Weißweide

[433] Weißweide, Salix alba, L. [Zorn, pl. med. tab. 492] mit lanzetförmigen, zugespitzten, sägeartig gezahnten, auf beiden Seiten feinhaarigen Blättern, deren untern Sägezähne drüsicht sind; ein, ungeköpft, auf dreisig Fuß hoher, an Städten und Dörfern sehr häufiger Baum, welcher im Aprill blüht.

Die von drei bis vierjährigen Aesten abgeschälte Rinde (Cort. Salicis albae) verräth, vorzüglich im Extrakte, nächst dem zusammenziehenden, auch einen bitterbalsamischen Geschmack und starken flüchtigen Geruch. Wird sie aber von ältern Aesten, oder wohl gar vom Stamme genommen, so vermindern sich in eben der Maße die bittern Theile, und die Rinde wird zusammenziehender von Geschmacke, so daß sie endlich der Eichenrinde wenig nachgiebt. Da sie nun noch überdem die Fäulniß thierischer Substanzen hemmt, wie alle adstringirende und bitter zusammenziehende Dinge thun, so hat man sie der Natur der Chinarinde so ähnlich geglaubt, daß man sogar wähnte, diese durch jene völlig zu ersetzen. Unter allen hiezu empfohlnen Weidearten hat man der Weißweide den Vorzug gegeben; wenigstens übertrift sie an zusammenziehender Kraft die übrigen.

Nun ist zwar nicht zu leugnen, daß sie wirklich zuweilen Wechselfieber[433] gehoben hat, allem Ansehn nach aber blos solche, deren Fortdauer durch gewöhnliche Stärkungsmittel Enzian, Galläpfel, u.s.w. ebenfalls hätte gehemmt werden können. Es fehlt daher so viel daran, daß diese Rinde mit der wundernswürdigen Kraft der China übereinkommen sollte, daß sehr sorgfältige Aerzte sie sogar nie eigentlich antipyretisch wirken sahen, und sie wohl zu irgend einem Behufe, wo gewöhnliche bittere adstringirende Mittel erforderlich sind, vorzüglich zu äusserm Gebrauche, vortreflich finden, sich aber nie entschließen können, die Stelle der China durch sie ersetzen zu wollen. Die Rinde der einen Weide läßt sich wohl mit Fuge durch die Rinde einer andern Weidenart ersetzen, aber der köstliche Baum aus Peru kann nur durch sich selbst, und kaum durch seine Arten ersetzt werden. Um ihr aber gleichwohl volle Gerechtigkeit wiederfahren zu lassen, so kann man versichern, daß sie zu allen den Behufen, wozu man sonst China lange Zeit im Wasser abkochte (wobei sie ihre spezifische Arzneikraft völlig, oder beinahe völlig verliert) und diese bei heftigem Feuer bereiteten Absude oder Extrakte innerlich nehmen oder äusserlich auflegen ließ – aller Wahrscheinlichkeit nach gleich wirksam und um desto schätzbarer seyn wird, je frischer, ächter und wohlfeiler die Weidenrinde ist. Eben die bitteradstringirenden oder doch sehr ähnliche Theile als im mehrstündigen Chinarindendekokte wird man im Absude der Weidenrinde finden, und im erstern fast eben so wenig eigentliche Chinakraft, als in dem leztern. Letzterer wird eben so kräftig (wie die Erfahrung auch hinlänglich bewiesen hat) schlaffe Theile befestigen, und, wenn er konzentrirt ist, den kalten Brand hemmen, als die durch lang anhaltende Abkochung gemishandelte Chinarinde.

In einer Rindviehpest in Holland soll der Absud mit Vitriolsäure (!) sehr hülfreich gewesen seyn. Man hat Erbrechen und Blutflüsse dadurch zuweilen gehemmt, und mit Vortheil Rinde und Blätter der Weißweide zu stärkenden Bädern für atrophische Kinder verordnet. Die den Blättern bei den Altern nachgerühmte, Geilheit mindernde Kraft beruhete wohl nicht auf ächten Erfahrungen.

Die dem spanischen Hollunder (Lilak) an Geruche ähnelnden Blumenkätzchen (Amenta, Juli Salicis) geben ein sehr angenehmes destillirtes Wasser, dem man eine Schlaf bringende, auch Blutfluß stillende Kraft zutheilte, ohne Beweise dafür vorzulegen.


Quelle:
Samuel Hahnemann: Apothekerlexikon. 2. Abt., 2. Teil, Leipzig 1799, S. 433-434.
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