Warum Anstandsformen?

In allen Längen- und Breitegraden der Erde haben die Menschen sich daran gewöhnt, die Äußerungen des täglichen Lebens in Formen zu kleiden, die ihre nächste Zweckmäßigkeit vergessen lassen, als wären nicht sie die Hauptsache, sondern jener geheimnisvolle Sinn, der sich hinter dem Ritual verbirgt.

Diese Sehnsucht nach gehobenem Leben, nach Schönheit, die mit dem Anstand zu einem einzigen Begriff wird, ist so zwingend wie Hunger und Durst und bringt je nach dem Kulturgrad der Völker die verschiedensten Erscheinungen zutage.

Es gibt Neger, die ihre Nase mit einem Ring zieren, der bestimmt das Riechen nicht erleichtert, ihnen aber Würde und ethischen Wert verleiht – in ihren Augen natürlich. Andere schieben sich Holzscheiben in die Lippen oder feilen sich die Zähne spitz zu, und man kann beim besten Willen nicht behaupten, daß das zweckmäßig wäre. Es ist aber auch nicht nur der Wunsch, sich zu schmücken, der die Neger zu diesen Selbstquälereien führt, sondern wahrscheinlich ein primitiver Versuch, dem Leben jene Werte zu geben, die es nicht mitbringt, die wir ihm aber geben müssen, um es wert zu machen, gelebt zu werden.

So mag dieses Streben falsche Wege gehen, aber es ist da bei allen Menschen, und der kindliche Neger, der sich an sein Rückenende eine baumelnde Anstandsquäste hängt, hat damit unbewußt, aber überzeugend sein Streben nach Anstand kundgetan und sich damit über das rein Triebhafte gestellt. Es ist wohl ein langer Weg von dieser Quaste bis zum Kölner Dom, er ist über alle Höhen der ethischen, religiösen und ästhetischen[7] Anschauungen gegangen, hat aber seinen Anfang in der gemeinsamen Sehnsucht nach erhöhtem Lebensgefühl: nach Kultur.

Kultur ist im Grunde eine seelische Angelegenheit, sie ist die Erkenntnis der unsterblichen geistigen Werte, während die Zivilisation die Nutzbarmachung der Materie für ein bequemes Leben erstrebt. Kultur ist nicht Wohlleben, sondern innerlich edle Lebensauffassung und Haltung.

Zu dieser Haltung gehört auch die Lebensart, die Gestaltung des eigenen äußeren Lebens und des Verkehres mit den Mitmenschen. Sie muß heute anders sein als gestern. Gestern waren die Förmlichkeiten oft bis zur Karikatur gediehen, weiter, als unsere nach Wahrheit und Einfachheit strebende Generation verträgt. Auch hat sich die Gesellschaft der Menschen neu gestaltet. Klassenunterschiede sind im Scheiden, dank einem gepflegten Volksbewußtsein, dank der Kameradschaftlichkeit des Sportes, nicht zuletzt auch dank dem ausgleichenden Existenzkampf der Nachkriegszeit, der alle Gesellschaftsschichten durcheinanderschob. Nicht die Lebenshaltung einer oberen Gesellschaftsschichte ist maßgebend für die Anstandsformen, sondern das, was dem ganzen Volk zur Erleichterung seines Daseins und zur freudigen Gestaltung des Lebens notwendig ist.

Das zeitgemäße, gute Benehmen wird also weniger Zeremonielles und Dekoratives in sich haben, dafür mehr echten inneren Anstand, Rücksicht auf den Mitmenschen, Takt, Gemeinschaftsgefühl.

Daß man Lebensformen, die nur die obersten Schichten einhalten konnten, über Bord geworfen hat, war gut und richtig, nur hat man des Guten zuviel getan. Aus Angst vor Stickluft und Naphthalingeruch haben wir zuviel Fenster und Türen[8] aufgerissen. Es »zieht« ab und zu recht ungemütlich im Raum. Wir verachten das »Schmieren« so sehr, daß wir auf das Ölen der komplizierten Lebensmaschine vergessen, und nun quietscht sie, reibt und gibt Funken. Die Höflichkeit, auch wenn sie nur eine Förmlichkeit war, ist das unentbehrliche Öl dieses Räderwerks gewesen und tut heute noch not.

Mancher Held, der, ohne mit der Wimper zu zucken, die Kugeln um sich pfeifen hörte, zittert vor den täglichen Reibungen, die ihm aus Mangel an Rücksicht bereitet werden. Sie zerren mehr an den Nerven als ein großes Unglück, sie sind ein Gift, das, täglich injiziert, imstande ist, die stärkste Vitalität zu zermürben. Und eine einzige Geste des Entgegenkommens könnte den ganzen schweren Weg durchhellen und zu einer Quelle der Kraft werden. Die müde Hausfrau, der man in der Straßenbahn Platz anbietet, wird davon Zeugnis ablegen. Man kann nicht täglich sein Leben fürs Vaterland opfern, aber man kann es täglich einem »Nächsten« erleichtern und schöner gestalten.

Gottlob darf man heute wieder das Wort schön mit dem Begriff Anstand verbinden, ohne verlacht zu werden. Der Kult, den die Kunst mit der Häßlichkeit trieb, ist endlich als das gebrandmarkt worden, was er ist, als pathologische Erscheinung einer dekadenten Zeit. Heute darf der Künstler sich wieder zur gehobenen Lebensgestaltung bekennen, er darf zurück zu Harmonie, Melodie, Ebenmaß, er darf Flügel haben und sich über den bloßen Naturalismus erheben.

Er kann wieder die Materie beherrschen, sie packen, kneten, sie in einen heroischen Traum zwingen, in eine große Idee, aber das alles mit einem Genie, das wieder Geschmack und Takt als geistige Disziplinen anerkennt. Diese Disziplinen sind die sichersten Zeichen jeder neu aufblühenden Kultur.[9]

Jeder Adel verpflichtet. Was für den Künstler gilt, das gilt auch für das tägliche Leben des einzelnen. Jeder von uns ist Künstler in dem Sinne, daß er mit jeder Geste, mit jedem Wort, mit jeder Tat an der Kultur baut. Jeder ist verantwortlich für das Wohlergehen seines Nächsten. Jeder kann ein kleines Licht an seinem Lebensbaum anzünden, und es genügt manchmal so wenig dazu. Ich sagte es schon: ein Wort, ein Zurücktreten, ein wenig Selbstvergessen zugunsten des andern, manchmal sogar nur ein verzeihendes Übersehen.[10]

Quelle:
Haluschka, Helene: Noch guter Ton? Graz 1938, S. 7-11.
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