch Schiller saß in seiner Loge wie versteint. Ich habe nie einen solchen, ich möchte sagen überirdischen Schauder empfunden, und er wirkt noch jetzt nach bei heftigem Gewitter,[61] weil mich dann immer die Erinnerung an den Theaterabend in Lauchstädt fieberhaft anfaßt, obwohl nach der Vorstellung eine unermeßliche Fröhlichkeit folgte. Der Himmel hatte jede Spur von dunkler Decke abgeschüttelt, glänzende Sterne leuchteten auf jubelnden Verkehr. Zu uns Hallensern hatten sich auch Leipziger und Jenenser Studenten gesellt, und als der unvermeidliche Ball überstanden war, zogen wir zusamt vor die Fenster Schillers, und brachten ihm ein Hallo mit Gesang und Musik. So viel wir konnten, rückten wir ihm auch auf die Stube, wo sich der von uns tüchtig angelärmte große Dichter burschikos liebenswürdig benahm, wonach einer der Unsrigen ihn keck einlud zu einem Mahle, das der reiche Vater eines Kommilitonen in seinem Gartensaale uns anrichtete. Schiller lehnte zwar die Einladung ab, zögerte indes doch einen Augenblick, so daß, nachdem wir abgezogen waren, ich der Meinung war, eine Deputation an ihn würde nachträglich unsern Wunsch durchsetzen. Im Nu bildete sich die Deputation, die ihren Sprecher wählte. Mir fanden den Dichter, wie er eben ins Bett steigen wollte, und was ihm nun mit klopfendem Herzen in ängstlicher Verlegenheit gesagt wurde, müßt' ein anderer wissen, sonst ist's für ewige Zeiten vergessen, woran ganz und gar nichts liegt. Denn das Reden hat gewiß nicht so viel geholfen als der tolle Einfall anderer Kerle, von denen jeder ein Stück der Kleider Schillers ergriff, der Nächststehende auch mir eines über meine eben noch in rhetorischer Geberde ausgestreckten Hände warf, so daß wir alle den Eingeladenen umgaben wie Kammerdiener, bereit, ihn anzuziehen. Das Gelächter Schillers machte uns dreister, und fast willenlos fuhr er in die Kleider. Mehr gezogen und getragen als gehend brachten wir ihn richtig in den Saal, wo uns ein überschwengliches[62] Jauchzen empfing. Fast eine Stunde blieb Schiller bei uns, wahrhaftig ein Bursche unter Burschen. Er sprach uns auch an, daß wir diesen Enthusiasmus, als notwendig für die Bühne und die geistigen Bestrebungen überhaupt, bewahren und möglichst mitteilen möchten, da die Volksmasse gar zu leicht von etwas festtäglichem Aufschwunge sich so angegriffen fühle, daß sie rasch wieder einem alltäglichen Seelenschlummer verfalle. Die Vivats, versteht sich, rissen während der Anwesenheit des Dichters gar nicht ab, und er mußte sich gefallen lassen, sein herrliches Lied: ›Freude, schöner Götterfunken‹ nicht in vollendetster Harmonie zu hören. Damit zum Schluß gekommen, trat ein Senior der Burschenschaft auf einen Stuhl und sang bei erhobenem Glase, mit einer Stimme, die zwar kein Erdbeben, aber doch das Zittern der Saalwände veranlaßte:


›Laßt den Schaum zum Himmel spritzen,

Dieses Glas dem guten Geist!

Der mit kühner Wahrheit Blitzen

Macht des Wahns und Trugs zerreißt.

Mit dem Donnerkeil der Rede

Treffet, was die Welt betört,

Allem Schlechten ew'ge Fehde,

Das, ihr Bursche, hört und schwört!

Mag in unsern Adern toben,

Was zur Klärung noch erst gährt,

Daß sich guter Geist bewährt,

Schwören wir dem Geist dort oben!‹


Die letzten vier Zeilen wurden vom Chorus wiederholt und der Senior tat sich besonders auf den Schluß etwas zugute, indem er erst gen Himmel und dann auf Schiller wies, der begreiflich oben an der Tafel saß. Nach dem Gesange folgte ein Händedrücken und Umarmen,[63] dem sich sogar auch unser Dichter fügte, und ließ sich bei dem uns zu Gebot stehenden Rebensaft von zum Himmel spritzenden Schaum nichts verspüren – man war selig bei ehrlichem Naumburger – schäumte es doch in uns. Wir blieben, als auf seinen Wunsch Schiller nur von wenigen und ohne Getöse zurück nach seiner Wohnung begleitet worden war, in Saus und Braus bis zum hellen Morgen, wo wir es uns dann nicht nehmen ließen, unsern Abgott nochmals mit Gesang und Musik zu stören. – Es war eine schöne Zeit der Begeisterung, und wollte Gott, sie kehrte uns wieder durch Dichter, die sich ebenbürtig jener Vergangenheit und ihren Verewigten anreihen könnten, sowie durch eine Teilnahme im Volk, die, sei sie auch etwas übersprudelnd wie damals, doch mit gesunder Natur aus Seele und Leib hervorbricht.«

Bei allem, was Krahn berichtete, war ich, obschon erst nachmittags zufolge der Anmahnung des Jugendfreundes in Lauchstädt angelangt, zugegen; die angefügten Reime zu »Freude, schöner Götterfunken«, ein Erzeugnis des Augenblicks, sind von mir, und ich habe auch unvermeidlich Wein nippen müssen bei den ungezählten Lebehochs.

In Weimar wurde ich zuerst bei Wieland eingeführt; dem Altwürdigen war ich nur durch Buchhandels-Anzeigen bekannt, was mir genügte. Im Gespräch offenbarte er sich sehr bedrückt vom Tode seiner Frau, weshalb er das Gut Osmanstädt verkauft habe, und wieder in der Stadt wohne, um nicht noch mehr an Erinnerungen zu leiden. In seinem Arbeitszimmer hafteten meine Blicke an einem kleinen Holz-Bildwerk: eine sitzende Gestalt in römischer Tracht. Wieland sagte mir: es sei Voltaire,[64] und nachdem ich die Frage: ob ich dessen Schriften kenne, mit Nein zu beantworten hatte, empfahl er sie mir als besten Leitfaden zu der Franzosen Geist und Sprache, was hinsichtlich dieser unbedingt an rechter Stelle war, denn mich im Französischen zu üben, dazu fehlte mir bis dahin die Gelegenheit. Jetzt hätte ich jene Frage mit Ja zu beantworten, müßte aber gestehen, daß ich zwar an Voltaire die zeitgeschichtlichen, für die Franzosen auch volksgemäßen Vorzüge nicht unterschätze, im allgemeinen ihm jedoch mehr ab- als zugewandt sei.

Durch Vermittelung des Herrn v. Lynker war ich in einer Abendgesellschaft von etwa fünfzehn Personen, Männer und Frauen, mit Schiller beisammen. Er trat verspätet ein, man hatte auf ihn gewartet, und rechtfertigte ihn damit, daß er ganz in sein neues Werk »Tell« vertieft sei. Seine Erscheinung trug auffallender noch als vor nicht vollen acht Monaten Spuren abzehrender Krankheit zur Schau: mir wurde schmerzlich bei dem Anblick. Ihm vorgestellt, wagte ich eine Hindeutung auf die Begegnis in Lauchstädt, mit dem Bekennen meiner Mitschuld an dem Überfall. »Ei«, erwiderte Schiller, »mein Schwabengemüt hat mir auch da einen üblen Streich gespielt, und hinterdrein ist's abzubüßen.« – Er blieb ernst und gedankenschwer, antwortete zerstreut; man mußte glauben, er sei mit seiner Umsichtlichkeit anderswo als hier, wo er sichtlich war. – Nun begab es sich, daß ein alter Herr bei einer Fischspeise von dem Leberreim sprach, den Gellert einem Vornehmen, der ihn unablässig mit dem ehemals sehr gebräuchlichen »Er« angeredet hatte, hingeworfen haben soll, nämlich:


»Die Leber ist vom Hecht und nicht von einem Bär,

Den nenn' ich Grobian, der stets mich nennet Er.«
[65]

Darauf hingelenkt, machte man den im Anfange des jetzigen Jahrhunderts auch noch beliebten Spaß höflichst nach, und er ging fleißig ringsum von den Lippen. Als die Reihe an Schiller war, sah er sich, mutmaßlich kaum wissend, was man von ihm wolle, wie verlegen um, setzte an und – plötzlich schwieg er kopfschüttelnd, nach meiner späteren Ansicht die Zumutung mit Recht mißbilligend. Das war mir – auch in augenblicklich anderer Auffassung – von dem großen Dichter so begreiflich, daß ich mein gefüllt vor mir stehendes Glas ergriff, freudig zu Schiller lief, in Natürlichkeit darüber jubelnd, daß während wir anderen flott gereimt hatten, wie uns der Schnabel gewachsen, ein so berühmter Meister sich nicht habe zu dem losen Spiel bequemen wollen. Diese mich selber überraschende und dann mitteninne erschreckende Dreistigkeit soll ich drollig vollbracht haben; mit der ganzen Gesellschaft stimmte Schiller herzlich in das Lachen ein, und dies wurden dann die einzigen Minuten, in denen ich ihn an diesem Abend erheitert fand. – Ach, nicht viel über ein Jahr und er war uns und seinen noch hochfliegenden Plänen entrissen!

In bezug auf Goethe hatte mich mein Unterweiser, an dessen vermeinter Besonnenheit ich immer deutlicher einen Hang zum Absonderlichen herausfühlte, damit vertröstet: es sei etwas im Werke; wenn es gedeihe, ergebe sich gute Gelegenheit. – Nur vier Tage wollte ich in Weimar rasten, vorhabende Arbeiten, hier wenig gefördert, bedrängten mich, und ich bereute schon, nicht mit den Empfehlungsbriefen mein Heil bei Goethe versucht zu haben. Bereits packte ich mein bißchen Habe im Mietszimmer – gegen Gasthöfe hegte ich Widerwillen – da kam abends nach sieben Herr v. Lynker, in einem Domino, ließ auch[66] mir einen darreichen von seinem mitgebrachten Diener bei den Worten: »Im Theatersaal ist Probe von einem Maskenspiel, Goethe muß dabei sein; ich habe vermittelt, daß Sie als Fremder Zuschauer sein können, beeilen wir uns!« Bebend zog ich das Beste an, was ich hatte, ein hellblauer Seidenmantel wurde mir übergeworfen, eine Maske sollte ich dort empfangen – was sich jedoch nicht erfüllte. – Bald stand ich in einem mäßig großen Saal, und drückte mich neben einem Gewirr von Menschen, nur zum Teil maskiert, an die Seite; denn nachdem ich so mich hatte gängeln lassen, war mir alles wie beklemmender Spuk oder Traum. – »Wenn Er da ist, erfahren Sie es im Moment!« mit diesem Zuruf beruhigte mich mein herumschweifender Beherrscher, der irgendwo beschäftigt sein mußte. Ich hörte Reden und Musik wie aus der Ferne, blieb aber wie eingewurzelt in dem eroberten Winkel, weil ich hier ein Uneingeweihter war. Etwa sehr lange anderthalb Stunden waren vergangen, bevor es hieß: »Da ist Er, dort steht Er!« und es bedurfte mancher Windung, um mir bis zur angedeuteten Stelle zu helfen. Endlich kam ich Dem, mir Ehrfurcht Gebietenden nah, möglichst näher: ich hörte seine starke, klangvolle Stimme. O weh! Goethe, der seinen Seidenmantel, rosenfarb oder gelb – bei dem Lichtschimmer konnte ich mir die Farbe nicht genau bestimmen – hin- und herwerfend behandelte, sprach so heftig mit einem andern – mit dem Theater-Intendanten Kirms, was ich nachher entdeckte – daß ich noch ängstlicher wurde. Aus dem lauten Gespräch ging hervor: bei einer Abendprobe im Theater war Goethe über einen Schauspieler – sein Name lautete, wenn ich dessen mich richtig entsinne, Zimmermann – so bitterböse geworden, daß er sich höchst unglimpflich äußerte über Anmaßungen der Komödianten.[67]

Mir flog der Atem, in mir rief es: Jetzt oder nie! Meine Zaghaftigkeit gipfelte, wurde unwillkürlich zum Wagemut, und ohne Überlegung hatte ich mich in den Eifer gegen Komödianten gemischt. Was mir erst in der Zukunft als Erfahrung reiste: wie raschbereit der Aufgebrachte, wenn ihm einer recht gibt, sich zu diesem wendet, das bewährte sich hier. Ich hatte den Erfolg, daß Goethe auf mich einredete, unterhielt seinen Zorn so gut oder schlecht meine sich nicht zurechtfindende Stimmung dies vermochte, habe keine Spur mehr von dem Gemengsel, was ich schwatzte, bis er hell auflachte, dann aber, wie in Hast zur Hoheit gleichsam umgeschaffen, mit wahrhaft erschütterndem Gebieterton fragte: »Aber mit wem sprech' ich, wer sind Sie?« Meine Empfehlungsbriefe von Mahlmann und Rochlitz hatte ich im Widerstande gegen mein Zittern in der Tasche fast krampfhaft festgehalten; sie schnell hervorziehend, nannte ich, nun bis zu Tränen erschreckt, meinen Namen, demütig scheu hinzufügend: »Ihnen diese Briefe zu überreichen suchte ich in den wenigen Tagen hiesigen Aufenthalts vergeblich Gelegenheit, die Gunst des Augenblicks verlieh sie mir, und frevelhaft habe ich sie ergriffen.« – »Wer sind Sie, doch nicht der Gubitz, der sich in der Holzschneidekunst auszeichnete?« so fiel Goethe fragend ein, wie selber betroffen, und nach meiner Entgegnung: »Ob auch von Ihrer gütigen Meinung beschämt, habe ich freilich zu antworten: Der bin ich.« – Ohne etwas darauf zu erwidern, erfaßte er mich am Arm, hob mich an einen Pfeiler, sagte: »Hier bleiben Sie stehen, hier will ich Sie treffen, jetzt hab' ich zu tun!« Dann verschwand er, und ich stand nochmals da in zweifelsüchtiger Hoffnung, die indes der Geduld nicht lange bedurfte. Zurückkehrend rief Goethe mich an: »Aber mein Gott, sind Sie's denn[68] wirklich? Wie alt sind Sie?« – »Im achtzehnten Jahr«, antwortete ich, und er entgegnete: »Man möcht's nicht glauben! Wie lange bleiben Sie hier?« – Ich sagte ihm, daß ich nur gezögert habe, Weimar zu verlassen, um ihm genähert zu sein, der kommende Morgen treibe mich nach Jena, dort meine Universitätszeit mit dem Examen zu enden. Überrascht fragte er weiter, und ich gab nun schûchtern Bescheid, bis er dringlich einfiel: »Von der Abreise sei einstweilen nicht die Rede, heut noch zeige ich Ihnen meine Wohnung, erwarte Sie dort morgen vormittag um zehn«, und auf meine Bemerkung, daß ich schon vor seinem Hause gewesen sei, erwiderte er, mir die Hand reichend: »Also morgen früh!« in flüchtiger Weise, denn eben wurde nach ihm gesandt.

Noch zwei Tage blieb ich in Weimar, stundenlang in Goethes Zimmern, wo ich, zwischeninne oft ohne seine Anwesenheit, die musterhaft geordneten Sammlungen von Zeichnungen und Kupferstichen beschauen, mich zugleich noch mancher Beweise seiner Zutulichkeit erfreuen konnte. In bester Laune erwähnte er, daß er als Student in Leipzig sich im Breitkopfschen Hause auch mit dem Holzschnitt beschäftigt habe, also wohl wisse, was mir gelungen, und ich vernahm dabei aufmunternde Äußerungen: dennoch hielt mich sein Benehmen in Scheu. Meinem Hang zum »Dorfpastor« war er nicht gleichgesinnt, obwohl er »das schließlich Anhaltsame in dieser Entzweiheit« gelten ließ, und als ich erzählte, wegen meiner Bemühung im Holzschnitt sei ich bereits von drei Kupferstechern öffentlich befehdet, sagte er aufgeregt und mir unvergeßlich: »Es steckt etwas Verruchtes in solcher steten Negation, die immer bei der Hand ist; man muß sich nicht daran kehren, doch das Rechte tun, sonst ist nichts zu heben.« – Mit gesteigerter[69] Verehrung nahm ich Abschied, einer Verehrung, der niemals Anlaß nahte, sich zu mindern. Goethe hat mir dauernde Teilnahme bezeugt, was bei fernerem Berühren sich darlegen wird, und Pflichtgefühl gebot mir mehrmals Einspruch gegen öffentliche Angriffe und Klagen über seinen Stolz, seine Kälte und Schroffheit, obschon ich nie behaupten werde, daß er von unbewältigten Gemütsaufregungen freizusprechen sei: das ist keinem Sterblichen nachzurühmen.

In den ersten Märztagen 1804 wohnte ich nochmals in Jena, hoffend, man werde mir das Examen beeilen, worin ich irrte. Sämtliche Professoren sollten und mußten die »Neue Jenaische Literatur-Zeitung« unterstützen, ihr zum Siege oder doch zum Bestande verhelfen, der »Allgemeinen Literatur-Zeitung« gegenüber, die ihrer Geburtsstätte untreu geworden und nach Halle entflohen war. Von Weimar aus beeiferte man sich, die Lehrer jeder Fachwissenschaft in Begünstigung der neuen nebenbuhlerischen Urteils-Zeitschrift angestrengt zu verflechten; ungewöhnlich lange blieben die von mir verlangten schriftlichen Vorlagen unbeachtet, und wurden dann ebenso geschwind kurz abgefertigt als die mündlichen Abfragungen, die erst im Mai stattfanden. Wie es mir schien, behandelte man mich dabei sehr entgegenkommend mild, vielleicht war es zugleich unwillkürlich einwirkende Folge von dem Umstande, daß ein bedeutsamer Teil meiner eigentlichsten Lehrer Jena verlassen hatte. – Ohne Bestürmen unterwarf ich mich der Säumnis, förderte meine Holzschnittbestellungen; dies würde mir, wie ich meinte, auch als Landprediger möglich sein. Zuweilen bedrückte mich indes herbe Bangigkeit, denn es offenbarte sich, daß mein schwungvoll lebhafter, daneben starrwilliger, von Lebensklugheit[70] weitab wandelnder Sinn sich einbildete, man müsse im Glaubensreich dort anfangen, wo Luther endete, was nun doch mit dem hirtlichen Dorfpfarrer meines Jugendtraums nicht auszugleichen war. Bei geschäftigem Drang entflogen aber solche Gedanken in Zukunftsschau so rasch, als sie ihr anflogen, und die Ereignisse taten dazu das ihrige.[71]

Quelle:
Gubitz, Friedrich Wilhelm: Bilder aus Romantik und Biedermeier. Berlin 1922, S. 17-72.
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