Logiergäste

[134] Es ist nicht leicht, Logiergast zu sein – oder Gastgeber. Mancher seufzt dann schmerzlich der Abschiedsstunde entgegen, weil zuviel der Rücksicht gegeben und genommen wird. Man sagt zwar: »Tun Sie, als ob Sie zu Hause wären«, selbst aber benimmt man sich, als ob man nicht zu Hause wäre. Auf Schritt und Tritt spürt der Gast, daß er den gewohnten Tagesbetrieb stört, daß man sich bemüht, ihn zu unterhalten, ihm etwas zu bieten, und er möchte so gerne manchmal zu sich kommen – auf gut Deutsch, seine Ruhe haben. Die englische Gastfreundschaft wäre da nun vorbildlich. Der Gast wird nicht in Anspruch genommen; man macht ihm Vorschläge, arrangiert schöne Ausflüge; will er mitkommen, ist es gut, will er nicht, so ist niemand gekränkt. Seine einzige Pflicht besteht darin, am Abendessen teilzunehmen. Niemand fragt nach, wie er seinen Tag verbracht hat, wenn er nicht selbst darüber spricht. Man steht dem Gast zur Verfügung, aber man bindet ihn nicht. Er bleibt auch als Gast Herr seiner Zeit.

Für sein leibliches Wohl aber wird bis ins Kleinste Sorge getragen. Man stellt ihm Pferd und Wagen zur Verfügung oder auch das Auto und läßt ihm absolut freie Hand.

Von dieser Großzügigkeit sollten wir annehmen, so viel für unsere Verhältnisse angemessen ist.

Unsere erste Sorge gilt dem Gastzimmer, dem wir durch die Sorgfalt, die wir ihm widmen, durch Vorhänge, Bilder und Teppiche einen möglichst warmen, freundlichen Charakter geben. Die behagliche Stimmung hängt von vielen Kleinigkeiten ab, die uns nicht immer bewußt sind.


Der Gast (S. 135)
Der Gast (S. 135)

Ein warmes Zimmer im Winter, einige Blumen im Sommer, ein nettes Buch auf dem Nachttischchen, ein schönes Stück Obst zu unerwarteter Stunde. Man muß versuchen, die kleinen Gewohnheiten des Gastes zu ergründen; schläft er gerne lang in den Tag hinein, so läßt man ihn schlafen, anstatt ihn in aller Morgenfrühe Gott weiß wohin zu verschleppen. Ist er schon mit den Hühnern auf, so soll er trotzdem sein Frühstück schon bereit finden; hält er kein Mittagsschläfchen, so soll er seine Zeit nach Luft und Belieben sich vertreiben. Wollen wir ihm Unterhaltungen bieten, so sollen sie seinem und nicht nur unserem Geschmack entsprechen. Einen Menschen, der sich für alte Steine nicht interessiert, schleppt man nicht von einer Ruine zur andern, und daß wir eine schöne Markensammlung haben, muß unserem Freund noch lange keine Freude machen. Unser Gast ist ja nicht zugleich ein zur Geduld verpflichtetes Publikum. Deshalb dürfen wir ihn auch nicht dazu mißbrauchen, allen unseren Jammer anzuhören und sich unseren ganzen Griesgram aufhalsen zu lassen. Er erwartet gar nicht, daß wir mit ihm »Konversation« machen, ich glaube, er wird sich am wohlsten fühlen, wenn er es nicht ewig zu spüren bekommt, daß er »Gast« ist. Es ist ihm wahrscheinlich lieber, mit uns Mensch unter Menschen zu sein, wie einer, der zur Familie gehört. Er soll nur an unserem täglichen Leben und Tun Anteil haben und gelegentlich auch ruhig mithelfen. Dann hat er wenigstens das angenehme Gefühl, die Mühe, die er uns verursacht, auch vergolten zu haben. Auf dem Lande ergeben sich solche Gelegenheiten von selbst, schwieriger ist es in der Stadt, einen männlichen Gast zu beschäftigen, aber da ist es wohl auch weniger nötig.

Dem Gast gebührt alle Rücksicht, das versteht sich von selbst. Geht man mit dem Gast aus, so paßt sich natürlich unsere[137] Kleidung der seinen an. Es darf sich die Hausfrau nicht in Gala werfen, wenn der Gast nur ein einfaches Straßenkleid zur Verfügung hat; das ist nebenbei auch für beide Teile ungemütlich.

Wir dürfen auch nicht vergessen, daß unser Gast, wiewohl er unser Gast ist, doch ein freier Mensch bleibt, auf den wir kein ausschließliches Recht geltend machen dürfen. Er ist nicht unser Gefangener, und wir haben kein Recht, gekränkt zu sein, wenn er einen Teil seiner Zeit auch anderen widmet. Ein gut erzogener Gast wird freilich davon keinen übertriebenen Gebrauch machen und nicht den Eindruck erwecken, als ob ihm nur um freies Quartier und freie Verpflegung zu tun gewesen wäre.

Kinder und Tiere soll man vom Gast möglichst fernhalten, wenn er nicht selbst besondere Vorliebe dafür zeigt. Was soll auch ein Junggeselle mit einem brüllenden Säugling anfangen? Und selbst wenn unsere Gäste wahre Kinderfreunde sind, ist es für beide Teile besser, sie auseinanderzuhalten. Kinder kommen sich leicht zu wichtig vor, wenn sie sich im Mittelpunkte des Interesses fühlen.

Familienauseinandersetzungen darf man nicht vor dem Gaste austragen. Es muß ihm ja peinlich sein, wenn Mann oder Frau ihn als Schiedsrichter anrufen. Gibt er ihm recht, verdirbt er sich's mit der Frau; gibt er ihr recht, verdirbt er sich's mit dem Manne; und wenn die zwei sich schließlich. wieder vertragen, hat er bei beiden ausgespielt.

Wie hält man es mit den Barauslagen, wenn man den Gast ausführt? Wenn man ihn zu Theater- oder Konzertbesuchen einlädt, darf man ihn wohl nicht selbst zahlen lassen, sondern nimmt mit der Einladung auch die Kosten derselben auf sich. Und macht man einen Familienausflug, so sieht esauch sonderbar aus, wenn der Familienvater für seine sechs Köpfe bezahlt, den Gast aber für sich selbst zahlen läßt.

Solche Sparsamkeit ist nicht am Platze, auch nicht, wenn man selbst knapp bei Kasse ist. Lieber lädt man sich dann keinen Logiergast ein.

Auch der Abschied legt noch Pflichten auf. Man bemüht sich, dem Gaste jede Sorge nach Möglichkeit abzunehmen, besorgt ihm die Fahrkarte, das Gepäck, geleitet ihn auf den Bahnhof, gibt ihm Reiselektüre und etwas Obst oder Schokolade oder Bonbons mit, kurz, man erweist ihm jene Aufmerksamkeiten, in denen sich zwar anspruchslos, aber deutlich Sympathie und freundschaftliche Sorge ausspricht.


Der Logiergast (S. 139)
Der Logiergast (S. 139)

Es gibt noch eine Kategorie von Hausgästen, die sich seit einigen Jahren eingebürgert hat, die zahlenden Gäste und die Austauschgäste. Wenn uns mit ihnen auch nicht Freundschaft verbindet, so sind wir ihnen doch in dem Augenblick, in dem wir ihnen die Türe unseres Hauses geöffnet haben, Schutz, Rücksicht und freundliches Entgegenkommen schuldig, als wären sie unsere Freunde. Sie wohnen unter unserem Dach, und da sie dafür bezahlen, dürfen sie an unsere Gastfreundschaft auch bestimmte Ansprüche stellen. Leicht ist es gewiß nicht, hier immer die richtige Grenze zwischen Soll und Haben einzuhalten, und es braucht viel Takt auf beiden Seiten, um das Institut des zahlenden Gastes nicht zu diskreditieren. Manchen treibt die Angst, daraufzuzahlen, zu übertriebener Sparsamkeit, wenn nicht gar zum Wucher.

Nie soll der Gast sich als Ausbeutungsobjekt fühlen, er soll selbst vergessen können, daß er zahlt. Und ist der Tag der Abreise gekommen, ist die letzte Schuld bezahlt, dann soll er immer noch das Gefühl haben, ein gerngesehener Gast gewesen zu sein, dessen Abreise nicht einfach die Beendigung einer geschäftlichen[141] Beziehung bedeutet. Fügt es sich schon nicht, daß er bis zum Bahnhof begleitet wird, so ist es sicher möglich, ihm bei der Abreise in anderer Art behilflich zu sein, ihm mit ein paar Blumen eine Aufmerksamkeit zu erweisen – kurz, ihm zu zeigen, daß er auch nach Erfüllung seiner letzten Zahlungspflicht als Mensch unsere Sympathien hat, nicht nur als Aktivposten in unserem Wirtschaftsbuch. Da gibt es eine ganze Kategorie solcher zahlender Gäste – das sind die, die zu uns kommen, um die Sprache kennenzulernen. Sie kommen meist aus dem Süden, aus Italien, Jugoslawien, oder auch aus Ungarn, Frankreich oder anderen Ländern, meistens aus solchen, die die Gastfreundschaft besonders heilighalten. Für solche zahlende Gäste hat sich ein eigener Fachausdruck eingelebt: »au pair«. Nicht alle, die mit großen Hoffnungen kommen, gehen zufrieden wieder fort. Der Gastgeber hat sich wenig darum bemüht, dem andern zu geben, er war zu eifrig dabei, von ihm auch geistig zu profitieren – und das war doch eigentlich nicht ausgemacht? Der andere kommt und zahlt, weil er lernen will, und nicht, um zahlender Lehrer zu sein. Wer einen Gast »au pair« aufnimmt, muß seine freiwillig damit übernommene Pflicht auch fair erfüllen und alles daransetzen, um dem Gast, der ja auch sein Schüler ist, möglichst viel beizubringen. Sicher ist das nicht leicht und es verlangt, wie der Verkehr mit Ausländern überhaupt, viel Takt. Wir sind – und das ist ja gewiß entschuldbar – gerne geneigt, die Größe und Schönheit unseres Landes rühmend zu betonen, Vergleiche mit anderen Ländern zu ziehen und uns über sie zu stellen. Aber ganz abgesehen davon, daß wir über das fremde Land erst nach langem Aufenthalt und bei gründlichster Kenntnis seiner Lebensbedingungen uns ein halbwegs zutreffendes Urteil bilden können, ist es kulturlos und dem Rufe unserer Heimat nicht[142] dienlich, den Landfremden in seinem Vaterlandsstolz zu verletzen, sei es auch im Kleinen. Wir sollen uns auch nicht bemühen, seine Anschauungen und seine Sitten den unseren anzupassen, denn, das dürfen wir nie vergessen, unsere Lebensauffassung ist nicht für alle die alleinseligmachende Wahrheit.

Nicht einmal der Führer will seinen siegreichen Nationalsozialismus den Fremden einreden. Am liebsten möchte er ihn sich, wie er sagte, für die Deutschen patentieren lassen. Dieses Denken sollten wir ihm im Kleinen nachmachen. Solange es sich beim Fremden nicht um Lebensfeindliches, Unmenschliches, Gemeines handelt, sollen wir seine Eigenart respektieren. Die Mannigfaltigkeit des Lebens und seiner Auffassungen ist eines der großen Geheimnisse Gottes, ihr Sinn ist ewig, unserer dagegen durch Zeit und Raum begrenzt und gebunden. Und schließlich überzeugen nur Taten, Worte können höchstens überreden. Mit unserer Kultur brauchen wir nicht zu protzen; sie ist, und das ist überzeugend genug.

Es mag sein, wie es will, unsere Gastfreundschaft soll so sein, daß der Gast beim Scheiden sich noch einmal umwendet, um unserem Dach mit seinem letzten Blick noch einen Gruß zu schicken.[143]

Quelle:
Haluschka, Helene: Noch guter Ton? Graz 1938, S. 134-139,141-144.
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